Deutsche
Himmelsrichtungen
Kurz nach der Wende in Deutschland wagte Volker Rühe eine Prognose. Im Februar 1990 war es, als die DDR noch existierte und die erste und letzte freie Wahl zur Volkskammer noch bevorstand. Rühe, geboren in Hamburg und Protestant, sagte auf dem CDU-Landesparteitag in Hamburg, er erwarte tiefgreifende Veränderungen in seiner Partei, weil sie durch die Vereinigung Deutschlands »nördlicher, östlicher und protestantischer« werden würde. Lediglich Helmut Herles, damals FAZ-Korrespondent in Bonn und versehen mit einem wachen Auge auch für die kleinen historischen Ereignisse, hielt sie fest. Früher in der deutschen Geschichte war das kein geringfügiges Thema gewesen. Um Fragen der Konfession und des Gewichts von Regionen wurden Kriege geführt.
Ziemlich gewagt und mutig schien die Voraussage des CDU-Generalsekretärs, der von Kohl ausgewählt worden war, weil sich der Kanzler von Heiner Geißler, Landsmann Kohls aus Rheinland-Pfalz und katholischer Glaubensgenosse, aus Gründen des innerparteilichen Machterhalts trennen musste. Außer Ludwig Erhard waren alle CDU-Vorsitzenden und Bundeskanzler der CDU seit 1949 – Konrad Adenauer, Kurt Georg Kiesinger, Rainer Barzel und Helmut Kohl – katholisch getauft. Wesentliche CDU-Politiker der Kohl-Jahre waren es ebenfalls: Norbert Blüm, Alfred Dregger, Heiner Geißler, Rita Süssmuth und Bernhard Vogel. Die vergleichsweise wenigen Ausnahmen: Wolfgang Schäuble, Gerhard Stoltenberg und Richard von Weizsäcker. Auch überwog die Zahl der aus West- und Südwestdeutschland stammenden Politiker in der CDU und auch in den anderen Parteien. Einflussreich und im Bundeskabinett sowie den Fraktionsführungen im Bundestag besonders stark vertreten waren die Landesverbände aus Baden-Württemberg, Hessen und Rheinland-Pfalz.
Eine besondere Bewandtnis hatte es mit Nordrhein-Westfalen, dem mit Abstand einwohnerreichsten Bundesland, aus dem mithin ein großer Block von Abgeordneten im Bundestag vertreten war. Dass die Parlamentarier von Rhein und Ruhr vergleichsweise selten an den Schalthebeln der Macht saßen, wurde mit einem regionalen Umstand erklärt. In den Sitzungswochen des Bundestages in Bonn fuhren sie abends nach Hause, sei es zur Familie, sei es zu ihren Parteifreunden daheim. Ihre Partei- und Fraktionskollegen aus dem Süden machten derweil Posten und Pöstchen unter sich aus. Traditionelle politisch-parteiliche Besonderheiten des Bundeslandes Nordrhein-Westfalen kamen hinzu. Die CDU dort war gespalten in zwei Stämme – Rheinländer und Westfalen, die immer aufs Neue personalpolitische Auseinandersetzungen austrugen. Die SPD im größten Bundesland war (und ist) in vier Bezirksverbände gegliedert, zwei rheinische und zwei westfälische, die es so hielten wie ihre Pendants in der CDU. Das politische Zentrum der FDP wiederum saß in Nordrhein-Westfalen. Hans-Dietrich Genscher, Otto Graf Lambsdorff und Gerhart Baum wurden alle über die nordrhein-westfälische Landesliste in den Bundestag gewählt. Warum? Die Herren brauchten keine weite Anreise von zu Hause zur Arbeitsstelle. Und: Das größte Bundesland konnte die meisten »sicheren« Bundestagsmandate garantieren.
Es war im Februar 2012, also gut zwanzig Jahre nach Rühes Prophezeiung, als ein Kuriosum eintrat. Es waren die Tage, als Christian Wulff vom Amt des Bundespräsidenten zurückzutreten hatte. Sämtliche Akteure, Betroffene und Beteiligte stammten aus Nord- und Ostdeutschland, zuvorderst Christian Wulff, der davor Ministerpräsident in Niedersachsen gewesen war. Deshalb saß auch die Staatsanwaltschaft, die die Ermittlungen gegen ihn eingeleitet hatte, in Hannover. Aus Niedersachsen stammte sodann Philipp Rösler, FDP-Vorsitzender und auch Vizekanzler, dessen Partei sich auf die Seite der SPD und der Grünen schlug, als diese den protestantischen Pfarrer Joachim Gauck aus Mecklenburg-Vorpommern für die Nachfolge Wulffs ins Gespräch brachten. Zudem war zu registrieren, dass mit Wolfgang Huber und Margot Käßmann auch zwei ehemalige evangelische Bischöfe als künftige Bundespräsidenten infrage kamen. Gauck war der Kandidat des SPD-Vorsitzenden Sigmar Gabriel und des Grünen-Fraktionsvorsitzenden Jürgen Trittin, beide aus Niedersachsen. Verliererin jenes Sonntags: Angela Merkel, Ostdeutsche, gebürtige Hamburgerin, Pastorentochter, die ihren Wahlkreis in Mecklenburg-Vorpommern hat. Dass Wulffs Rücktritt und die Nachfolgeregelung auch noch genau zu der Zeit stattfanden, in welcher am Rhein der Karneval seinem Höhepunkt zustrebte, war eine kennzeichnende Nebensächlichkeit. Niemals hätte eine Staatsanwaltschaft aus den Hochburgen des katholisch geprägten Frohsinns, aus Köln oder Düsseldorf, am Donnerstag der sogenannten Fünften Jahreszeit, Weiberfastnacht genannt, das Ermittlungsverfahren eingeleitet, das den Rücktritt des Bundespräsidenten und die Nominierung seines Nachfolgers am Karnevalssonntag nach sich zog. In Hannover aber konnte es geschehen. Bis 2017 jedenfalls standen zwei ostdeutsche Protestanten an der Spitze des Staates: Bundespräsident Joachim Gauck und Bundeskanzlerin Angela Merkel.
