PROLOG
Entführt zu werden ist, wie ins Koma zu fallen: Das Leben drum herum geht weiter, nur ohne dich. Du bist plötzlich nicht mehr dabei, aber du bist trotzdem noch bei vollem Bewusstsein. Bloß kannst du nichts mehr tun, und keiner kann dir mehr helfen. Gefangen zu sein, das ist, wie in einen Strudel unter Wasser hinabgezogen zu werden, in die Tiefe des Ozeans. Alles ist in Schlieren. Ungreifbar, trüb und einsam. Keiner hört dich mehr, weil niemand mehr da ist, der dir zuhören kann. Du bist auf dich selbst zurückgeworfen, auf deine Erinnerung. Du lebst in einer anderen Realität als der Rest der Welt. Die Vergangenheit und alles, was bis dahin war, existiert von einem auf den anderen Moment nicht mehr. Sie ist ausgelöscht und unerreichbar. Wie ein Leben unter Tage. Du bist auf stumm geschaltet. Jedes Gespräch, jeder Traum, jede Erinnerung, jede Idee, alles ist nicht stofflich und fluid, ungreifbar und findet nur noch in deinem Kopf statt, weil der Bezug zu deinem echten Leben weg ist.
Doch du fällst nicht wirklich ins Koma, sondern du erwachst nach einer kurzen Zeit der Betäubung wieder. Und du erwachst in einer grausamen Realität: der Gefangenschaft mit ungewissem Ausgang. Nur im Traum kannst du noch frei sein. Du bist tagsüber eingemauert, aber nachts in deinen Träumen kannst du alles tun, bist zurück in deinem alten Leben, triffst deine Liebsten und deine Freunde. Und nach Monaten der Gefangenschaft kannst du nicht mehr zwischen Träumen und Realität unterscheiden.
Wenn du entführt wirst, dann sind alle Brücken gekappt, du stehst alleine im Dunkeln, es ist tiefe Nacht, und der schlimmste Albtraum deines Lebens wird mit einem Mal wahr. Von einem auf den anderen Moment ist er deine neue Wirklichkeit. Die Qualen, die Einsamkeit, die Demütigung, die Hoffnungslosigkeit, die Lebensfeindlichkeit im Krieg, das sind nur einige der Dinge, die mich zeitweise bis an den Rand der Verzweiflung gebracht haben. Es war die schwerste Prüfung meines Lebens, und ich bin froh, dass mein Sohn und ich diese Reise überlebt haben. Ich bin unendlich dankbar dafür, dass ich wieder zu Hause in Deutschland bei meiner Familie und meinen Freunden bin. Nach Syrien hat eine neue Zeitrechnung für mich begonnen.
Manche Momente im Leben sind teurer als andere, denn sie werden in einer anderen Währung bezahlt. Währung und Preis kennt nur, wer es bezahlen musste.
Und obwohl ich jetzt schon seit einer Weile zurückgekehrt bin, ist nichts wie vorher. Meine Zeitrechnung unterscheidet die vorsyrische, die syrische und die nachsyrische Zeit. Es sind die kleinen Dinge im Leben, auf die es für mich inzwischen ankommt. Ich konzentriere mich auf das Jetzt. Die Zeit, die ich durch meine Rückkehr gewonnen habe, nicht jene Zeit, die ich verloren habe.
Jede Geschichte hat ihren Anfang. Alles beginnt irgendwo, an einem spezifischen Punkt im Universum, zu einer spezifischen Zeit und an einem spezifischen Ort. Die Leben mancher Menschen kreuzen sich, manche Wege gehen wir ein Stück gemeinsam, einige Wege und Menschen haben Bedeutung, andere zerfallen im Kontinuum der Zeit, wie ein atomarer Stoff, der qua Naturgesetz kontinuierlich abgebaut wird. Aber manche Menschen prägen uns viel mehr, als wir das vielleicht jemals für möglich gehalten hätten, und beeinflussen dadurch unseren Weg.
