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Neoliberalismus

Wie alles anfing: Das Walter Lippmann Kolloquium

AutorJurgen Reinhoudt, Serge Audier
Verlagkursbuch.edition
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl303 Seiten
ISBN9783961960835
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Sommer 1938: Knapp zehn Jahre nach dem Börsencrash an der Wall Street und dem Einsetzen der New-Deal-Politik ist der wirtschaftliche Liberalismus auf dem Rückzug. In der Sowjetunion, Deutschland und Italien hält der Faschismus Einzug. Angesichts dieser geopolitischen Lage lädt der französische Philosoph Louis Rougier 26 Ökonomen, Soziologen, Philosophen und Juristen zu einem Kolloquium nach Paris ein. Darunter auch Walter Lippmann, der gerade sein Werk 'The Good Society' vorgelegt hatte, in welchem er die These aufstellt, dass die Marktwirtschaft gerade nicht das spontane Ergebnis einer natürlichen Ordnung sei, sondern Ergebnis einer Rechtsordnung, die das Eingreifen des Staates voraussetze. Steht ein neoliberales Denken also für ein Mehr oder ein Weniger an staatlichem Eingreifen? Die Teilnehmer des Walter-Lippmann-Kolloquiums sind mit der schillernden Unklarheit des Begriffs konfrontiert. Dennoch markiert ihr Zusammentreffen die Geburtsstunde einer geistigen Bewegung, die den weltweiten ökonomischen Diskurs entscheidend mitprägen wird. Der amerikanische Politologe Jurgen Reinhoudt und der französische Soziologe Serge Audier haben die Transkription der relevanten Passagen des Walter-Lippmann-Kolloquiums in einen wissenschaftlich kontextualisierten Rahmen gestellt und stellen damit sicher, diese einzigartig vielschichtige Begriffsgeschichte nachvollziehbar und jedem zugänglich zu machen, der den heutigen Diskurs mit dem adäquaten Instrumentarium gestalten will. Erstmals erscheint Reinhoudts und Audiers Werk nun in deutscher Übersetzung. Neben den Originalbeiträgen bietet 'Neoliberalismus. Wie alles anfing: Das Walter-Lippmann-Kolloquium' seinen Lesern hilfreiche Kommentare und Erläuterungen, einen Einblick in den historischen Kontext der Veranstaltung und Hintergründe zu allen Teilnehmern.

Das Verhältnis von Staat, Wirtschaft und Demokratie ist eins der Kernthemen der Arbeiten des französischen Philosophen und Soziologen Serge Audier. Er gilt als einer der führenden Köpfe der französischen Liberalismusforschung. Seine Veröffentlichungen der Papiere des Walter Lippmann Kolloquiums leisteten einen zentralen Beitrag zur Begriffsschärfung dieses diskursiv umstrittenen Konzepts. Er lehrt als Maître de Conférences an der Sorbonne in Paris. Der amerikanische Politologe Jurgen Reinhoudt hat gemeinsam mit Serge Audier 2018 erstmals eine englische Übersetzung der Papiere des Walter Lippmann Kolloquiums vorgelegt. Er forscht als Research Associate an der Hoover Institution an der Stanford University und hat an der University of Pennsylvania promoviert.

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Leseprobe

Kapitel 2
Teilnehmer des Kolloquiums

Raymond Aron (1905–1983) war ein französischer Philosoph und Soziologe, der die öffentlichen Debatten in Frankreich über viele Jahrzehnte hinweg maßgeblich mitgestaltete. Als Liberaler hegte Aron schon früh Bewunderung für John Maynard Keynes,1 und sein Aufsatz »Bemerkungen über die Objektivität der Sozialwissenschaften« legt Zeugnis ab von seinem deutlich von Keynes geprägten Hintergrund.2 In seiner Jugend wurde Aron von gemäßigten Liberalen wie etwa Elie Halévy, »radikalen« Republikanern wie zum Beispiel dem Soziologen Célestin Bouglé und verschiedenen Sozialisten beeinflusst. Wie Emile Durkheim und sein Doktorvater Bouglé ging Aron zur Fortsetzung seiner sozialwissenschaftlichen Ausbildung in den frühen 1930er-Jahren nach Deutschland, zunächst nach Köln und von 1931 bis 1933 dann nach Berlin, wo er mit Entsetzen den Aufstieg der Nationalsozialisten zur Macht erlebte. Als Soziologe interessierte sich Aron naturgemäß vor allem für die Arbeiten von Wilhelm Dilthey und Max Weber, aber in seinem ersten Buch, Die deutsche Soziologie der Gegenwart 3, setzte er sich auch mit den Beiträgen von Franz Oppenheimer auseinander, einem frühen Theoretiker des »liberalen Sozialismus«.4

