2. Die Kraft der Sprache
Sie arbeiten mit Menschen, die aufgrund von Alter, Krankheit oder anderen Einschränkungen auf Pflege und Therapie angewiesen sind? Sie sind Pflegefachfrau, Ärztin, Physiotherapeutin, Logopädin, Ergotherapeutin, Hebamme? Was ist Ihre wertvollste Ressource, Ihr wichtigstes Werkzeug, das Ihre Arbeit überhaupt erst möglich macht?
Es ist Ihre Sprache. Ohne Kommunikation ist eine patientenorientierte Versorgung nicht möglich. Sie informieren, Sie diagnostizieren, Sie klären auf, Sie beraten, Sie trösten und Sie kooperieren mit Ihren Kolleginnen und mit den Kolleginnen der anderen Berufsgruppen. Nichts davon wäre ohne Ihre Sprache möglich. Mit Ihrer Kommunikation haben Sie die Möglichkeit aktiv auf die Zufriedenheit und den Genesungsprozess Ihrer Patienten einzuwirken. Ein Patient, der sich verstanden und gut aufgehoben fühlt, kann all seine inneren Kräfte auf seinen Heilungsprozess ausrichten. Worte können zur Heilung beitragen!
Waren Sie oder einer Ihrer Angehörigen schon einmal ernsthaft krank? Kennen Sie Schmerzen, die so stark sind, dass Sie keine klaren Gedanken mehr fassen konnten, oder hatten Sie schon einmal Angst vor einem diagnostischen Eingriff und noch mehr vor dessen Ergebnis? Wissen Sie, wie es ist, wenn man darauf angewiesen ist, Unterstützung zu bekommen, weil man sich allein nicht helfen kann? Wenn man sich hilflos und schwach fühlt und nur einen Wunsch hat, dass dieser Zustand so schnell wie möglich wieder vergeht? Was würden Sie in einer solchen Situation am meisten brauchen? Neben der medizinischen Versorgung sind es vor allem Ruhe, Verständnis, Zuwendung, Unterstützung, Fürsorge, Menschen, die sich um Sie kümmern. Was hilft Ihnen in einer solchen Situation, dass Sie sich angenommen und umsorgt fühlen? Es sind kleine Gesten und Handlungen und es sind die „richtigen“ Worte, die uns in einer solchen Situation Erleichterung geben und Mut machen. Es ist die wohltuende, fast heilsame Kraft der Sprache, die manchmal sogar wirksamer ist als jedes Medikament. Mit unserer Sprache signalisieren wir, dass wir den anderen verstehen und dass wir unsere Hilfe anbieten. Mit unserer Sprache drücken wir Empathie aus und können dem anderen versichern, dass wir gern für ihn da sind. Die Qualität von Pflege und Therapie wird in hohem Maße durch unsere Kommunikation beeinflusst. Die „richtigen“ Worte zu finden ist gerade in Ihrem Arbeitsumfeld von entscheidender Bedeutung. Vielleicht kennen Sie das berühmte Zitat von Mark Twain: „Der Unterschied zwischen dem richtigen Wort und dem beinahe richtigen ist derselbe Unterschied wie zwischen dem Blitz und einem Glühwürmchen.“
Im Arbeitsalltag klingen unsere Worte manchmal, als ob der Blitz einschlüge. Bei den folgenden Beispielen aus der Praxis handelt es sich nicht um „beinahe richtige“ Worte, sondern um verletzende, trennende Worte, um wirklich heftige Blitzeinschläge:
- Ein therapeutischer Mitarbeiter sagt zu einer Patientin mit Weglauf-Tendenz auf dem Flur im Beisein von anderen Mitarbeitern, Patienten und Besuchern: „Sie gehören in die geschlossene Psychiatrie.“
- Eine Stationsärztin äußerst sich gegenüber besorgten Angehörigen quasi im Vorbeigehen: „Wir wissen noch nicht, was mit Ihrer Mutter ist. Auf jeden Fall ist sie schwer krank: Lungenentzündung oder Tumor. Das müssen wir jetzt abklären und da müssen Sie sich jetzt schon ein bisschen gedulden.“
- Eine Pflegende, die gerade aus einem Patientenzimmer kommt, meint: „Der Opi ist aber heute wieder total durch den Wind.“
- Während der Wundvisite teilt der behandelnde Arzt einem Patienten, der eine Nekrose am Fuß hat, mit: „Das Ding (der Fuß) muss weg. Dann haben Sie auch wenigstens wieder Ihre Ruhe.“
- Während der Übergabe beschwert sich eine Kollegin: „Die Frau von Herrn Berger nervt vielleicht!“
Ich möchte diese Liste noch um ein Beispiel von Martha Maschke erweitern. Sie beschreibt in ihrem Buch Hommage an mein Bauchgefühl. Oder: Die Würde des Menschen ist doch antastbar ihre Leidensgeschichte und ihre damit verbundene Odyssee durch verschiedene Krankenhäuser. Folgende Situation trug sich mit einer Pflegenden im Nachtdienst zu: Frau Maschke hatte geklingelt, weil Sie erbrechen musste und eine Schüssel benötigte. Die Antwort der Pflegenden war: „Können Sie jetzt noch ’ne halbe Stunde warten, bis ich meinen Rundgang fertig habe? Wissen Sie eigentlich, wie sehr Sie mir auf den Keks gehen? Immer diese Extrawünsche.“ (Maschke, 2016, S. 134)
Auch das ist Sprachrealität in unserem Gesundheitswesen. Wie geht es Ihnen jetzt, nachdem Sie diese Aussagen gelesen haben? Sind Sie schockiert und im wahrsten Sinne des Wortes sprachlos? Worte bilden Wirklichkeit ab, und Worte schaffen Wirklichkeit. Das heißt, Worte haben die Kraft unsere Gedanken und Einstellungen zu spiegeln und damit sichtbar zu machen. Und letztlich beeinflusst Sprache auch unser Handeln.
