TEIL 1:
DYSTOPISCHES DENKEN – DER STARKE GLAUBE AN UNSER KOLLEKTIVES SCHEITERN
1 – DIE ZWEI GESICHTER DES JANUS
GRENZENLOSER WOHLSTAND UND ZUKUNFTSÄNGSTE
Soziale Krise, politische Krise, Wirtschafts- und Handelskrise, Finanz- und Schuldenkrise, Bildungskrise, Energiekrise, demografische Krise, Flüchtlingskrise, Glaubwürdigkeitskrise, Kulturkrise, Glaubenskrise, ökologische Krise … Unser Leben scheint von Krisen bestimmt zu sein. Ein Blick in die Medien genügt, um zu erfahren, dass die Zukunft Europas auf dem Spiel steht, die Klimakatastrophe droht, der Zerfall unseres Schulsystems und der Kollaps unseres Rentensystems bevorstehen und – als ständiges Grundrauschen – der allgemeine Sitten- und Werteverfall sowie der Niedergang des demokratischen Konsenses durch politischen Extremismus die Gesellschaft entzweien. Zu all diesen Folgen unseres Versagens kommen noch die Bedrohungen, die durch unseren menschlichen Erfindungsreichtum hervorgerufen werden: Künstliche Superintelligenz übernimmt das Ruder, Geningenieure designen Babys, Neurotechnologien kontrollieren unseren Geist und Big Data erfasst unsere Persönlichkeit besser, als wir dies selbst tun.
Auf solche Schreckensmeldungen reagieren wir mit Verunsicherung und Angst (»Meinen Job übernimmt eine Maschine, ich werde im Alter arm sein« oder »Meinen Kindern wird es später einmal schlechter gehen«), manchmal versteckt unter Fatalismus (»Es geht sowieso alles den Bach runter«) und Selbsttäuschung (»Das ist doch alles reine Panikmache!«). Dazu gesellt sich Frustration, weil wir meinen, nichts an den Entwicklungen ändern zu können, aber auch, weil wir das, was um uns herum passiert, nicht wirklich verstehen – »Irgendwie überrollt mich das alles!«
Krisen bestimmen unser kollektives Bewusstsein. Sie machen uns Angst und frustrieren uns, weil wir uns ohnmächtig fühlen.
Gleichzeitig verfügen wir heute in den entwickelten Ländern trotz all dieser misslichen Krisen und unserer Ängste über eine niemals zuvor erreichte Lebensqualität.
- Wir haben alle ein sicheres Dach über dem Kopf, niemand muss frieren oder hungern.
- Sozial Schwächere können sich auf staatliche Leistungen verlassen.
- Heute sterben mehr Menschen an zu viel als an zu wenig Essen, mehr kommen durch Unfälle ums Leben als durch Kriege, und zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit sind Infektionskrankheiten weniger tödlich als Altersgebrechen.
- Dank minimalinvasiver Operationstechniken, Antibiotika und ausgewogener Ernährung erfreuen sich die meisten von uns bis ins (immer höhere) Alter bester Gesundheit.1
- Wir haben Zugang zu frischem Trinkwasser und den köstlichsten kulinarischen Genüssen (unsere Urgroßeltern haben zeit ihres Lebens kaum je eine Papaya oder Mango gesehen).
- Wir haben viel Freizeit, die wir mit jeder Menge Weiterbildungsmöglichkeiten und bester Unterhaltung füllen können.
- Wir profitieren von den Möglichkeiten nahezu unbeschränkter Mobilität, reisen in exotische Länder.
- Digitale Kommunikation erlaubt es uns, uns mit Freunden in aller Welt auszutauschen.
Die Liste der Annehmlichkeiten des modernen Lebens, die unser Dasein im Vergleich zu dem unserer Vorfahren so unglaublich bequem wie vielfältig gestaltbar machen, ließe sich noch beliebig fortsetzen. Wir leben besser als je – und das Beste daran ist: Wir wissen das alles zu schätzen! Repräsentative Umfragen zeigen, dass die subjektiv empfundene, individuelle Zufriedenheit der Menschen stabil auf hohem Niveau liegt.2 Wie aber passen Dauer-Krisenstimmung und Wohlbehagen zusammen?
Beide Extreme dieses merkwürdigen Spagats haben dieselben Wurzeln: den wissenschaftlichen und technologischen Fortschritt.
- Wissenschaft und Technologie haben das menschliche Leiden stärker vermindert als jede andere Geistestradition (genau eine solche ist ja die Wissenschaft: ein Versuch, mit Hilfe unseres Geistes die Welt zu verstehen). Sie ermöglichen uns eine Existenz in unvergleichbarer Sicherheit, ein höchstes Maß an Gesundheit, enormen materiellen Wohlstand, ein großes subjektives Zufriedenheitsgefühl und eine Lebensqualität, von der unsere Großeltern und alle Generationen davor nur träumen konnten.
- Gleichzeitig hat uns der technologische Fortschritt neue Probleme wie Umweltzerstörung, Bevölkerungsexplosion und atomare Bedrohung gebracht. Viele Menschen malen sich eine Zukunft aus, in der alles, was wir kennen, durch Technologie zerstört wird, oder in der ein Armageddon die Menschheit als Ganzes auslöscht.3
Uns beherrscht eine bequeme, aber blinde Technikgläubigkeit, wir genießen den Luxus von Autos, Computertomografie und Abwasserentsorgung, vertrauen auf das Funktionieren von Smartphone, digitaler Datenkommunikation und Antibiotika, zugleich fürchten und verteufeln wir den technologischen Fortschritt.
