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E-Book

Lob der Homosexualität

AutorLuis Alegre
VerlagVerlag C.H.Beck
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl220 Seiten
ISBN9783406736698
FormatPDF/ePUB
KopierschutzWasserzeichen/DRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Tintenfische oder Heuschrecken beschränken sich darauf, ein Exemplar ihrer Art zu sein. Wir Menschen dagegen verstehen uns als Individuen, nicht als bloße Gattungsexemplare. Stolz sprechen wir von der freien Entfaltung der Persönlichkeit. Tatsächlich aber leben wir weitgehend fremdbestimmt nach Konventionen, die wir nicht selbst beschlossen haben, allen voran die zur natürlichen Ordnung der Welt erklärte Heterosexualität.
Doch die Tage der Heterosexualität sind gezählt, behauptet der spanische Philosoph Luis Alegre. Und ist erst diese die Menschen in Stereotype von männlich und weiblich pressende Kraft verschwunden, kann auch das Konzept der Homosexualität verschwinden. Dann werden alle Menschen frei sein, sich losgelöst von vorgeprägten Geschlechteridentitäten zu begegnen und auszuprobieren. Bis dahin aber verkörpern lesbische, schwule, bisexuelle, transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere Menschen die Identität des Widerstands. Sie sind die revolutionäre Avantgarde, die das repressive Konstrukt angeblicher Natürlichkeit entlarvt und der Mehrheitsgesellschaft die Freiheit vorlebt, die sie sich versagt.

Luis Alegre ist Philosophieprofessor mit den Schwerpunkten Ästhetik und Erkenntnistheorie an der Universidad Complutense Madrid und einer der Mitbegründer der Partei Podemos.

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Leseprobe

I

Einleitung


Die goldenen Zeiten der Heterosexualität, die mehrere tausend Jahre gedauert haben, gehen ihrem Ende entgegen. Und die Personen, die bis jetzt in diesem Konzept gefangen waren, sind zu beglückwünschen. Auch wenn sie es vielleicht noch nicht wissen, werden sie bald merken, über wie vieles sie sich freuen dürfen: Es könnte dazu kommen, dass Männer einander nicht mehr mit der flachen Hand auf den Rücken schlagen müssen, um sich zu sagen, dass sie sich mögen, oder dass es nicht gleich den Untergang der eigenen Identität bedeutet, wenn sie sich zerbrechlich und verwundbar zeigen (was einfach zu unserem Menschsein gehört). Es könnte auch dazu kommen, dass die Frauen sich nicht mehr dazu angehalten fühlen, in dem ersten dahergelaufenen Dummkopf einen Märchenprinzen zu suchen. Die im Konzept der Heterosexualität Gefangenen (viele heterosexuelle Männer und Frauen) sind gerade dabei, sich nach und nach zu befreien. Indessen gibt es immer welche, die ihre freiwillige Hörigkeit zur Schau stellen und nicht akzeptieren wollen, dass das, was sie «die Welt» nannten, in Wirklichkeit nur eine Zelle, ja, nur eine «Wabe» war.

Heutzutage gibt es nur schlechte Nachrichten für die Wabe. Der Hetero-Fundamentalismus nimmt deutlich ab. Sicher, er verschanzt sich wie ein in die Enge getriebenes wildes Tier voller Jähzorn in den Gräben, die ihm bleiben, und lässt seine Wut besonders an Jugendlichen und Alten aus. Aber selbst unter den Verwundbarsten tauchen Fürsprecher der Freiheit auf, die auch diejenigen zum Umdenken zwingen, die öffentlich schimpfen oder attackieren, um zu verhindern, dass ihre eigene Reinheit in Frage gestellt wird; eine Reinheit, die ihnen nicht mehr so viel einbringt wie früher, nicht einmal bei der Jagd auf weibliche Beute. Immer mehr Frauen misstrauen (zu Recht) Männern, die «nie im Leben», «um nichts in der Welt» mit einem anderen Mann Sex haben würden. Unter anderem deshalb, weil sie wissen, dass das gelogen ist: So masturbieren junge Männer nicht selten mit ihren Freunden. Und das ist Sex, wie man es auch dreht und wendet. Allerdings werden die kollektiven Masturbationen der Jugend mit der Zeit von eher symbolischen Masturbationen oder Fellationes abgelöst (zum Beispiel in Form von gegenseitigen Prahlereien, von denen die Frauen ausgeschlossen sind). Da, wo wir heute stehen, müsste es eigentlich niemand mehr nötig haben, sich selbst zu betrügen. Und die heterosexuellen Frauen misstrauen zunehmend diesen Männern, die sich in einer festgelegten Wesensordnung verschanzen.

