Prolog
Warum wir über die »unheilige Familie« diskutieren müssen
Die Familie ist das Haus des Islam. Frauen sind in diesem Haus Gefangene.
Necla Kelek
»Die Frauen sind bei euch wie Kriegsgefangene [arabisch: Plural für al-’awani], die über nichts aus eigener Macht verfügen. Ihr aber habt sie von Allah zu treuen Händen erhalten, dank seinem Wort verfügt ihr über ihre Scheide. Darum seid gottesfürchtig im Umgang mit den Frauen und nehmt euch ihrer im Guten an!«[1]
Mohammed in seiner letzten Predigt
Die Familie steht für Menschen in aller Welt an erster Stelle. In allen Religionen und Kulturen ist sie »heilig«. Allein drei der zehn christlichen Gebote regeln das Verhältnis von Mann, Frau und Kindern. In Artikel 16.3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt es: »Die Familie ist die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft und hat Anspruch auf Schutz durch Gesellschaft und Staat.« Unsere Verfassung schützt Ehe und Familie in Artikel 6 des Grundgesetzes in besonderem Maße, und das Bundesverfassungsgericht hat durch eine Reihe von Urteilen diesen Schutz ausformuliert und eine Art »Common Sense« zur Institution Familie formuliert. Der Verfassungsrechtler Paul Kirchhof fasst diesen Status so zusammen: »Eltern und Kinder bilden einen Familienverbund (›Kernfamilie‹), in dem die Kinder aufwachsen und erzogen werden (›Lebens- und Erziehungsgemeinschaft‹), sie am Erwerb der Eltern durch deren Unterhalt teilhaben (›Erwerbsgemeinschaft‹), sie die elterlichen Lebensformen aufnehmen und kritisch beobachten (›Hausgemeinschaft‹), sie später, wenn die Kinder ›aus dem Haus‹ sind, in einer Begegnungs- und Bestandsgemeinschaft zusammengehören.«[2]
Der Staat vertraut das Wohl der Kinder der Familie an, er übergibt den Eltern das Recht auf die Erziehung der Nachkommen. Es ist eine Art Vertrauensvorschuss, gegeben in der Erwartung, dass den Kindern einer Familie Fürsorge, Ehrlichkeit, Freundlichkeit, Freude, Halt und Hilfe entgegengebracht werden.
Der Staat greift nur dann ein, wenn die Familie dies nicht erfüllen kann oder will, die erwartete Rolle also nicht übernimmt. Er schützt die Familie, damit sie unter anderem ihre Aufgaben als Lernstätte für die Kinder und als Ort der freien Persönlichkeitsentfaltung seiner Mitglieder erfüllen kann. Andererseits schützt die Verfassung die Familie auch vor dem Staat, indem sie den Erziehungsauftrag bei den Eltern belässt und nur durch die Schulpflicht einschränkt. Damit soll einer staatlichen Bevormundung – wie sie im NS-Staat oder in der DDR üblich war – ein Riegel vorgeschoben werden.
Dieses Buch wird aufzeigen, dass diese Auffassung von Familie nicht von allen Gruppen unserer Bevölkerung geteilt wird und dass insbesondere die orientalische (also die islamisch strukturierte) Familie dazu neigt, Frauen und Kindern Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten vorzuenthalten. Die Mehrheit der Frauen, die in Deutschland Zuflucht in Frauenhäusern sucht, kommt aus dem muslimischen Kulturkreis. Dennoch haben bisher keine Politikerin, kein Verband, keine Stiftung, keine Institution die besonderen Strukturen in diesen Familien als eigenständiges Problem gesehen und sich seiner angenommen. So konstatierte der Bericht der Familienministerin über »Gewalt gegen Frauen«[3] zwar, Gewalt werde »quer durch die Gesellschaftsschichten« ausgeübt, der kulturelle Hintergrund der Täter spiele jedoch keine Rolle. Das ist aus meiner Sicht eine fatale Ausblendung von Fakten, die auch dem Diskriminierungstabu, der Angst vor der Rassismuskeule geschuldet ist. Ein weiterer Grund liegt in der Tatsache, dass Berichte aus dem Inneren muslimischer Gemeinschaften fehlen; diese Leerstelle behindert den grundlegenden analytischen Impuls, sich mit diesem Thema auseinanderzusetzen.
Dabei wäre eine Beschäftigung mit diesen Familienstrukturen dringend angeraten. Ich sage: Die orientalische[1] (von archaischen islamischen Vorstellungen geprägte) Familie kann von ihrer Konstruktion her mit einem Gefängnis verglichen werden. Es ist an der Zeit, diese Strukturen aufzuzeigen, sie offenzulegen, die gefangenen Frauen und Kinder endlich zu befreien!
Betroffen von diesem unterdrückenden System sind nicht die Migrant(inn)en, die sich im Prinzip »assimiliert« haben, die die deutsche Sprache angenommen, sich westlichen Werten zugewandt haben und die die Grundregeln unseres Zusammenlebens anerkennen und befolgen. Betroffen sind auch nicht diejenigen, die bereits in den Herkunftsländern Demokraten waren, die die Gleichberechtigung von Mann und Frau anerkennen und für die es selbstverständlich ist, in einem freien und demokratischen Land wie dem unseren zu leben.
