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E-Book

Erst die Fakten, dann die Moral

Warum Politik mit der Wirklichkeit beginnen muss

AutorBoris Palmer
VerlagSiedler
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl240 Seiten
ISBN9783641253448
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Deutschlands bekanntester Oberbürgermeister über Wunschdenken und Wirklichkeit in der Politik
In Brüssel oder Berlin fallen oft Entscheidungen, die mit der politischen Realität vor Ort wenig zu tun haben. Boris Palmer, seit zwölf Jahren Oberbürgermeister von Tübingen, zeigt anhand vieler konkreter Beispiele - von Umweltpolitik bis Wohnungsbau, von Verkehrsplanung bis Integration, von innerer Sicherheit bis zur Schaffung von Arbeitsplätzen - wieso in der Politik heute so oft das Wunschdenken regiert, nicht die Analyse der Fakten. Zugleich bietet er Vorschläge, wie die Wirklichkeit wieder zur Grundlage politischen Handelns werden kann. Die scharfsinnige und leidenschaftliche Bilanz eines Politikers, der vor Ort Entscheidungen treffen muss und die Sorgen der Bürger aus täglicher Erfahrung kennt.

Boris Palmer, geboren 1972, wuchs als Sohn des Obstbauern Helmut Palmer, der als 'Remstal-Rebell' bekannt wurde, in Geradstetten bei Stuttgart auf. Er studierte Geschichte und Mathematik in Tübingen und Sydney und arbeitete als wissenschaftlicher Mitarbeiter für die Bundestagsfraktion von Bündnis 90/Die Grünen. 2001 wurde er Landtagsabgeordneter in Baden-Württemberg, wo er sich als Umwelt- und Verkehrsexperte einen Namen machte. Mit 34 Jahren wurde er 2007 zum Oberbürgermeister von Tübingen gewählt - und 2014 mit 61,7 Prozent der Stimmen für weitere acht Jahre im Amt bestätigt. Boris Palmer hat zwei Kinder.

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ERSTES KAPITEL

Bezahlbar wohnen: Sachverständige auf Irrwegen

Am 31. Dezember 1967 wurde in Tübingen das »Preis- und Sühne­amt« aufgelöst. Dieses Amt hatte bis dahin die Aufgabe, die gültigen Richtsätze der Mieten zu überwachen. Nach diesen hatte man sich zu richten, sie waren faktisch eine Mietpreisobergrenze. Das Wohnen war keine beliebige Ware, die Mietpreisbindung sicherte bezahlbares Wohnen für alle Bevölkerungsschichten.

Eingeführt wurde eine staatliche Mietpreisgrenze in Deutschland erstmals in der Weimarer Republik mit dem Reichsmietengesetz 1922. Das war eine Folge des Krieges und der Wohnungsnot. Maßstab war die sogenannte Friedensmiete von 1914. Mieterhöhungen konnten nur mit Genehmigung durchgesetzt werden. Die Nationalsozialisten verschärften diese Regelung 1936 mit der »Preisstoppverordnung«. Die Mieten waren fortan eingefroren. In veränderter Form überstand die preisliche Regle­mentierung des Wohnungsmarktes das Dritte Reich, den Krieg und die Gründerjahre der Bundesrepublik – in Tübingen just bis ins Jahr der großen Umwälzungen von 1968.

Auch heute ist Wohnen wieder die »wichtigste soziale Frage unserer Zeit«. Bundespräsident Steinmeier sagte auf der Hauptversammlung des Deutschen Städtetags im Juni 2019: »Wir müssen verhindern, dass unsere Städte zum sozialen Kampfplatz um das Wohnen werden. Das bedeutet: Wir müssen das Wohnen für alle Bürger bezahlbar und unsere Städte für alle lebens­wert halten! (…) Ich finde, gerade der Polizist und die Busfahrerin, der Pfleger und die Erzieherin – alle, die die Stadt am Leben halten, müssen auch in der Stadt leben können! Da müssen wir wieder hinkommen!«

Die Rede kam zwar etliche Jahre zu spät, aber sie beschrieb das Problem sehr zutreffend. In den sieben größten deutschen Städten sind »Neuvertragsmieten« in den letzten zehn Jahren um die Hälfte teurer geworden, in ganz Deutschland immerhin noch um rund ein Drittel. Damit konnten die Einkommen bei weitem nicht mithalten. So müssen die Menschen einen immer größeren Anteil ihres Gehalts für die Miete aufwenden. Besonders hart trifft es die Städter. Wer seine Wohnung durch Kündigung verliert oder wegen Familiennachwuchs umziehen will, muss häufig die Stadt verlassen, weil er sich die Miete nicht mehr leisten kann.