Diese Geschichte beginnt mit meiner Freundschaft zu Laura, meiner alten Schulfreundin. Laura war eine von uns, bevor sie zum Islam konvertierte. Mit ihrer Konversion sollte sich vieles ändern. Unsere Freundschaft begann in der Grundschule und entwickelte sich zu einem Sandsturm, in dem ich unterging. Seit ihrer Ausreise aus Deutschland habe ich mich auf die Suche nach ihr begeben und versucht zu rekonstruieren, was geschehen war. Was hat Laura, meine Freundin seit der Grundschulzeit, zur radikalsten Lebensform des Islams gebracht? Welche Gründe haben zu ihrer Abkehr von unserer Gesellschaft geführt? Und warum hat sie für sich und ihre Kinder die Entscheidung getroffen, im Krieg zu leben? Warum kommt sie nicht nach Deutschland zurück? Letztere ist vielleicht eine der wichtigsten Fragen, die ich beantworten werde.
Als ich Laura das erste Mal seit ihrer Ausreise im Frühjahr 2009 wiedersah, war ich ihrer Gruppe vollkommen ausgeliefert. Ich war mir dessen nur noch nicht bewusst. Es war diese Freundschaft aus Bonner Zeiten, die mich fast mein Leben und das Leben meines Sohnes kostete. Mit meiner Reise nach Syrien wurde ich in die Falle gelockt. Meine Sicherheitsgarantie löste sich in Luft auf, und jene Gruppe, die eben noch für meine Sicherheit eingestanden hatte, entführte mich im nächsten Moment. Das Gefährlichste an Syrien ist die Unberechenbarkeit, doch dies und vieles andere habe ich zu spät begriffen. Ich bin erst viel später in diesem Krieg angekommen. Es hat Monate gedauert, bis ich akzeptiert habe, dass ich in Syrien bin und bis auf Weiteres nicht nach Deutschland zurückkehren werde. Ich dachte, ich könne eine kurze Reise nach Syrien machen, für eine kurze Weile in das Leben von Laura eintauchen und anschließend einfach zurückkommen, nach einigen Tagen Recherche.
Die Entführung hat mein Leben aus den Angeln gehoben, meine Welt auf den Kopf gestellt – sie war die größte Prüfung meines bisherigen Lebens: die tägliche Kriegshölle, der Zweifel, das Kopfkino, die Angst, die Verzweiflung, die Hoffnungslosigkeit und auch die Bitterkeit. Ich weiß nicht, ob man sich einsamer und verlorener fühlen kann, als ich das getan habe, wahrscheinlich kaum. Es war ein Kampf gegen die Zeit. Ein Kampf um jede Minute, die vergehen musste. Ich habe nicht nur die Tage gezählt, sondern die Stunden und irgendwann auch die Minuten. Und ich habe versucht, mich an jeden vergangenen Tag minutiös zu erinnern. Ich lebte in meinen Erinnerungen und für sie. In meinen Träumen war ich frei und konnte meine Liebsten treffen, wenn ich aufwachte, war da ein verschlossenes Zimmer – mit mir darin. Sonst nichts. Später, nachdem mein Sohn geboren worden war, war alles leichter und schwerer zugleich. Ich habe versucht, das Beste aus jedem Tag zu machen. Für meinen Sohn glücklich zu sein und mit ihm.
