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Das Opfer ist der neue Held

Warum es heute Macht verleiht, sich machtlos zu geben

AutorMatthias Lohre
VerlagGütersloher Verlagshaus
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783641250065
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis7,99 EUR
Donald Trump, die AfD und radikale Verfechter der Identitätspolitik haben etwas Wichtiges gemeinsam: Sie sehen sich als Opfer finsterer Mächte. Die neuen Opfer unterteilen die Welt in Gut und Böse. Dialog ersetzen sie durch Empörung, Fakten durch Bauchgefühle. Sie geben sich als Richter über unsere moralischen Normen, brechen diese aber ständig selbst. Ihren wachsenden Einfluss nutzen sie allein für sich, während wirklich Machtlose leer ausgehen. Nie zuvor beklagten Menschen wegen geringerer Anlässe, ihnen widerfahre gewaltiges Unrecht - und nie zuvor hatten sie damit mehr Erfolg. Dabei liegen die wahren Ursachen, weshalb wir uns ohnmächtig, benachteiligt oder bedroht fühlen, meist nicht im Hier und Jetzt, sondern in unserer Kindheit. Bestsellerautor Matthias Lohre bietet verblüffende Einsichten in ein Phänomen, das unser Leben immer stärker prägt, und zeigt Auswege aus dem Opfer-Denken.
  • Die Tricks der Demagogen
  • Über die Macht des Jammerns
  • Die intelligente Analyse eines bizarren Zeitphänomens
  • Für politisch und gesellschaftlich interessierte Leser/innen


Matthias Lohre, geboren 1976, arbeitet als Journalist und Autor in Berlin und berichtet über Politik aus der Hauptstadt und den Bundesländern. Neun Jahre Redakteur der taz, zuletzt als politischer Reporter. Heute ist er u.a. für Die Zeit und ZEIT ONLINE tätig. Autor des Bestsellers 'Das Erbe der Kriegsenkel'.

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Leseprobe

I. EINLEITUNG

1. IST DONALD TRUMP DER BEDAUERNSWERTESTE MENSCH DER WELT?

Was das Opfer zum Helden unserer Zeit macht

Der bedauernswerteste Mensch der Welt erbte ein Vermögen und besuchte eine teure Elite-Uni. Danach heiratete er eine Reihe von Models – nacheinander natürlich – und verdiente Millionen als Star seiner eigenen Reality-TV-Sendung. Sein Name stand schon für Macht, Selbstvertrauen und Reichtum, als er sich seinen größten Traum erfüllte. Er kandidierte für die Präsidentschaft – und besiegte die klare Favoritin. Jetzt war er mächtiger und berühmter denn je. Als Präsident lebte er so, wie Kinder sich den Alltag eines Königs vorstellen mögen. Den halben Tag sah er fern. Er lud eine siegreiche American-Football-Mannschaft zu sich nach Hause und servierte ihr zwischen vergoldeten Kandelabern Berge von Burgern, Pommes und Pizza. Wenn ihm irgendetwas nicht passte, schrieb er im Bett oder auf dem Klo Twitter-Nachrichten, mit denen er die halbe Welt aufschreckte. Und wenn er auf seinem großen Schreibtisch einen Knopf drückte, brachte ihm ein Butler eine Diet Coke. Zwölfmal pro Tag. Trotzdem stellte Donald Trump sich, nur wenige Monate nach seiner Wahl, an ein Rednerpult und rief der Menge zu: »Kein Politiker in der Geschichte – und ich sage das mit großer Gewissheit – wurde schlimmer oder unfairer behandelt!«

Schlimm und unfair behandelt? Trump war nie gefoltert worden. Nie war er wegen seiner Überzeugungen ins Gefängnis gekommen, und nie hatte er sich verstecken müssen. Im Gegenteil schien er jederzeit zu sagen und zu tun, worauf er gerade Lust hatte. Warum also beklagte er sein Schicksal? Und warum teilten Dutzende Millionen Amerikaner seine Sicht? In ihm sahen sie einen Macher, der den Neid seiner Feinde auf sich zog. Sie glaubten Trump, wenn er ihnen sagte, eine Verschwörung hoher Staatsbediensteter wolle ihn zu Fall bringen. Sie schrien Reporter an, wenn er behauptete, TV-Sender brächen Live-Übertragungen seiner Reden ab, weil diese ihnen nicht gefielen. Sie wiederholten sein Wort von der »Hexenjagd«, durch die finstere Bürokraten ihn angeblich zu Fall bringen wollten. Sie empörten sich mit Trump, wenn dieser das Schicksal von Ex-Mitarbeitern beklagte: »Wer wird die jungen und wunderschönen Leben derer zurückgeben, die durch die verlogene Hexenjagd erschüttert und zerstört wurden?« Sie seien »mit Sternen in ihren Augen nach Washington, D.C.« gereist, um »unserer Nation zu helfen… Zurück kehrten sie in Fetzen!« Trumps Anhänger scherte es nicht, dass Gerichte diese Berater reihenweise wegen schwerer Delikte verurteilten. Im Gegenteil. Jede Kritik bestärkte sie in ihrer Überzeugung, böse Mächte wollten ihr Idol daran hindern, ihnen zu helfen. Sie glaubten Trump, wenn er seinen damals 56 Millionen Twitter-Followern schrieb: »Das Opfer hier ist der Präsident.«