Viele von Ihnen kennen wahrscheinlich den Auszug aus dem Talmud:
Gefühle werden zu Gedanken, Gedanken zu Worten, Worte zu Handlungen. Das bedeutet, mein Denken und damit auch meine Sprache bestimmen mein Handeln.
Die Kraft unserer Gedanken möchte ich gern anhand einer Übung verdeutlichen:
Sie benötigen einen Partner, dem Sie zunächst keine weiteren Informationen geben. Setzen Sie sich hinter Ihren Partner, und legen Sie Ihre Hand auf dessen Schulter. Denken Sie dabei ganz intensiv: „Der ist wirklich unmöglich und ich kann diesen Menschen überhaupt nicht leiden!“
Nehmen Sie nun für ein paar Sekunden Ihre Hand von der Schulter. Legen Sie Ihre Hand erneut auf, und denken Sie nun intensiv: „Das ist wirklich ein netter Mensch und ich mag ihn unglaublich gerne!“
Nachdem Sie Ihre Hand wieder entfernt haben, fragen Sie Ihren Partner, welche der beiden Berührungen angenehmer war.
Diese Übung habe ich mit vielen Trainingsgruppen durchgeführt und das Ergebnis ist immer wieder erstaunlich: Die deutliche Mehrheit der Teilnehmerinnen, die berührt wurden, empfindet die zweite Berührung als wesentlich angenehmer. Haben Sie bei Ihrem Versuch das gleiche Ergebnis erzielt? Welche Schlussfolgerung kann man nun aus diesem kleinen Experiment ziehen? Unsere Gedanken spiegeln sich in unserer Sprache und verändern die Art und Weise, wie wir einen anderen berühren. „Achte auf deine Worte, denn sie werden zu Handlungen.“
Wie sehr uns Sprache auch emotional berühren kann, möchte ich ergänzend anhand der sprachlichen Dominanzstrategien in Anlehnung an die Kommunikationssperren von Thomas Gordon (Gordon, 2005) deutlich machen. Sie finden diese in der folgenden Tabelle. Einige dieser Strategien haben das Potenzial, nicht nur Kommunikations-, sondern auch Kooperationssperren zu sein. Vermutlich haben Sie jede dieser Formulierungen in Ihrem beruflichen Alltag schon einmal zu hören bekommen, und wahrscheinlich befindet sich eine größere oder kleinere Auswahl davon auch in Ihrem eigenen sprachlichen Repertoire.
Lesen Sie die Dominanzstrategie und das dazugehörige Beispiel. Notieren Sie für sich in der letzten Spalte, welche Emotionen in Ihnen ausgelöst werden und wie Sie darauf reagieren würden, wenn Ihr Kollege, Ihr Vorgesetzter Sie in der beschriebenen Art ansprechen würde.
Dominanzstrategie | Beispiel | Ihre Emotionen/ Ihre Reaktionen |
Befehlen, anordnen | „In 10 Minuten ist das Medikament auf der Station! Ist das klar!“ | |
Drohen, warnen Wenn … dann | „Wenn du noch mal zu spät zum Dienst kommst, dann werde ich das der Pflegedienstleitung melden.“ | |
Moralisieren, predigen | „Als verantwortungsvolle Pflegekraft springt man ein, wenn man darum gebeten wird.“ | |
Beraten, Vorschläge machen, Lösungen liefern | „Am besten nehmen Sie erst Blut ab und dann machen Sie Visite!“ | |
Urteile fällen, Vorwürfe machen, beschuldigen | „Von Ihnen habe ich gar nichts anderes erwartet! Das konnte ja nur schiefgehen.“ | |
Loben, schmeicheln | „Ohne Sie läuft die Station einfach nicht!“ | |
Beschämen, beschimpfen, lächerlich machen | „Der Verband sieht wirklich kreativ aus! Aber Kreativität ist hier nicht gefragt! Das können Sie noch mal machen!“ | |
Zurückziehen, ausweichen | „Ich habe jetzt keine Zeit. Ich muss mich um Wichtigeres kümmern!“ | |
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