Zu einer Form von geistiger Flucht vieler Menschen ist es geworden, den Gedanken an die Zukunft überhaupt zu vermeiden und in einer nie endenden Gegenwart oder in der Vergangenheit vor einigen Jahren zu leben, in der sich das Leben instinktiv angenehmer und sicherer anfühlte.
Neue Technologien und Dystopien
Ein Beispiel für die Zweischneidigkeit des technischen Fortschritts sind die digitalen Technologien. Aktuell beschert uns das Internet neben seinen aufregenden neuen Möglichkeiten des sozialen, politischen und wirtschaftlichen Austauschs auch ganz neue Formen der persönlichen Überwachung und massiver Eingriffe in unsere Privatsphäre, ganz zu schweigen von der zunehmenden Abhängigkeit unserer gesamten Infrastruktur vom Internet, die uns angreifbar für Cyberterroristen macht. Neue Algorithmen lösen vormals unlösbare Probleme, aber die Entwicklung einer übermächtigen künstlichen Intelligenz droht uns Menschen zu versklaven. Und vom Hunger unserer modernen Technologien nach Energie führt ein direkter Weg zur Vernichtung der irdischen Ressourcen.
Auch schon in der Vergangenheit kam der wissenschaftliche und technologische Fortschritt zumeist sowohl mit positiven Entwicklungen als auch um den Preis großer Nachteile und Ängste. Drei Beispiele:
- Als die Eisenbahnen eingeführt wurden, hatten Menschen nicht nur Angst vor der »unmenschlichen« Geschwindigkeit. Es gab tatsächlich eine Reihe schwerer Unfälle, Kessel explodierten, Züge stießen zusammen, Brücken stürzten ein.
- Die Industrialisierungswellen des 18. und 19. Jahrhunderts bewirkten ein massives Wirtschaftswachstum, aber auch die Entstehung eines Proletariats des Elends und die Auflösung der traditionellen Großfamilie.
- Neben Computern, Laser und moderner medizinischer Diagnostik brachte uns die Quantenphysik in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts auch die Atombombe.
Die Erfahrung, dass technologischer Fortschritt unser Leben auch zum Negativen verändern kann, machen Menschen bereits seit Jahrhunderten.
Neu ist allerdings, was wir vom technologischen Wandel für die Zukunft erwarten. Bis ins 19. Jahrhundert hinein zeichneten Philosophen und Literaten der westlichen Welt in ihren Zukunftsvisionen ausgesprochen positive Bilder von dem, was den Menschen bevorsteht. Angefangen hat es 1516 mit der Utopia von Thomas Morus.4 Utopia ist eine Welt, in der alle Menschen (genauer: alle Männer) die gleichen Rechte haben. Die Arbeitszeit beträgt sechs Stunden am Tag, es herrscht freie Berufswahl und uneingeschränkter Zugang zu Bildungsgütern. Jeder erhält von der Gemeinschaft, was er braucht. Eine solche Gesellschaft musste den Menschen vor 500 Jahren als ein Paradies erschienen sein. Thomas Morus’ Land Utopia5 wurde zum Namensgeber für die fiktiven zukünftigen Welten, die hoffnungsvolle Gegenentwürfe zum tristen Lebensalltag der jeweiligen Gegenwart darstellten.
Erst im 20. Jahrhundert kippte das Bild, aus Utopien wurden Dystopien. Die Zukunftsentwürfe der letzten hundert Jahre beschreiben überwiegend unangenehme bis apokalyptische Welten, die durch Ökozid, mörderische Roboter, totalitäre Regime und atomare Vernichtung geformt werden. George Orwells »1984« und Aldous Huxleys »Schöne Neue Welt«, die Aushängeschilder des Zukunftsromans im 20. Jahrhundert, beschreiben Albtraumwelten, hervorgerufen durch despotische Weltdiktaturen, die allein durch moderne Technologien möglich wurden. Und Alfred Döblin schrieb noch vor »Berlin Alexanderplatz« den Roman »Berge, Meere und Giganten«, der 1924 erschien und von einer in zwei große Machtblöcke geteilten Welt erzählt, in der die Besiedlung Grönlands das Abschmelzen der Eismassen zur Folge hat.
Wer die Zukunftsromane von heute betrachtet, sieht auch hier: Dystopien beherrschen das Genre, von Freiheitsverlust durch digitale Totalüberwachung (»Zero« von Marc Elsberg, »Das Erwachen« von Andreas Brandhorst, »NSA – Nationales Sicherheits-Amt« von Andreas Eschbach), optimierten und mit künstlicher Intelligenz erzogenen Menschen (»Die Hochhausspringerin« von Julia von Lacadou), virtuellen Identitäten (»Die Tyrannei des Schmetterlings« von Frank Schätzing), Menschenzüchtung (»Perfect People«, Perfekte Menschen, von Peter James) bis hin zum Kollaps des globalen Klimas (»Ausgebrannt« von Andreas Eschbach, »Der Platz an der Sonne« von Christian Torkler).
Sahen wir früher die Vorteile der technologischen Entwicklung und...