MICHAEL SCHMIDT-SALOMON
Vor dem Gesetz sind nicht alle gleich
70 Jahre Grundgesetz – 100 Jahre Verfassungsbruch Warum wir die Kirchenrepublik überwinden müssen
Eineinhalb Jahrtausende waren Thron und Altar miteinander vermählt, seit 100 Jahren leben Staat und Kirche in Deutschland voneinander getrennt. Zumindest ist dies die offizielle Version. In Wahrheit jedoch wurden die Scheidungspapiere der beiden »Elitepartner« niemals unterzeichnet. Denn die verantwortlichen Politikerinnen und Politiker haben es seit 1919 nicht gewagt, einen Schlussstrich unter die gescheiterte Beziehung von Staat und Religion zu ziehen und reinen Tisch zu machen. Dies ist der Grund dafür, dass der deutsche Staat noch immer Milliardenbeträge an die Kirchen zahlt, dass der Schwangerschaftsabbruch noch immer als »Unrecht« gilt und dass schwerstkranken Patienten die Chance verwehrt wird, selbstbestimmt zu sterben.
Fakt ist: Die Freiheiten der Bürgerinnen und Bürger werden noch immer in beträchtlichem Maß durch religiöse Normen beschnitten – und zwar von der Wiege bis zur Bahre, ja sogar darüber hinaus, nämlich vom Embryonenschutz bis zum Friedhofszwang. Dies wiederum geht zwingend mit einem Verstoß gegen das Verfassungsgebot der weltanschaulichen Neutralität des Staates einher – wodurch die beiden Jubiläen, die der demokratische Verfassungsstaat 2019 feiern kann, einen bitteren Beigeschmack erhalten. Denn »70 Jahre Grundgesetz« und »100 Jahre Weimarer Verfassung« bedeuten nicht zuletzt auch 70 bzw. 100 Jahre Verfassungsbruch.
Die Spitze des Eisbergs
Am einfachsten lässt sich dies wohl an den Artikeln 136 bis 141 der Weimarer Verfassung (WRV) aufzeigen, die 1949 in das Grundgesetz (GG) der Bundesrepublik Deutschland aufgenommen wurden (Art. 140 GG). Die Väter und Mütter der Weimarer Verfassung, die 1919 den Grundstein für die Demokratie in Deutschland legten, hatten wirklich versucht, die überkommene, für nicht wenige Menschen tödliche Verbindung von Politik und Religion zu beenden. Daher verfügten sie nicht nur, dass es keine Staatskirche gibt und dass Religions- und religionsfreie Weltanschauungsgemeinschaften gleichberechtigt sind (Art. 137 WRV), sie forderten auch, die finanziellen Verflechtungen von Staat und Kirche aufzulösen. Dazu heißt es in Artikel 138 der Weimarer Reichsverfassung (bzw. in Art. 140 des Grundgesetzes): »Die auf Gesetz, Vertrag oder besonderen Rechtstiteln beruhenden Staatsleistungen an die Religionsgesellschaften werden durch die Landesgesetzgebung abgelöst. Die Grundsätze hierfür stellt das Reich auf.«
Es ist bemerkenswert, dass dieser »Ablösebefehl« der Verfassung bis zum heutigen Tag nicht erfüllt wurde, was zur Folge hat, dass die Gehälter katholischer und evangelischer Bischöfe nicht zuletzt auch mit den Steuergeldern konfessionsfreier Menschen bestritten werden. Allein 2018 lagen diese aus dem allgemeinen Steuertopf aufgebrachten Staatsleistungen an die Kirchen bei über 538 Millionen Euro. Warum, so fragt man sich, werden diese Staatsleistungen noch immer gezahlt? Einige Politikerinnen und Politiker behaupten, der Staat könne sich eine Ablösung gar nicht leisten, da er auf einen Schlag eine sehr hohe Summe aufbringen müsste. Doch dieses Argument ist völlig abwegig. Denn durch die Milliardenbeträge, die der Staat den Kirchen – gegen den Auftrag der Verfassung – seit 100 Jahren gezahlt hat, ist jede Ablösesumme, die man 1919 theoretisch hätte veranschlagen können, längst schon abgegolten.
Nun sind diese jährlichen Zahlungen von mehr als 500 Millionen nur Peanuts, wenn man sie mit den jährlichen Kirchensteuereinnahmen in Höhe von zehn Milliarden Euro vergleicht. Allerdings kommen für diese Einnahmen – im Unterschied zu den »Staatsleistungen« – nicht alle Steuerzahler auf, sondern bloß diejenigen, die Kirchenmitglieder sind. Wo also liegt das Problem? Ganz einfach: In Artikel 136 der Weimarer Verfassung (und damit auch in Art. 140 des Grundgesetzes) heißt es: »Niemand ist verpflichtet, seine religiöse Überzeugung zu offenbaren. Die Behörden haben nur soweit das Recht, nach der Zugehörigkeit zu einer Religionsgesellschaft zu fragen, als davon Rechte und Pflichten abhängen.« Die Weimarer Republik hat sich an diese Verfassungsvorgabe gehalten – nicht jedoch die Bundesrepublik Deutschland, die stattdessen auf eine Nazi-Regelung aus dem Jahr 1934 zurückgegriffen hat, nämlich auf den Eintrag der Konfessionszugehörigkeit auf der Lohnsteuerkarte, durch den nicht nur staatliche Behörden, sondern auch sämtliche Arbeitgeber von der etwaigen Religionszugehörigkeit oder Konfessionsfreiheit ihrer Arbeitnehmer in Kenntnis gesetzt werden.