Die weibliche Heterosexualität hingegen ist immer anders gewesen. Erstens, weil sie viel weniger heterosexuell war. Dass die Sexualität zwischen Frauen etwas mehr Freiheit genoss, ist einer dieser (unerwartet häufigen) Fälle, in denen eine perverse Ursache positive Auswirkungen hat. Die Sexualität der Frauen ist mit brutalsten Mitteln geleugnet worden, und man hat alles getan, um sie unsichtbar zu machen (in der sehr männertypischen Zuversicht, dass unsichtbare Dinge nicht existieren). Aber dieses schändliche Ziel hat dazu geführt, dass auf ihre Gesten, Bewegungen und Blicke weniger Druck ausgeübt wurde. Nichts wurde als sexuell interpretiert, denn es galt die grundsätzliche Annahme, dass die Sexualität der Frauen nicht existierte. Wir meinen hier – selbstverständlich – die Gestik und die Bewegungen der Mütter, Schwestern, Freundinnen, Ehefrauen, nicht der Huren, die – natürlich – immer ein konstantes sexuelles Verlangen hatten; es war ja dieses Verlangen, das sie per definitionem zu Huren machte.

Doch gerade dieser Zusammenhang hat es den Frauen ermöglicht, ohne große Probleme einander zu berühren, zu streicheln, Hand in Hand zu gehen, sich mit Küssen und nicht durch Schläge mit der flachen Hand auf den Rücken zu begrüßen, zusammen zu reisen, zusammen zu schlafen und sogar zusammen zu leben, ohne dass jemand etwas anderes als eine schöne Freundschaft darin sah; vollkommen unsichtbar, aber in gewisser Weise frei innerhalb dieser blickdichten Räume. Der extremste Fall ereignete sich, als Königin Victoria sich weigerte, den Lesbianismus für strafbar zu erklären, weil sie der Meinung war, dass dergleichen gar nicht existieren könne: Es war undenkbar, dass eine lady fähig sei, so etwas zu tun. Auf diese seltsame Weise blieb der Lesbianismus gesetzlich erlaubt (oder zumindest ungestraft), denn es gab gewiss keinen lord, der so mutig (oder so unvernünftig) gewesen wäre, der Königin zu sagen, dass sie sich geirrt habe, lüge oder verrückt sei.

Auf diese Weise haben die Frauen eine andere Beziehung zur Homosexualität entwickelt. Tatsächlich sind sie zu entschlossenen Verbündeten beim Angriff auf die Zitadelle geworden, in der die fixierten Wesenhaftigkeiten unserer Vorfahren bewahrt werden. Dieses natürliche Bündnis zwischen allen Homosexuellen und den Frauen, dem sich unzählige Bisexuelle und Heteroflexible (das Trojanische Pferd der Freiheit) anschließen, stürmt gerade erfolgreich die Festung der alten, fixierten Wesenhaftigkeiten.[1]

