Noblesse oblige
Am 11. Dezember 1941 nachmittags um drei Uhr trat Adolf Hitler ans Rednerpult des deutschen Reichstags und verkündete, Deutschland sehe sich «endlich gezwungen», den Vereinigten Staaten von Amerika den Krieg zu erklären. Der Beifall nach der langen und weitschweifigen Rede war «pflichtgemäß, aber dünn»; kaum einer unter den Abgeordneten dürfte vergessen haben, dass der Kriegseintritt Amerikas nicht einmal ein Vierteljahrhundert zuvor zur Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg geführt hatte. Hitler selbst hatte aber am 8. Dezember die Nachricht vom Angriff der Japaner auf Pearl Harbor, der den unwilligen Riesen USA in den Krieg zog, mit dem Ausruf «Endlich!» begrüßt. Für ihn, so musste es seinen Zuhörern zuweilen vorkommen, reduzierte sich der Weltkrieg nunmehr auf das Kräftemessen mit einem Menschen, den er schon 1938 als seinen «ärgsten Feind» bezeichnet hatte: Franklin Delano Roosevelt. In ihm sah Hitler den «Repräsentanten jener anderen Welt», die er vernichten wollte.
«Ich verstehe nur zu wohl, daß zwischen der Lebensauffassung und Einstellung des Präsidenten Roosevelt und meiner eigenen ein weltweiter Abstand ist», führte Hitler aus. «Roosevelt stammt aus einer steinreichen Familie, gehörte von vornherein zu jener Klasse von Menschen, denen Geburt und Herkunft in den Demokratien den Weg des Lebens ebnen und damit den Aufstieg sichern. Ich selbst war nur das Kind einer kleinen und armen Familie und mußte mir unter unsäglichen Mühen durch Arbeit und Fleiß meinen Weg erkämpfen.» Roosevelt habe den Ersten Weltkrieg «aus der Sphäre des Verdienenden miterlebt», Hitler «als gewöhnlicher Soldat»; Roosevelt habe in der Nachkriegszeit «seine Fähigkeiten in Finanzspekulationen erprobt», während Hitler im Lazarett gelegen habe; Roosevelt habe schließlich «die Laufbahn des normalen, geschäftlich erfahrenen, wirtschaftlich fundierten, herkunftsmäßig protegierten Politikers beschritten», während Hitler «als namenloser Unbekannter» für sein Volk gekämpft habe. «Zwei Lebenswege!» rief Hitler aus. «Als Franklin Roosevelt an die Spitze der Vereinigten Staaten trat, war er der Kandidat einer durch und durch kapitalistischen Partei […]. Und als ich Kanzler des Deutschen Reiches wurde, war ich der Führer einer Volksbewegung […].»
Franklin D. Roosevelt erblickte 1882 in Hyde Park am Hudson, Adolf Hitler sieben Jahre später in Braunau am Inn das Licht der Welt. Die Amtszeit Roosevelts – er wurde als einziger Präsident der USA viermal ins Weiße Haus gewählt – deckt sich genau mit den Jahren der Hitler-Diktatur, was vielleicht mit erklärt, weshalb dieser bedeutendste Präsident des «amerikanischen Jahrhunderts» noch heute so wenig im Bewusstsein der Deutschen präsent ist. Als Hitler am 30. Januar 1933 in Berlin Reichskanzler wurde, feierte Roosevelt als gewählter, aber noch nicht in sein Amt eingeführter Präsident in Hyde Park seinen 51. Geburtstag; und als Roosevelt am 4. März 1933 auf der alten holländischen Bibel seiner Vorfahren den Amtseid vor dem Kongressgebäude in Washington ablegte, machten nationalsozialistische Schlägertrupps in Vorbereitung auf die Reichstagswahl vom nächsten Tag Jagd auf Oppositionelle – eine Wahl übrigens, die, Hitlers «Volksbewegung», Terror und Propaganda zum Trotz, nur 44 Prozent der Stimmen brachte. Als Roosevelt am 12. April 1945 starb, saß Hitler im Bunker der Berliner Reichskanzlei, während amerikanische und britische Bomber die geplante Welthauptstadt «Germania» in Schutt und Asche legten. «Mein Führer, ich gratuliere Ihnen! Die Wende ist da! Die Zarin ist gestorben!» rief Propagandaminister Joseph Goebbels aus. (1762 hatte der Tod der Zarin Elisabeth zum Auseinanderbrechen einer gegen Preußen gerichteten Kriegskoalition geführt.) Aber Hitler überlebte seine Nemesis Roosevelt um ganze achtzehn Tage.
Das «Tausendjährige Reich» hinterließ nur Tote und Trümmer, Schrecken und Abscheu. Die Träume der wichtigsten Partner Roosevelts in der Anti-Hitler-Koalition – Josef Stalins düstere Vision einer bolschewistischen Weltrevolution, Winston Churchills verzweifelte Illusion einer Erneuerung des britischen Weltreichs – sind zerstoben. Roosevelts oft als utopisch und naiv belächelte Vorstellung einer liberalen Weltordnung aber, die von ihm zur Sicherung dieser Ordnung ins Leben gerufene Organisation der Vereinten Nationen und die von ihm als moralische Grundlage dieser Ordnung proklamierten vier Freiheiten – Freiheit der Rede, Freiheit des Glaubens, Freiheit von Not und Freiheit von Furcht – haben das Auseinanderbrechen der Kriegskoalition, den Kalten Krieg, die antikoloniale Revolution und den Zusammenbruch des Kommunismus überlebt. Der Gang der Geschichte hat seine Politik nicht revidiert, sondern bestätigt.
