1 Migration und Bildungschancen
2015 hatten gut ein Drittel (35,9 %) aller Kinder unter fünf Jahren in Deutschland einen Migrationshintergrund (BAMF, 2015). In manchen Städten Deutschlands ist Wanderung in der Biografie von Kindern für weit mehr als die Hälfte der unter Sechsjährigen selbstverständlich (BAMF, 2015). Vor dem Hintergrund der aktuellen Zuwanderung von Menschen mit Fluchterfahrung wird in besonderer Weise deutlich, dass Bildungschancengerechtigkeit im Kontext von Migration auch zukünftig Thema bleiben wird. Alleine von Januar bis März 2017 stammten 41,7% der Asylanträge in Deutschland von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren. Davon waren 23,1 % der antragstellenden Kinder unter sechs Jahre und 11,8 % der Kinder zwischen sechs und 15 Jahre alt (BAMF, 2017, S. 7). Viele dieser jungen, Asyl beantragenden Menschen haben aufgrund der schwierigen Lage im Herkunftsland eine Bleibeperspektive und werden voraussichtlich dauerhaft in Deutschland leben. Pädagogisches Handeln muss sich entsprechend mit den Prozessen des kulturellen und sozialen Wandels auseinandersetzen und anderseits diskriminierungsfreie Bildungszugänge für alle Kinder gewährleisten. Die Themen Migration und Integration mit dem Schwerpunkt Bildungschancengerechtigkeit sind seit vielen Jahren Themen der Pädagogik (BMBF, 2015; Meier-Braun & Weber, 2013; Baur & Häußermann, 2009; Ditton, 2007; Schwippert, Bos & Lankes, 2003) und sie haben schon immer Einfluss auf die gesellschaftliche Situation in Deutschland (Heckmann, 2015; Gesemann & Roth, 2009). In der Vergangenheit wurde deshalb immer wieder versucht, Erklärungen für die Bildungschancenungleichheit, die Kinder mit Migrationshintergrund betrifft, auszumachen. Auch wenn es bislang nur wenige differenzierte Untersuchungen zum Kita-Bereich gibt, wird die hohe Bedeutung der vorschulischen Bildung für die weitere Bildungsbiographie, speziell bei Kindern mit Migrationshintergrund, kaum mehr bestritten (z. B.: Biedinger, 2009; Gomolla, 2009; LIS, 2017; Themenband Migration und Bildung, 2017).
Einflussfaktoren auf die Bildungschancen von Kindern
Zweifelsfrei scheinen das familiäre Umfeld, die Migrationswege, die Bildungsstrukturen der Einrichtungen, das soziale Kapital aller Beteiligten und die psychosozialen Ressourcen Einfluss auf die Bildungsprozesse von Kindern zu nehmen. Das familiäre Umfeld bestimmt den sozioökonomischen und kulturellen Kontext, in dem sich das Kind entwickeln kann (Boos-Nünning, 2010; Maaz et al., 2010; Bellin, 2009; Esser, 2006b, S. 318; Geißler, 2006; Baumert & Köller, 2005; Baumert & Maaz, 2012). Dazu zählen die Migrationsgründe, die Familienstruktur, der soziale und ökonomische Status der Eltern, Erziehungsziele und -stile und die Art der sprachlichen Sozialisation. In den Bildungseinrichtungen verbinden sich strukturelle Elemente mit den Prozessen und Beziehungsaspekten der Bildungseinrichtungen. Hier haben beispielsweise Angebote der kindheitspädagogischen Handlungsfelder, institutionelle Selektion, Vorurteile oder die Orientierungsqualität pädagogischer Fachkräfte Einfluss auf die Bildungslaufbahn von Kindern (Anders, 2012, 2011; Bassok, French, Fuller & Kagan, 2008). Außerdem ist das Eintrittsalter in eine Bildungseinrichtung und die Verbleibdauer bedeutsam für den Bildungsverlauf eines Kindes (Autorengruppe Bildungsberichterstattung 2016, S. 161; SVR, 2014; Biedinger, 2010; Lokhande, 2010: 153–154; Biedinger & Becker, 2006; Magnuson & Waldfogel, 2005; Spieß, Büchel & Wagner, 2003). Das familiäre und institutionelle Umfeld sowie die Gesellschaft stellen das soziale Kapital für einen günstigen Entwicklungsverlauf zur Verfügung. Die Beziehungsangebote, die alle Beteiligten bereithalten, sind ebenfalls dem sozialen Kapital zugeordnet. Unter einem positiven Einfluss der verschiedenen Faktoren können Kinder psychosoziale Ressourcen entwickeln, die sie wiederum für eine gesunde Entwicklung und positive Bildungsbiografie mobilisieren können. Diese Ressourcen speisen sich vor allem aus der Resilienz respektive den vorhandenen Lebenskompetenzen (Riegel, 2016; Wild et al., 2016; Keupp, 2012; Tepecik, 2011; Haug, 2007; Szydlik, 2007; Haug-Schnabel, 2004).
Im Folgenden werden wesentliche Einflussfaktoren auf die Bildungschancen von Kindern dargestellt. Dazu zählen das familiäre und soziale Umfeld, die individuelle Migrationssituation, ethnische und soziale Segregationserlebnisse, Fähigkeiten und Ressourcen, Sprache, Coping und institutionelle Erfahrungen.