Zeitweise konnten in jenen Jahren Fernsehdiskussionen mit Prominenten aus sämtlichen Parteien allein mit Politikerinnen und Politikern aus Niedersachsen besetzt werden, etwa so: Ursula von der Leyen, stellvertretende CDU-Vorsitzende; für die SPD der Parteivorsitzende Sigmar Gabriel oder der Fraktionschef Thomas Oppermann; für die Grünen Jürgen Trittin; für die FDP Philipp Rösler oder sein Generalsekretär Patrick Döring. Viele von ihnen kannten sich schon aus den Zeiten, in denen sie dem niedersächsischen Landtag angehört hatten. Weitere SPD-Spitzenpolitiker aus Niedersachsen waren der 2012 verstorbene Fraktionsvorsitzende Peter Struck und Arbeitsminister Hubertus Heil, außerdem zwei im Binnenbetrieb der SPD einflussreiche Politiker: der ehemalige Parlamentarische Geschäftsführer der Bundestagsfraktion, Wilhelm Schmidt, und die SPD-Schatzmeisterin Inge Wettig-Danielmeier.
Nicht alle diese Entwicklungen lassen sich mit den Folgen der deutschen Einheit erklären und als Verwirklichung der Prognose von Volker Rühe anführen. Niedersachsen war seit jeher eine starke Bastion der deutschen Sozialdemokratie. Nach dem Zweiten Weltkrieg führte Kurt Schumacher von Hannover aus die SPD. Ihr Vordenker Peter von Oertzen prägte eine ganze Generation jüngerer Sozialdemokraten, darunter auch Gerhard Schröder, in dessen Windschatten weitere Sozialdemokraten aus dem Bundesland nach oben kamen. Zeitweilig kam fast die gesamte SPD-Spitze aus dem Norden und Osten Deutschlands: Gabriel aus Goslar als Vorsitzender, seine Stellvertreter Olaf Scholz und Aydan Özoğuz aus Hamburg sowie Manuela Schwesig aus Mecklenburg-Vorpommern. Der gebürtige Westfale Frank-Walter Steinmeier hatte seinen Wahlkreis in Brandenburg.
Das west- und süddeutsche Element des rheinischen Katholizismus in der Politik erlosch, wovon die CDU am meisten betroffen war, zumal nach dem Ende der Ära Kohl mit dessen Wahlniederlage 1998. Nach dem Interregnum Schäubles an der Parteispitze wurde mit Angela Merkel eine in Ostdeutschland aufgewachsene Protestantin CDU-Vorsitzende. Die CDU-Spendenaffäre galt als Ausdruck der Krise der westdeutsch-katholisch geprägten Partei.
Mit ihrem Artikel in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung kurz vor Weihnachten 1999 löste sich Merkel nicht nur von ihrem Förderer Kohl. »Die von Kohl eingeräumten Vorgänge haben der Partei Schaden zugefügt.« Mit protestantischem Ethos beschwor sie die CDU: »Nur auf einem wahren Fundament kann die Zukunft aufgebaut werden.« Dass ein solcher Weg nicht »ohne Wunde, ohne Verletzungen« zu gehen sei, räumte Merkel, damals noch CDU-Generalsekretärin, ein. Schäuble, der aus Baden-Württemberg stammende CDU-Vorsitzende, wurde von ihrem Artikel kalt erwischt. Wenige Wochen später fiel auch er der Spendenaffäre seiner Partei zum Opfer – aus eigener Schuld. Die Anhänger des Altkanzlers in der Partei aber gerieten in Bedrängnis, sie sahen aus wie die Leute von gestern. Zudem erschienen sie schuldbeladen, weil Kohl sich standhaft weigerte, die Namen der Spender preiszugeben, die ihm und der CDU entgegen den gesetzlichen Regelungen hatten Gutes tun wollen. Merkel erinnerte in ihrem Text zudem an die Flick-Spenden-Affäre, die Ende der Siebziger- und Anfang der Achtzigerjahre das politische Bonn in seinen Grundfesten erschüttert hatte. Nichts daraus gelernt zu haben, lastete Merkel, die Ostdeutsche, Kohl und seinen westdeutschen Anhängern an. Einer der verbliebenen Kohl-Anhänger in der CDU, Jürgen Rüttgers, verlor darüber die Landtagswahl in Nordrhein-Westfalen. Der hessische CDU-Landesverband, einst eine Stütze von Kohls Machtapparat, hatte seine eigene Spendenaffäre. Das südwestdeutsche CDU-Milieu war geschwächt.
In Berlin löste sich die politische Klasse von hergebrachten westdeutschen Mustern. Von der Hauptstadt aus betrachtet, war das übrige Land provinziell. Politiker, die einen heimischen Dialekt sprachen, gerieten am Regierungssitz in Verruf. Kurt Beck etwa, der zwar in Rheinland-Pfalz ein erfolgreicher Ministerpräsident war und mehrfach Landtagswahlen gewonnen hatte, scheiterte in seiner Funktion als SPD-Vorsitzender....