Obgleich Aron ein Anhänger der Volksfront war und sich in seiner Doktorarbeit 1938 selbst als »Sozialist« bezeichnete, kritisierte er (wie seine Freunde Robert Marjolin und Roger Auboin) die Wirtschaftspolitik der Volksfrontregierung in einem Beitrag in der Revue de métaphysique et de morale.5 Die Wahl dieser Zeitschrift – die im politischen Spektrum eindeutig links angesiedelt war – begründete er später mit seiner damaligen Sorge, er könnte sonst die von der Rechten an der Volksfront geübte Kritik noch verstärken. Während des Krieges war Aron bis zur Befreiung Frankreichs Herausgeber des Magazins France Libre in London. Im Gegensatz zu Hayek, Röpke und anderen »Neoliberalen« unterstützte Aron öffentlich den von William Beveridge vorgeschlagenen Plan zum Aufbau sozialer Sicherungssysteme in Großbritannien und erklärte, dass er sich etwas Vergleichbares für Frankreich wünsche. Zu dieser Zeit stand er auch in Verbindung mit Pierre Laroque, dem Begründer des französischen Sozialversicherungssystems.6

In der gemeinsam mit Jean-Paul Sartre und Maurice Merleau-Ponty herausgegebenen linksgerichteten Zeitschrift Les Temps Modernes sprach sich Aron 1945 in seinem Aufsatz »La chance du socialisme« für eine Synthese der Doktrin der britischen Labour-Bewegung mit dem Gaullismus aus. Bald darauf allerdings brach Aron mit der Redaktion von Temps Modernes, und seine beharrliche Opposition gegen das sowjetische System nach dem Krieg isolierte ihn unter französischen Intellektuellen.7 Aron ging immer mehr auf Distanz zum Sozialismus und bekannte sich offen als ein den gaullistischen und rechten Kreisen nahestehender Liberaler. Im Jahr 1955 erfolgte seine Berufung auf einen Lehrstuhl für Soziologie an der Sorbonne, die aufgrund der Kritik einiger seiner Kollegen an seiner Tätigkeit als Autor für die rechtsgerichtete Tageszeitung Le Figaro knapp ausfiel. Und im Jahr 1970 wurde er dann an das renommierte Collège de France auf den Lehrstuhl für Soziologie der modernen Zivilisation berufen. Unter den zahlreichen Veröffentlichungen trug ihm vor allem sein 1955 erschienenes Werk L’opium des intellectuels (dt. Opium für Intellektuelle, 1957) – eine Kritik an zeitgenössischen Intellektuellen und deren überschwängliche Sympathien für den Marxismus und Verehrung der »Revolution« schlechthin – großes Ansehen ein. Aron schrieb Bücher über Themen der Soziologie, der Geschichte und der Politik und betätigte sich daneben jahrzehntelang als freier Publizist für die Tageszeitung Le Figaro und später das Nachrichtenmagazin L’Express.

Roger Auboin (1891–1974) war ein französischer Ökonom, der von 1938 bis 1958 als Generaldirektor der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich amtierte. Er schrieb Bücher und Aufsätze zu Themen der Volkswirtschaftslehre und der Geldpolitik, insbesondere Twenty Years of International Cooperation in the Monetary Sphere (1958) und Les vraies questions monétaires à l’épreuve des faits (1973). Auboin sprach sich für eine Zusammenarbeit der einzelnen Staaten aus, um ein wirksames Funktionieren des internationalen Währungssystems zu gewährleisten.