Sehr wohl betroffen ist aber etwa die Hälfte der über vier Millionen seit 1960 zugewanderten »Gastarbeiter« und Migrant(inn)en aus der Türkei, den arabischen Staaten und dem Maghreb. Es geht um die Familien, die sich mehr schlecht als recht integriert haben und von denen sich ein nicht unerheblicher Teil sogar in einer Art Gegengesellschaft eingerichtet hat. Um Menschen, die ihre Identität vorwiegend aus der Herkunftskultur oder Religion beziehen. Um Menschen also, die Errungenschaften und Sicherheiten des sozialen Rechtsstaats gerne »annehmen« und dennoch unter sich bleiben und nach ihren Traditionen leben.
Mit Traditionen meine ich keineswegs Folklore, sondern mitgebrachte Vorstellungen, die mit unserem demokratischen Rechtsstaat nicht vereinbar sind, ja, die an die Grenze von Menschenrechtsverletzungen gehen. Integrationskurse, selbst Sprachunterricht waren für die »Gastarbeiter« jahrzehntelang kein Thema. Gingen doch Politik, Wirtschaft und die Migranten selbst davon aus, dass ihr Aufenthalt in Deutschland zeitlich begrenzt sein würde. Auch als klar war, dass die Arbeiterinnen und Arbeiter hierbleiben würden und man ihnen gestattete, ihre Familien nachzuholen, überließen die politisch Verantwortlichen die Migranten lange Zeit sich selbst.
Neben dieser Gruppe gibt es die heterogene Gruppe der Geflüchteten und Zuwanderer, die seit 2015 aus dem Nahen Osten und dem Maghreb zu uns gekommen sind. Menschen mit teils ungeklärtem Aufenthaltsstatus, die in die Gesellschaft drängen, ohne viel von ihr zu wissen oder manchmal auch wissen zu wollen. Die meisten von ihnen wurden in Gesellschaften sozialisiert, in denen Unterordnung, Gewalt und schwarze Pädagogik dominieren, ihnen weder Freiheit noch Verantwortung gewährt wurden. Viele sind auch nicht nach Europa gekommen, um ein anderes, ein von westlichen Maßstäben geprägtes Leben zu führen. Wer vor Bomben und Bürgerkrieg geflohen ist, sucht in erster Linie Sicherheit und Schutz. Wer wegen schlechter Lebensbedingungen geflohen ist, sucht ein besseres Leben. Eine Akzeptanz hier geltender Regeln und Werte setzt weder das eine noch das andere zwingend voraus.
Wie die Sozialisation dieser Menschen vonstattengegangen ist, dokumentiere ich durch mehrere Lebensgeschichten von Geflüchteten aus Syrien und dem Irak, mit denen ich lange Interviews geführt habe.
Um die kulturelle Dimension und die Historie der Männerherrschaft im Orient nachvollziehbar zu machen, beschreibe ich in einem religionssoziologischen Diskurs das Wesen und die konkreten Formen der Rolle der Frau im Islam als »Herrenreligion« (Max Weber). Dieser theoretische Teil ist notwendig, um die Strukturen von Familie und Gesellschaft als Gewaltsystem analysieren zu können und auch darzustellen, warum hierzulande die Politik ebenso wie die Migrationswissenschaft von einem in gewisser Weise romantischen Menschen- und Gesellschaftsbild ausgehen. An einigen Beispielen zu Ansätzen der aktuellen Migrationsforschung werde ich die aus meiner Sicht grundsätzlichen Fehler der bisherigen Integrationsbemühungen aufzeigen. Denn ich behaupte, dass die Migrationsforschung von Werner Schiffauer über Judith Butler bis hin zu Naika Foroutan dem ideologischen Konstrukt des Multikulturalismus folgt, das ein Nebeneinander verschiedener Kulturen innerhalb eines Raumes vorsieht. Verschiedene ethnische und kulturelle Gruppen sollen einzeln existieren, ohne dem Druck zu einer Assimilation an die Werte der Mehrheitsgesellschaft ausgesetzt zu sein. Das ist aus meiner Sicht ein fataler Ansatz, der auch für das bisherige Scheitern von Integration verantwortlich ist, weil er Probleme relativiert und Werteorientierungen ablehnt.
Die Politik agiert hier unausgegoren, schwankt zwischen »Leitkultur«, Multikulti und der Forderung nach Assimilation. Dabei wäre Klarheit dringend angezeigt: Migrant(inn)en müssen erfahren, dass es in dieser Gesellschaft Werte und Normen gibt, die unser Zusammenleben bisher – bis zum Beweis des Gegenteils – erfolgreich gestaltet haben. Dass es Rechte gibt, die nicht verhandelbar sind, sondern zu achten, auch und gerade jene Rechte zum Schutz von Minderheiten. Und deshalb muss auch der Kampf gegen die »unheilige« Familie geführt werden. Gegen ihre dysfunktionalen Strukturen, die Abhängigkeitsverhältnisse von Frauen und Kindern immer weiter zementieren. »Vaters Staat« – also das in muslimischen Gesellschaften herrschende Patriarchat – muss gestürzt werden. Und sei es dadurch, dass wir die Frauen so stark machen, dass sie ohne Angst die Paschas mit dem Abwasch alleine lassen.
Mit anderen Worten: Es geht um das Empowerment von Frauen in allen rechtlichen und gesellschaftlichen Belangen. Es geht um Frauenrechte und die Stärkung von Selbstständigkeit. Und es geht um die seelische und körperliche Unversehrtheit von Kindern. An den Rechten der Schwachen...