Dieser seit 70 Jahren bestehende Verfassungsbruch hat gravierende Folgen – nicht zuletzt deshalb, weil die kirchlichen Sozialkonzerne Caritas und Diakonie die größten nichtstaatlichen Arbeitgeber Europas sind. Dank der massiven Unterstützung des Staates dominieren sie seit Jahrzehnten die sogenannte »freie Wohlfahrtspflege« von der Medizin über die Kinder- und Jugendhilfe bis hin zur Altenpflege. Menschen, die in diesen Segmenten tätig sind, unter anderem ErzieherInnen, AltenpflegerInnen, ÄrztInnen, PsychologInnen und PädagogInnen, können es sich in vielen Fällen gar nicht leisten, aus der Kirche auszutreten, da sie befürchten müssen, von einem kirchlichen Arbeitgeber entweder entlassen oder gar nicht erst angestellt zu werden. Für sie steht das Recht auf Religionsfreiheit nur auf dem Papier. Dieses Problem ließe sich jedoch leicht entschärfen, wenn der Staat sich endlich an seine Verfassung halten und den automatischen Einzug der Kirchensteuer über den Arbeitgeber abschaffen würde. Dass er stattdessen zugunsten der Kirchen auf eine verfassungswidrige Nazi-Regelung zurückgreift, ist ein Skandal, der viel zu wenig Beachtung findet.
Der milliardenschwere Wohlfahrtsmarkt, auf dem Caritas und Diakonie Umsätze erzielen, vor denen Dax-Unternehmen neidvoll erblassen, zeigt in besonderem Maße, wie intim das Verhältnis der angeblich getrennten Partner Staat und Kirche noch immer ist: Nicht ohne Grund hat die Monopolkommission der Bundesregierung bereits vor 20 Jahren die »kartellartigen Absprachen« zwischen dem Staat und den Wohlfahrtsverbänden angeprangert, da sie den Wettbewerb blockieren und den Status quo schützen, in dem die kirchlichen Anbieter den Markt beherrschen. Geändert hat sich durch die scharfe Rüge der Monopolkommission kaum etwas: In vielen ländlichen Regionen gibt es noch immer keine Alternativen zu Caritas und Diakonie, was dazu führt, das religionsfreie Menschen ausgerechnet in besonders schwierigen Phasen ihres Lebens auf die Unterstützung von Institutionen angewiesen sind, denen sie möglicherweise zutiefst misstrauen. Man denke nur an die vielen Tausende von Heimkindern, die in konfessionellen Einrichtungen als billige Arbeitskräfte ausgebeutet, körperlich und psychisch misshandelt oder sexuell missbraucht wurden – und nun befürchten müssen, ihre letzten Jahre ausgerechnet in einem konfessionellen Altersheim zu verbringen.
Die wissenschaftliche Aufarbeitung der Geschichte der Heimkinder hat gezeigt, dass in kirchlichen Heimen die wohl schwersten Menschenrechtsverletzungen auf deutschem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg stattgefunden haben. Doch der Staat griff nicht ein. Statt die Opfer zu schützen, schützte er die Täter – damals (durch die Verletzung der Aufsichtspflicht) wie heute (durch das Aushandeln von »Entschädigungen«, die im internationalen Vergleich empörend gering sind!). Hier zeigen sich die Folgen der Missachtung eines weiteren 100-jährigen Verfassungsgebots, nämlich des Artikels 137 Absatz 3 der Weimarer Verfassung (über Art. 140 ebenfalls Bestandteil des bundesdeutschen Grundgesetzes), der da lautet: »Jede Religionsgesellschaft ordnet und verwaltet ihre Angelegenheiten selbständig innerhalb der Schranken des für alle geltenden Gesetzes.« Wichtig ist in diesem Fall der oft vernachlässigte Zusatz »innerhalb des für alle geltenden Gesetzes«, denn er besagt, dass die Religionen keineswegs über dem Gesetz stehen und dass der Staat es unter keinen Umständen zulassen darf, dass Religionsgemeinschaften Verstöße gegen allgemeine Gesetze als »interne Angelegenheiten« regeln. Letzteres geschieht jedoch immer wieder, wie der jüngste Missbrauchsskandal der katholischen Kirche gezeigt hat. Klar ist: Hätte die Mafia einen anonymisierten Forschungsbericht über den massenhaften sexuellen Missbrauch innerhalb der eigenen Organisation vorgelegt, wäre schon am nächsten Morgen ein ganzes Bataillon von Polizisten ausgerückt, um die Archive zu durchsuchen. Als jedoch die Katholische Kirche im September 2018 einen Bericht veröffentlichte, der nachwies, dass sich in ihren Reihen 1670 Kleriker befinden, die in mehr als 6000 Fällen sexuellen Missbrauch begangen haben, geschah rein gar nichts! Es bedurfte schon bundesweiter Strafanzeigen durch das Institut für Weltanschauungsrecht (ifw) sowie sechs renommierte Juraprofessoren, bis...