Wie andere Teilnehmer des Lippmann-Kolloquiums aus Frankreich – darunter Raymond Aron und Robert Marjolin – war Auboin der Volksfrontregierung (Front populaire) gegenüber 1936 günstig eingestellt, ehe er seine Kritik an ihrer Wirtschaftspolitik im internationalen Zusammenhang formulierte. Auboin war Beamter und Finanzfachmann und gehörte kurzzeitig der Regierung Camille Chautemps an, ehemals Staatsminister der Volksfront, der Léon Blum im Juni 1937 als Premierminister ablöste und bis März 1938 im Amt blieb. In dieser neuen Regierung von gemäßigt »radikaler« Ausrichtung unter Führung eines Mannes, der gewiss kein »Marktfundamentalist« war,8 übernahm Auboin für kurze Zeit die Leitung des Generalsekretariats des Internationalen Komitees für Nationalökonomie, das dem Finanzministerium beigeordnet war und damit an die Stelle des Ministeriums für Nationalökonomie der Volksfrontregierung trat. In seinen Aufsätzen aus jener Zeit, vor allem für die von Louise Weiss herausgegebene proeuropäische Zeitschrift L’Europe nouvelle, setzte er sich für einen »praktischen Liberalismus« ein, der für maßvolle ökonomische und soziale Eingriffe im Rahmen einer marktwirtschaftlichen Ordnung stand.9 Es hat nicht den Anschein, als sei er zum Zeitpunkt des Kolloquiums von diesen Grundüberzeugungen, wenn überhaupt, nennenswert abgerückt.

Louis Baudin (1887–1964) lehrte von 1923 bis 1937 Ökonomie an der Universität Dijon, anschließend Rechtswissenschaft an der Universität Paris. Baudin stand dem sozialen Katholizismus nahe, seine Anschauungen waren liberal, konservativ, elitär und korporatistisch geprägt. Nach dem Lippmann-Kolloquium nahm er wiederholt für sich in Anspruch, den Begriff »Neoliberalismus« geprägt zu haben, und machte seinen Einfluss auf Daniel Villey geltend, der ein Mitglied des Centre International d’Etudes pour la Rénovation du Libéralisme war, einer neoliberalen Gruppierung, für deren Gründung das Kolloquium den Anstoß gegeben hatte. In seinem 1937 erschienenen Buch L’Utopie soviétique prangerte Baudin die Tyrannei und die Lügen des Kommunismus an und warf ihm generelles Versagen vor.10 Demgegenüber favorisierte er eine korporatistische Doktrin als geeignet, dem Marxismus und seiner Anziehungskraft auf Arbeiter entgegenzuwirken.11 In seinen Vorlesungen zur Geschichte der Nationalökonomie und zum Individualismus in den 1930er- und 1940er-Jahren zeigte er immer deutlicher seine Bewunderung für einen von Nietzsche bestimmten extremen Elitarismus sowie für den sozialen Katholizismus eines Frédéric Le Play, Anschauungen, die er mit liberalen, gegen staatlichen Dirigismus gerichteten wirtschaftlichen Überzeugungen verband. Beinahe zeitgleich mit dem Lippmann-Kolloquium schrieb Baudin 1938 ein Vorwort für die französische Übersetzung von Lionel Robbins’ Buch Economic Planning and International Order, das Louis Rougier zufolge den Geist des »Neoliberalismus« prägnant zum Ausdruck brachte. Auch Baudin sah in Robbins’ Buch den Ausdruck eines »erneuerten Liberalismus«.

In seinen eigenen Büchern sprach sich Baudin außerdem für liberale Positionen in der Währungspolitik aus, hob kritisch die Gefahren einer Hyperinflation hervor und plädierte für eine Rückkehr zum Goldstandard.12 Unter dem Vichy-Regime, das den Korporatismus zum Modell seiner Gesellschaftsordnung erklärte, schrieb Baudin ein Vorwort für La doctrine corporative von Maurice Bouvier-Ajam, das Zeugnis ablegte vom komplexen Wesen seines Liberalismus. Eine der Merkwürdigkeiten in seinen Anschauungen ist Baudins lange anhaltende Bewunderung für den autoritären portugiesischen Staatschef António de Oliveira Salazar, von dem er in seinem Werk L’aube d’un nouveau libéralisme (1953) behauptete, er verkörpere in ökonomischen Fragen genau jene »neoliberalen« Ideen, für die er, Baudin, auch eintrete. Nach dem Krieg wurde Baudin in die Pariser Académie des sciences morales et politiques gewählt. Auch spielte Baudin, der mit Wilhelm Röpke korrespondierte, als einer ihrer Vizepräsidenten eine bedeutende Rolle in der Mont Pèlerin Society, selbst wenn er, anders als Jacques Rueff und Bertrand de Jouvenel, nicht zu ihrer Eröffnungssitzung im Jahr 1947 eingeladen wurde und anfänglich mit dieser...

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