Familiäres und soziales Umfeld
Das familiäre und institutionelle Umfeld bildet den alltäglichen Rahmen der Lebenswelt für Kinder. Im Kontext der lebensweltlichen Bedingungen eignen sich Kinder ihre Umwelt an und machen sich ein Bild von der Welt. Diese Bedingungen sind Ausgangspunkt kindlicher Entwicklung und die Basis, auf die sie sich in ihrem Entwicklungsprozess stützen können.
Soziale Lage
Auch wenn die Datenlage an belastbaren und differenzierten Untersuchungen für die frühe Bildung längst nicht ausreicht, ist unstrittig, dass der Bildungserfolg von Kindern in Deutschland in erheblichem Maße von der sozialen Lage ihrer Familien und dem Ausbildungsniveau der Eltern abhängt. Obwohl ein Migrationshintergrund nicht zwangsläufig mit geringen sozioökonomischen Ressourcen verbunden ist, gibt es zahlreiche Belege, dass das Armutsrisiko bei Familien mit Migrationshintergrund weitaus höher liegt als bei Familien ohne Migrationshintergrund (Giesecke et al., 2017; BMFSFJ, 2016; Bundeszentrale für politische Bildung, 2013; TNS Emnid, 2012, S. 5). Dabei spiegelt ein niedriger sozioökonomischer Status der Eltern keineswegs ihr Bildungsniveau wider. Wenn Ausbildungsabschlüsse im Einwanderungsland jedoch nicht anerkannt werden, erleben Einwanderer eine postmigratorische soziale Herabstufung. Diese kann sich wiederum in ökonomischer Hinsicht niederschlagen. Die Koppelung beider Faktoren kann zu einer Kumulation von Risikokonstellationen führen, da geringe Ressourcen durch Einkommensarmut die Teilhabe-, Bildungs- und Verwirklichungschancen in unserer Gesellschaft erheblich einschränken und damit zu Benachteiligungen führen (Auernheimer, 2008a; Mecheril, Valera, Dirim, Kalpaka & Melter, 2010; Prengel, 2006). Biedinger (2009) konnte in ihrer Studie zu Entwicklungsunterschieden von drei- bis vierjährigen türkischen und deutschen Kindern nachweisen, dass bereits im Vorschulalter Leistungsunterschiede selbst dann noch festzustellen sind, wenn das elterliche Einkommen berücksichtigt wird. Deutliche Hinweise darauf, dass schon vor der Grundschule die Basis für ethnische Ungleichheit im Bildungsverlauf gelegt wird, finden sich auch bei Becker & Biedinger (2016), Jennessen, Kastirke & Kotthaus (2013), Mengering (2005), Schöler und Kollegen (2004) oder Rohling (2002). Beim Erwerb schulischer Kompetenzen zeigen sich ebenfalls Differenzen und Benachteiligungen. Die PISA-Studie sowie die IGLU-Studie haben im Schulbereich unter anderem erhebliche Disparitäten bei Übergangsempfehlungen festgestellt (Lokhande, 2013; Lokhande & Nieselt, 2016; BMBF, 2010; Bos et al., 2008; OECD, 2007a, 2007b, 2011, 2016; PISA-Konsortium Deutschland, 2007, 2011). Klassenwiederholungen, überdurchschnittlich häufige Zuweisungen in Förder- oder Sonderklassen, Schulabbruch und Verlassen der Schule ohne Abschluss zählen beispielsweise zu den so genannten geringen Bildungserfolgen von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund (SVR, 2017; Ramsauer, 2011). Biedinger und Becker (2010) stellen außerdem fest, dass Kinder aus Migrantenfamilien in den Bereichen allgemeine Sprachfähigkeit, Kognition und Wahrnehmung im Vergleich zu deutschen Kindern häufiger Defizite aufweisen (S. 49).
Der Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Integration und Migration kommt deshalb in seiner Expertise zu dem Schluss, dass Kinder mit Migrationshintergrund doppelt benachteiligt sind (Lokhande & Nieselt, 2016, S. 2). Die Thematisierung von Bildungsförderung im kindheitspädagogischen Diskurs erfolgt dabei vornehmlich in Bezug auf fehlende Deutschkenntnisse der Kinder. Interventionen zielen entsprechend vorwiegend auf Sprachförderung der Mehrheitssprache ab. »Sprachprobleme« der Zielsprache werden dabei als individuelle Defizite der Kinder und deren Eltern gewertet (Otto & Schrödter, 2006, S. 5) und Mehrsprachigkeit, zumindest in Bezug auf sozial weniger anerkannte Sprachen, als Hindernis betrachtet. Durch diese diskursive Verengung auf Sprache werden die Fragen nach struktureller Benachteiligung und Diskriminierung oder einseitigen Normalitätserwartungen der Fachkräfte in öffentlichen Diskursen weitgehend ausgeblendet (Otto & Schrödter, 2013, S. 92). Hier soll keineswegs in Abrede gestellt werden, dass Sprache im Prozess der individuellen und gesellschaftlichen Integration eine besondere Rolle spielt und Sprachförderung mit dazu beitragen...