Der mächtigste Mensch der Welt – ein Opfer?

»Wir alle verstehen uns als Zentrum unseres eigenen Universums«, sagt Chris Cillizza vom US-Nachrichtensender CNN. »Aber Trump treibt diese Sicht ins absolute Extrem. Er glaubt, das Universum sei hinter ihm her, und deshalb verdiene er von allen Mitleid und Sympathie.« Dabei ist Trumps aggressives Selbstmitleid nicht einmal das Bemerkenswerteste. Noch erstaunlicher ist, wie es ihm gelang, Millionen Amerikaner von seinem Opferstatus zu überzeugen. Indem er sich als von finsteren Mächten Verfolgter präsentierte, den allein die Unterstützung loyaler Anhänger vor dem Fall bewahre, schmälerte er seine Macht nicht. Er festigte sie. Der 45. US-Präsident bietet das spektakulärste Beispiel einer Entwicklung, die vor seinem Amtsantritt begonnen hat und unsere Welt lange nach seinem Abgang prägen wird: den Aufstieg des Opfers vom Außenseiter zum Helden.

In Deutschland beschwören AfD-Politiker eine »Selbstzerstörung unseres Staates und Volkes« und plakatieren den Slogan Wir sind nicht das Weltsozialamt! Angeblich betrieben Politik und Medien die »Überfremdung« Deutschlands. Das Ziel des verräterischen Regimes sei der »Volkstod«. Dass niemand außer ihnen die Verschwörung erkennt, beweist aus ihrer Sicht gerade deren Ausmaß – und ihre Erwähltheit. Ihr Bauchgefühl gilt ihnen als unanfechtbare Wahrheit.

Ähnliches sehen wir in Ungarn, wo Premier Viktor Orbán die Gefahr durch die EU beschwört: Die »virtuelle Welt der privilegierten europäischen Elite« plane einen »Bevölkerungsaustausch« durch »Massen einer anderen Kultur aus einer anderen Zivilisation«. In der Türkei behauptet Präsident Recep Tayyip Erdoğan, verantwortlich für die tiefe Wirtschaftskrise seines Landes sei eine westliche Verschwörung, um die Türkei »in die Ecke zu drängen«. In Brasilien erklärt Präsident Jair Bolsonaro, das Land müsse sich »vom Sozialismus, der Umkehrung der Werte und der politischen Korrektheit befreien«, und sein Außenminister sieht sogar im Klimawandel eine »marxistische Verschwörung«. Die vermeintlichen Opfer halten ihre Gegner für so allmächtig wie unfähig.

Die neue Lust am Opfer-Sein floriert auch unter Linken. An Universitäten fordern Studierende umfassenden Schutz vor unliebsamen Meinungen ein. Sie fürchten, selbst Worte in einem Buch könnten sie traumatisieren. Literaturklassiker erhalten deshalb »Triggerwarnungen«. Die sollen junge Leser davor bewahren, sich schockartig an schmerzvolle Erlebnisse erinnert zu fühlen. Selbst dann, wenn es gar nicht ihre Erlebnisse sind, sondern die anderer Frauen, Schwuler oder African Americans. So sei es schwarzen Studenten nicht zuzumuten, rassistische Schimpfworte in einem Artikel zu lesen – selbst wenn der Text Rassismus kritisch behandelt. Genauso müssten weibliche Jura-Studierende Vorlesungen meiden dürfen, welche die Rechtsprechung in Vergewaltigungsfällen behandeln. Die neuen Opfer erklären anderer Leute Leid zu ihrem eigenen und leiten daraus ein Recht auf Schutz ab. Ihr subjektives Empfinden genügt. Jeder Einwand, jede Verteidigung bestätigt ihnen nur die Verblendung der anderen. Die neuen Opfer halten sich für ohnmächtig, aber moralisch überlegen.