Dieses Problem hat sich immer weiter verschärft. Nicht zu wissen, wo man wohnen kann, ist nicht nur eine große Belastung für die Betroffenen, es bedroht auch den sozialen Zusammenhalt und die Funktionsfähigkeit unserer Städte. Wenn es zum Beispiel mit dem Einkommen des öffentlichen Dienstes nicht mehr möglich ist, am Arbeitsort zu leben, bleiben die Stellen immer öfter unbesetzt. Ein Phänomen, das mittlerweile spürbar häufiger auftritt. Der Mangel an Wohnraum trifft nicht nur Mieter. Die Immobilienpreise sind sogar noch schneller angestiegen als die Mieten. Der Traum vom eigenen Haus oder auch nur einer eigenen Wohnung wird für immer mehr Menschen unerschwinglich. Insgesamt ein Riesenproblem, das die Politik dringend lösen muss.

Was dazu in Berlin erdacht und in Texte von Verordnungen und Gesetzen gegossen wird, leidet an der Ferne zur Praxis vor Ort, denn es verschafft Parteipolitik und Wissenschaftsdogma viel zu viel Spielraum zur Entfaltung. Gut ablesbar ist das an einem Gutachten, das der Wissenschaftliche Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie im Juli 2018 ver­öffentlicht hat:

»Die Mietpreisbremse sollte ersatzlos gestrichen werden, da sie weitgehend wirkungslos ist und dort, wo sie wirkt, den Abbau von Wohnungsknappheit behindert. Der soziale Wohnungsbau sollte nicht wiederbelebt, sondern im Gegenteil zurückgefahren werden, weil hierbei eine Fehlleitung von Subventionen droht.«

Weitere Empfehlungen des Beirats lauten, die Energiestandards beim Bauen zu lockern, die Grunderwerbsteuer zu senken, Baulücken zu schließen, Neubaugebiete außerhalb der Städte zu entwickeln und das Wohngeld zu reformieren. Die Denkweise, die diesen Empfehlungen zugrunde liegt, beschreibt der Beirat selbst mit glasklaren Worten: »In der öffentlichen Diskussion wird verbreitet die Meinung geäußert, es fehle an ›bezahlbarem Wohnraum‹. Der Beirat hält dieses Bild für irreführend, da es die Funktion von Preisen als Knappheitsindikatoren außer Acht lässt.«

Es ist vielleicht nicht so überraschend, dass der Beirat des Wirtschaftsministeriums meint, es fehle gar nicht an bezahl­barem Wohnraum, sondern nur an den richtigen Rahmenbedingungen für den Wohnungsmarkt. Auch die These, das Problem werde sich durch den Ausgleich zwischen Angebot und Nachfrage ganz von selbst lösen, kann man verstehen. Dass aber ein wissenschaftlicher Beirat den von Millionen Menschen am eigenen Leib erlebten Mangel an bezahlbarem Wohnraum einfach als irreführende Meinung abtut und zur Lösung des Problems vorschlägt, ausgerechnet den sozialen Wohnungsbau einzustellen, ist dann doch verblüffend.

Hier zeigt sich, dass es manchmal gar nicht so leicht ist, politische Entscheidungen auf Fakten zu stützen. Auch wenn die Tatsachen selbst völlig unstrittig sind – ein dramatischer und bedrohlicher Anstieg der Wohnungspreise und Mieten in relativ kurzer Zeit –, gibt es über die Ursachen vollkommen gegensätz­liche Auffassungen und folglich auch sehr verschiedene Lösungsvorschläge.

Im konkreten Fall dominiert wohl bei den meisten Ökonomen die Auffassung, dass die Kräfte des Marktes durch staatliche Regulierung zu sehr beschränkt wurden, und folglich empfehlen sie Deregulierung als Antwort. Ich sehe das anders: Dieses Problem hat doch der Markt im bestehenden Ordnungsrahmen selbst geschaffen. Deshalb kann er es auch nicht mehr allein ­lösen. Das führt mich zu einer Schlussfolgerung, die dem Rat der zitierten Wissenschaftler krass entgegensteht: Nicht Deregulierung, sondern ein massiver staatlicher Eingriff ist erforderlich, um die zerstörerischen Folgen weiterer Preisanstiege beim Wohnen abzuwehren.