In jener Zukunft, die wir sichern wollen, sehen wir eine Welt, die sich auf vier wesentliche Freiheiten gründet. So hatte Roosevelt bereits am 6. Januar 1941, ein Jahr vor dem Kriegseintritt der USA, die weltumspannenden Ziele seiner Außenpolitik umrissen. Die erste heißt Freiheit der Rede und der Meinung – überall auf der Welt. Die zweite ist die Freiheit eines jeden Menschen, auf seine Weise Gott zu dienen – überall auf der Welt. Die dritte heißt Freiheit von Not – […] – überall auf der Welt. Die vierte heißt Freiheit von Furcht – und […] das bedeutet: Abrüstung, und zwar derart umfassend, daß keine Nation in der Lage sein wird, irgendeinen ihrer Nachbarn anzugreifen – überall auf der Welt.
Das ist nicht die Vision eines weit entfernten Millenniums. Es handelt sich um die konkrete Grundlage einer in unserer Zeit und von dieser Generation zu errichtenden Weltordnung. Eine solche Welt ist geradezu die Antithese jener sogenannten neuen Ordnung der Tyrannei, die einige Diktatoren mit Bomben herbeiführen wollen. Jener Ordnung setzen wir dieses große Konzept entgegen – eine moralische Weltordnung.
Wir sind es gewohnt, dem Pathos der Politiker zu misstrauen. Und doch war es Roosevelt mit diesem Ziel genauso ernst wie mit seinem einfach formulierten – und erreichten – innenpolitischen Ziel, mehr Sicherheit und mehr Glück für mehr Menschen in allen Lebenslagen und in allen Teilen des Landes zu erreichen; ihnen mehr von den guten Dingen des Lebens zu geben.
Roosevelt gehörte, wie Hitler richtig bemerkte, von Geburt an zur Klasse der Menschen, denen die Welt zu Füßen liegt. Von den guten Dingen des Lebens hatte er immer mehr, als er brauchte. Zum Teil war es gerade das Bewusstsein dieses privilegierten Daseins, das ihn zum Reformer machte: Dieser Unterschied [zwischen Arm und Reich] ist zu groß, er muß viel geringer werden, erklärte er seinem Biographen Emil Ludwig, den Hitler aus Deutschland vertrieben hatte. Das zu versuchen, sind die Reichgeborenen doppelt verpflichtet. […] Wer für sein Brot nicht zu sorgen hat, ist sicherer und freier. Wer von unten kommt, behält noch spät bittere Erfahrungen an seine Jugend, und so liebt er weniger die Menschen. Der Armgeborene hat Ressentiments, ich kann keine haben. Das ist mein persönliches Motiv.
Hinzu kam ein Familienmythos, den der neunzehnjährige Harvard-Student wie folgt formulierte: Ein Grund, vielleicht sogar der Hauptgrund, für die Kraft der Roosevelts ist [ihr] demokratischer Geist. Sie waren nie der Meinung, daß sie aufgrund ihrer guten gesellschaftlichen Stellung einfach die Hände in die Taschen stecken könnten. Als einzigen Bürgen für diese Familienlegende könnte man Roosevelts Urahn Isaac Roosevelt anführen, der sich – weniger aus antimonarchistischer Gesinnung denn aus Empörung über die hohen Steuern – auf die Seite George Washingtons und der Unabhängigkeit schlug. Isaac gehörte zu den Autoren der Verfassung des Staats New York, wobei er, wie ein Historiker feststellte, «sich Mühe gab, die Ausweitung der Demokratie zu beschränken und die Rechte der Begüterten zu schützen», zu denen er als Präsident der Bank of New York gehörte. Bei Franklins Vater James regte sich wohl kurz der demokratische Geist der Roosevelts, als er im Revolutionsjahr 1848 eine standesgemäße «Grand Tour» durch Europa unternahm. Er freundete sich mit einem herumirrenden Priester an – sprach nur Latein mit ihm – und wanderte mit ihm durch Italien. Als sie Neapel erreichten, wurde die Stadt gerade durch Garibaldis Truppen belagert. Sie schlossen sich beide dieser Armee an, trugen einige Monate lang ein rotes Hemd, und als sie der Sache überdrüssig wurden, weil nichts passierte, gingen sie zu Garibaldis Zelt und baten um Entlassung. Damit hatte es sich schon. Die Roosevelts waren traditionell aristokratisch-liberale «Whigs». Als die Frage der Sklaverei das Gewissen der Nation spaltete, gingen viele Whigs – darunter auch Theodore Roosevelt sen., Vater des späteren Präsidenten Theodore Roosevelt – zu Abraham Lincolns Republikanischer Partei über. James aber ging zu den Demokraten, die den Ausgleich mit dem Süden predigten. Am Krieg gegen die Sklavenhalterstaaten nahm er nicht teil.
Als Kind wurde Franklin Roosevelt verhätschelt; in seiner Jugend wirkte er fast gänzlich unpolitisch und verdiente sich auf Bällen und Soupers Spitznamen wie «der lustige Kavalier» und – wegen seines intellektuellen...