Ich habe mich in einem Moment in Syrien dazu entschieden, mich nicht unterkriegen zu lassen. Sondern mich meinem Schicksal zu ergeben. Ich habe versucht, das Beste aus meiner widrigen Situation zu machen, ich habe versucht, allen Zweifeln, die mich zerreißen wollten, zu widerstehen und an das Gute zu glauben, an das persönliche Happy End meines Lebens. Ich habe an jedem der 351 Tage, die ich gefangen gehalten wurde, an meine Rückkehr geglaubt. Obwohl es unwahrscheinlich schien, jemals nach Deutschland zurückzukehren. Syrien war so unmittelbar und real und Deutschland wie ein weit entferntes Land in einem Märchen. Es war die bitterste Zeit meines Lebens, aber ich habe niemals aufgegeben, ich habe mich gegen die Entführer gestellt, ich habe versucht, das schwarze Loch, das sich um mein Leben herum gebildet hatte und mich verschlingen wollte, zu besiegen. Man kann einen Menschen innerhalb von wenigen Stunden brechen, doch glücklicherweise hat niemand versucht, mich zu brechen.
Vor meiner Reise war ich blauäugig, ich dachte, dass meine Sicherheitsgarantie halten würde. Eine Sicherheitsgarantie in muslimischen Gesellschaften hat einen hohen Stellenwert, das gegebene Wort gilt wie ein Vertrag und untersteht einem Ehrenkodex. Ich glaubte, dass ich geschützt sei, dass ich unantastbar sei. Aber das war ich nicht. Ich war offensichtlich eine leichte Beute in einem großen Spiel. Ich habe die Situation falsch eingeschätzt. Und doch war ich in gewisser Hinsicht geschützt. Viele Dinge, die Frauen in den Gefängnissen jeden Tag erleben, sind mir erspart geblieben. Ich war eine Marionette der Entführer und irgendwann ein Schatten meiner selbst.
Meine Entscheidung, schwanger mit einer Sicherheitsgarantie in ein Land einzureisen, in dem Krieg herrscht, ist heute nicht mehr zu begreifen. Es war verantwortungslos, leichtsinnig und falsch. Ich bedauere diesen Schritt zutiefst, doch ich kann meinen Fehler weder ungeschehen machen noch verbergen oder vergessen. Er ist Teil meiner Lebensgeschichte. Ich habe mich jeden Tag damit gequält, warum ich nach Syrien gereist bin, und meine ausweglose Situation verflucht. Ich habe mich selbst verflucht, dass ich nicht wachsam und achtsam genug war, und in den Krieg gereist bin wegen einer Geschichte über eine alte Schulfreundin. Oft habe ich mich in Gefangenschaft gefragt: Warum bin ich hier? Und warum bin ich eigentlich hier? Warum habe ich mir und meinem Kind das angetan? Warum dieses Risiko? Wozu? Warum dieser unnötige Schmerz? Diese Frage drehte sich die ganze Zeit über in meinem Kopf wie ein Mühlrad. Was hat mich dazu gebracht, diese vollkommen falsche Entscheidung zu treffen? Ich hatte alles in Berlin. Ein Leben, Freunde, Arbeit. Und bin trotzdem das Risiko eingegangen, alles zu verlieren. Das ist für mich heute, nachdem ich zurückgekehrt bin, nicht mehr nachvollziehbar. Wollte ich mir selbst etwas beweisen? Woher kam der Druck?
Es war nicht alleine meine Naivität. Am Ende haben viele Faktoren zu dieser Entscheidung geführt. Es war ein Geflecht aus Personen, Orten, Umständen und Worten, die Menschen gesagt haben oder nicht gesagt haben. Viele Kontrollinstanzen haben versagt, auf Produktionsebene und auf menschlicher Ebene.
Ob ich konvertiert oder übergelaufen bin? Ich wäre sofort konvertiert, wenn es mir geholfen hätte. Aber ich habe in keinem einzigen Moment den Vorteil gesehen. Natürlich wurde ich oft danach gefragt, sowohl von Laura als auch von den Entführern. Deshalb habe ich darüber nachgedacht. Warum bin ich nicht konvertiert? War nicht genug Zeit dafür? Gab es nicht genug Möglichkeiten? War es nicht das, was viele erwartet haben? Die Sicherheitsbehörden, die Dschihadisten? Vielleicht...