Die Anhänger der Theorie der Deregulierung argumentieren etwa so: Der Anstieg der Wohnungspreise ist vor allem das Ergebnis von gestiegener Nachfrage durch Zuwanderung nach Deutschland und Binnenwanderung in die Städte, die nicht durch einen entsprechenden Zubau von Wohnungen oder die Ausweisung von Bauland kompensiert wurden. Verschärft wurde der Preisanstieg durch immer mehr und immer schärfere Bauvorschriften und Steuererhöhungen. Und schließlich hat der anhaltende Aufschwung die verfügbaren Einkommen wachsen lassen, so dass höhere Preise auch durchsetzbar ­wurden.

Das klingt so logisch und bestechend, dass die große Mehrheit der Ökonomen und Journalisten diese Erklärung einfach übernommen hat. Aber sie hat einen Haken: Es ist nur die halbe Wahrheit. Und dazu noch die Hälfte, die bei der Lösung des Problems nicht hilft.

Richtig ist, dass durch den dauerhaften wirtschaftlichen Aufschwung seit 2010 und die wieder wachsenden Reallöhne mehr Kaufkraft zur Verfügung steht, die es den Menschen erlaubt, mehr Geld für das Wohnen auszugeben. Richtig ist auch, dass durch Zuwanderung und überraschend ansteigende Geburtenzahlen die Nachfrage nach Wohnraum entgegen der Prognosen aus dem ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts nicht gesunken, sondern in vielen Regionen stark angestiegen ist. Baden-Württemberg hat heute 600 000 Einwohner mehr als im Jahr 2011. Für Statistiker sind das 5 Prozent, für Schwaben ist das ein ganzes Stuttgart, das kurzfristig neu gebaut werden muss.

Wer daraus streng ökonomisch ableitet, dass entweder die Nachfrage verringert oder das Angebot ausgebaut werden muss, der übersieht, dass dies entweder gar nicht oder nur auf lange Sicht möglich ist. Die Zuwanderung nach Baden-Württemberg und Deutschland dient überwiegend dazu, die offenen Stellen der florierenden Betriebe zu besetzen. Viele Unternehmen finden trotzdem nicht mehr genügend Personal und Auszubildende. Die Nachfrage nach Wohnraum zu verringern, hieße also bewusst die Wirtschaft zu schrumpfen. Ich kenne keinen Politiker, der sich so ein Programm vorstellen kann. Es fällt mir auch selbst nicht ein, den Betrieben in Tübingen zu sagen, sie sollen bitte wegziehen oder niemand mehr einstellen.

Der Ausbau des Angebots scheitert ebenfalls an objektiven Hindernissen. Da ist zunächst die Tatsache, dass wir in Deutschland bereits ein Artensterben erleben und die Ausdehnung der Siedlungsflächen ökologisch nicht akzeptabel ist. Angesichts der steigenden Immobilienpreise in der Region Stuttgart, zu der Tübingens Wohnungsmarkt gehört, müssten wir Hunderte von Hektar Wohnbauland bereitstellen, um in Tübingen die Preise ins Rutschen zu bringen. Wie die meisten Menschen in unserer Stadt halte ich das für eine grauenhafte Vorstellung. Anders gesagt: Wir können das Versagen der Wohnungsmärkte nicht durch das Betonieren unserer Landschaft beheben.

Selbst wenn man das ignorieren würde, dauert es aber fünf Jahre, bis aus einem Acker endlich Wohnbauland geworden ist. Und bis ein Haus draufsteht, sind sieben Jahre schnell vorbei. Denn wir haben eine Vielzahl von Vorschriften zu beachten und es gibt in den Bauämtern der Städte nicht mehr genug Personal für die Menge der Aufgaben. Der Nachwuchsmarkt ist leergefegt. Und schließlich fehlt es an den Firmen, um neue Gebäude zu errichten. Wir hatten in Tübingen jetzt schon mehrere Fälle, in denen auf Ausschreibungen kein einziges Angebot einging, und so waren wir sogar schon gezwungen, große Bauvorhaben um ein Jahr zu schieben.

Wie man es dreht und wendet: Bis die Kapazitäten für Planung und Bau von Wohnraum so weit aufgestockt sind, dass der Nachholbedarf des zu Ende gehenden...

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