»Es sind allerdings so gut wie nie die tatsächlichen ›Opfer‹«, urteilt die Philosophin Maria-Sibylla Lotter, »sondern meist selbst ernannte Opfervertreter«. Diese wollen »anderen aufgrund ihrer Identität das Recht auf Verständnis oder auch nur freie Meinungsäußerung zu bestimmten Themen« zusprechen oder verweigern. Die Professorin an der Ruhr-Uni Bochum sieht darin eine Gefahr. Die Identitätspolitik war einmal dazu gedacht, benachteiligte Gruppen sichtbarer zu machen und zu stärken. Heute aber hat sie vielfach »die Gestalt einer Anklage durch selbst ernannte Richter angenommen«. Opfervertreter unterteilen »die Menschen je nach Hautfarbe oder anderer nicht selbst erzeugter Eigenschaften«. Die einen erklären sie zu Opfern, die anderen zu Tätern »vergangenen und systemischen Unrechts«. Aus Sicht der Opfervertreter haftet auch an den Nachfahren echter oder vermeintlicher Täter untilgbare historische Schuld. Deshalb müssten, ja dürften die Nachkommen der Opfer ihnen nie verzeihen. Die Identität als Opfer und Täter wird vererbt. Versöhnung ist ausgeschlossen.

So teilen Trump, AfD und Verfechter der Identitätspolitik eine düstere Weltsicht. Um sich herum vermuten sie abgehobene Eliten, die aufrechte Bürger wie sie erniedrigen. Immerzu wähnen sie die Zeit zur Umkehr fast abgelaufen. Häufig sehen sie gar einen dramatischen Endkampf zwischen Gut und Böse, zwischen Opfern und Tätern heraufziehen. In diesem Überlebenskampf ist ihnen jedes Mittel recht, schließlich verteidigen sie ein hehres Ideal. So verhalten sie sich unfair im Namen der Fairness, eigensüchtig im Namen des Gemeinwohls, unmoralisch im Namen der Moral.

Wir alle werden als Opfer geboren. Also als bedürftige, für die eigenen Handlungen nicht verantwortliche Wesen, die ihrer Umwelt und den Menschen um sie herum ausgeliefert sind. Im Idealfall reifen wir – dank bedingungsloser Fürsorge und liebevoller Anleitung – zu selbstbestimmten Erwachsenen heran. Auf unserem Weg lernen wir, Gefahren einzuschätzen, abzuwehren, zu minimieren oder aus dem Weg zu gehen. Auch als Erwachsene sind wir zwar nicht gefeit vor traumatisierenden Erlebnissen – etwa durch eine schwere Krankheit, den Tod eines geliebten Menschen, bei Arbeitsplatzverlust, der Trennung vom Partner oder als Ziel einer Gewalttat. Doch in der Regel bemühen wir uns nach Kräften, diese Ohnmachtserfahrungen durchzustehen und hinter uns zu lassen. Schließlich wollen wir uns nicht länger als unbedingt nötig als Opfer fühlen, sondern die Gewissheit zurückgewinnen, unser Leben im Griff zu haben. Wir wollen keine Last sein, sondern Lasten tragen können. Hingegen definieren die neuen Opfer sich durch reales oder imaginiertes Leid. Ihre vermeintliche Schwäche beeinträchtigt ihr Selbstwertgefühl nicht, sondern speist sich daraus.

In unübersichtlichen Zeiten erzählen Opfer eine kraftvolle Geschichte über Gut und Böse, Leid und Aufbegehren. Das sichert ihnen Aufmerksamkeit. Ein besonders anschauliches Beispiel bieten Pseudologen – zwanghafte Lügner. »Früher haben sich Pseudologen gerne als Adelige oder Weltreisende ausgegeben, um Anerkennung zu erlangen«, erklärt der Berliner Psychiater und Psychotherapeut Hans Stoffels. »Heute nehmen sie gerne die Opferrolle ein, zum Beispiel die Rolle des Opfers einer schweren Krebserkrankung oder einer Vergewaltigung.« Stoffels behandelte einen Mann, der »behauptet hatte, sein Sohn sei nach einem Unfall verstorben, was – wie sich später herausstellte – gar nicht stimmte. Aber zunächst hatte er viel Zuwendung und Mitleid erfahren.« Durch den Zuspruch nähren die...

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