Vor nicht allzu langer Zeit schien diese Zitadelle noch uneinnehmbar zu sein. Der Kampf begann mit einer Handvoll Helden und Heldinnen, die ohne Umschweife zum Angriff bliesen. Diese heroische Tat bezahlten sie mit Gefängnis, Schlägen, Hohn, Ausgrenzung und dem Stigma, Vagabunden und Gauner zu sein. Es ist ein hohes Verdienst, mutig zu sein, selbst dann, wenn man mit Ruhm und öffentlicher Anerkennung belohnt wird. Aber dieser Mut, den die Generation vor uns zeigte, grenzt an ein Wunder, denn im Allgemeinen wurde er ihr mit Erniedrigung und Hohn heimgezahlt. Und doch gab es sie, diese Handvoll Kämpfer, die bereit waren, für ihre Freiheit und die aller ihr Leben zu geben (aber nicht, jemandes Leben zu nehmen). Es ist unbegreiflich, dass unsere Plätze nicht voller Denkmäler dieser Helden sind, deren Mut wir unsere Freiheit verdanken. Der Raum, der ihnen gebührt, ist noch von Reiterstatuen mit Generälen und Herrschern besetzt, die bereit waren, für Ehre und Ruhm (mit Eroberungen, Plünderungen und allen möglichen Gewalttaten) anderen das Leben zu nehmen (aber nicht, ihres zu geben). Doch dieses sich täglich auf öffentlichen Plätzen brüstende Unrecht wird schon bald wiedergutgemacht werden.

Die Helden und Heldinnen, die im Alleingang den Angriff auf die Zitadelle unternahmen, boten der Welt (buchstäblich) die Stirn und stellten sie am Ende auf den Kopf. In einem ersten Moment eroberten sie nach und nach das Recht, nicht eingesperrt oder verfolgt zu werden. Aber das genügte nicht. Ein sehr schwieriger Schritt stand noch aus: Die Bürger in ihrer Gesamtheit (unabhängig von ihrer Sexualität) sollten sich darauf besinnen, dass das Recht der Freiheit allen (nicht nur den Sonderbaren) zusteht. Mit diesem Recht kann danach jeder tun, was er für angebracht hält, auch sich streng an die konventionellsten Regeln halten oder sogar ganz auf Sex verzichten, wenn er möchte.[2] Aber das Recht nicht allen zuzugestehen, ist auch ein Angriff auf die von der Mehrheit unterstützten Optionen, die so der Würde einer echten Option beraubt und zu erniedrigenden Zwangsmaßnahmen gemacht werden. Wie jedes andere Recht existiert sexuelle Freiheit nur dann, wenn sie für alle gewährleistet ist. Deshalb galten die Forderungen von Lesben, Schwulen, Transsexuellen, Bisexuellen, Intersexuellen und Queers allgemein nicht einem Teil der Bürgerschaft, sondern dieser in ihrer Gesamtheit. Die Gay-Pride-Demonstrationen versammelten all die Leute, die sich für Freiheit und Menschenrechte engagierten. Jedes Jahr mehr Menschen.

Aber damit nicht genug. Viele Teilnehmer blickten mit einer Mischung aus Neugier, Neid und Fremdstolz auf eine Welt, in der sie mehr Freiheit (und mehr Vergnügen) vermuteten als in der eigenen. Diese Vermutung entwickelte sich zu einer so mächtigen Versuchung, dass etwa in Madrid die Gay-Pride-Feste zu den wahren Volksfesten der Stadt avancierten. Jedes Jahr an einem bestimmten Tag versammeln sich die Madrilenen um eine urbane Göttin, der mehr Jubel zuteilwird als den Heiligen Isidor, Lorenz und Kajetan sowie der Jungfrau Paloma zusammen.

Aber die größte Überraschung sollte noch kommen: Gemeinsam tanzen kann zur besten Gelegenheit werden, der Kreativität freien Lauf zu lassen. In einigen Fällen kann es die Welt der fixierten Wesenhaftigkeiten und die angeblich natürliche Ordnung der Dinge explodieren lassen, um eine weiträumigere Welt entstehen zu lassen.

Auf diese Weise vollzog sich die allmähliche Auflösung der Grenzen eines Konzepts: der «Heterosexualität», die jeden unterdrückt, den sie integriert, und jeden diskriminiert, den sie ausschließt.

Wenn dieser Krieg eines Tages gewonnen ist,...

Blick ins Buch
Inhaltsverzeichnis
Cover1
Titel2
Zum Buch220
Über den Autor220
Impressum3
Inhalt4
Anmerkung zur inklusiven Sprache8
Warum dieses Buch?10
1 Einleitung14
2 Das Natürliche und das Konstruierte (Natur und Performativität)20
3 Die kreative Freiheit72
4 Verkünder einer besseren Welt152
5 G, L, B, H, T, I, Q … und das Ende der Heterosexualität180
Anmerkungen216

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