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E-Book

Der Kampf um die Würde

Was wir vom wahren Leben lernen können

AutorMichael Steinbrecher
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783451815676
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis16,99 EUR
'Die Würde des Menschen ist unantastbar.' So steht es schon im Grundgesetz. Das klingt absolut und unverrückbar. Aber ist es das? Michael Steinbrecher erzählt in diesem Buch die Geschichten von Menschen, die den Kampf um ihre Würde nicht aufgeben. Ein aufrüttelndes und zutiefst politisches Buch, das zeigt, wie zerrissen unsere Gesellschaft wirklich ist und was man vom wahren Leben lernen kann. Seit fast fünf Jahren ist Michael Steinbrecher Gastgeber der renommierten SWR-Talkshow 'Nachtcafé'. Woche für Woche kommt er hier mit scheinbar ganz normalen Menschen ins Gespräch, denen er den Raum gibt, über das eigene Leben zu erzählen, von Schicksalsschlägen zu berichten, von zerplatzten Träumen und Hoffnungen. Und immer wieder stellt sich die Frage nach einem würdevollen Leben. Da ist die alleinerziehende Frau mit vier Kindern, an Krebs erkrankt, die dennoch weiterkämpft; oder der Musikmanager, der in den beruflichen Abgrund stürzt und dort sein soziales Engagement entdeckt; oder die Rentnerin, die aus der Wohnung geworfen wird, in der sie ihr ganzes Leben lebte. Steinbrecher begegnet Menschen, die in Armut aufwachsen müssen, die ihre Arbeit verlieren und denen ihr Recht auf Wohnung verweigert wird. Menschen, die vergeblich versuchen, in Würde zu altern und die um einen würdevollen Tod kämpfen - Lebensstationen, die wir alle erleben können. Steinbrecher kommt zu dem Ergebnis: Der Kampf um die eigene Würde ist längst kein Randphänomen mehr, er ist in der Mitte unserer Gesellschaft angelangt. Doch was sind die Gründe dafür, dass jeder von uns befürchten muss, in eine würdelose Situation zu geraten? Was ist los mit unserer Gesellschaft, deren Basis doch eigentlich die Würde des Menschen ist? Diese Fragen stehen im Zentrum von Michael Steinbrechers ebenso klugen wie bewegenden Buchs. Er ist überzeugt: 'Wenn wir beginnen, unwürdige Zustände eines gewissen Prozentsatzes unserer Gesellschaft als hinnehmbare Begleiterscheinung einer Wohlstandsgesellschaft zu sehen, in der es den meisten doch gut geht, hat sie ihre innere Integrität verloren.' Der Autor spendet sämtliche Erlöse an die Kinderhilfsaktion Herzenssache.

Michael Steinbrecher ist TV-Journalist und seit 2009 Professor für Fernseh- und Crossmedialen Journalismus an der TU Dortmund. Er wurde mehrfach ausgezeichnet, etwa mit dem Grimme-Preis, dem CIVIS-Preis und als Sachbuchautor 2015 mit dem getAbstract International Book Award. Seit Januar 2015 ist er der Gastgeber der Talkshow Nachtcafé im SWR Fernsehen.

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Leseprobe

»Die Würde des Menschen ist unantastbar.«

(Grundgesetz, Artikel 1)

Der Kampf um die Würde – ­
Einleitung


Es ist der erste Satz. Das zeigt die Bedeutung. »Die Würde des Menschen ist unantastbar.« So steht es im Grundgesetz. Das klingt absolut und unverrückbar. Aber ist es das? In welchen Lebenssituationen steht unsere Würde auf dem Spiel?

Empörung bricht 2019 über den SPD-Politiker Kevin Kühnert herein, als er laut darüber nachdenkt, große Unternehmen wie BMW zu kollektivieren.1 Je deutlicher wird, was er meint und dass er damit vor allem die sozialen Ungerechtigkeiten in dieser Gesellschaft adressiert, desto mehr weitet sich die Diskussion aus. Ist unsere Gesellschaft noch im Kern gerecht? Sind wir mit den alten politischen Denkschablonen noch in der Lage, die neuen Herausforderungen zu meistern? Neben aller Kritik, auch aus der eigenen Partei, erhält Kühnert generationenübergreifend auch viel Zuspruch. Wer gehört zu den Verlierern in unserer Gesellschaft? Ist sie nicht zerrissener als noch vor einigen Jahrzehnten?

Es dauert nicht lange, bis kurz vor der Europawahl 2019 ein knapp 55-minütiges »Zerstörungs-Video« des YouTubers Rezo das nächste politische Beben auslöst.2 Er kritisiert darin vor allem – aber nicht nur – die Politik der CDU/CSU und ruft dazu auf, sie nicht mehr zu wählen. Empörung auf der einen, Beifall auf der anderen Seite. Das Schlimmste jedoch ist das demonstrative Desinteresse wichtiger Politikerinnen und Politiker, denn damit bestätigen sie Rezos These, dass die sehr ernsthaft vertretenen politischen Positionen junger Menschen von den »Etablierten« nicht ernst genommen werden. Diskutiert wurde zunächst leider mehr über den Stil des Videos, über den Aufruf, eine Partei (bzw. mehrere Parteien) nicht zu wählen. Aber haben sich deshalb so viele Millionen das Video angeschaut? Sicher nicht. Populär wurde es, weil es thematisch den Nerv einer Generation getroffen hat. Rezo beginnt in seinem Video mit einer ausführlichen Abrechnung mit der sozialen Ungleichheit in Deutschland. Die Schere zwischen Reich und Arm wird immer größer. Sie geht so grotesk auseinander, dass es den sozialen Frieden stört. Haben Sie vernommen, dass darüber im Anschluss diskutiert wurde? Welche Ungerechtigkeiten meint Kühnert, wenn er von einer Fehlentwicklung in der Gesellschaft spricht? Wo ist die Einkommensschere in der Gesellschaft, die Rezo anprangert, am deutlichsten zu spüren? Wo ist unsere Würde in Gefahr?

Wenn Risse sichtbar werden


Im Nachtcafé kommen pro Jahr in vierzig Sendungen rund 250 Menschen zu Wort. Nicht im Vorbeigehen, nicht gehetzt, sondern mit neunzig Minuten Zeit für ein Thema. Sie kommen zu uns und berichten über ihr Leben. Bei uns sind nicht in erster Linie Prominente zu Gast, sondern Menschen, bei denen aus ihren täglichen Erfahrungen heraus ein Mitteilungsbedürfnis entstanden ist. Immer wieder sprechen wir über Themen wie Chancengleichheit, Armut, Wohnungsnot und die Pflegekrise. Wir sprechen über die Angst vor dem beruflichen Abstieg und darüber, was passiert, wenn sich Menschen sozial im freien Fall befinden. Aber auch darüber, welche Werte ihr Leben bestimmen, was sie als gerecht und ungerecht empfinden und mit welchem Kompass sie durchs Leben gehen. Wie wollen sie leben, wie wollen sie sterben? Mit vielen unserer Gäste habe ich für dieses Buch noch einmal Kontakt aufgenommen. Es geht um die Gesichter zu einer Diskussion, die aktuell mit Recht geführt wird. Und es geht darum, davon Notiz zu nehmen, dass es Menschen in dieser Gesellschaft gibt, die täglich um ihre Würde kämpfen.

Darüber, dass es so ist, gibt es keinen Konsens. Es gibt einen marktradikalen Flügel dieser Gesellschaft, von dem in Diskussionen beinahe geleugnet wird, dass Menschen existieren, die in dieser Gesellschaft unter unwürdigen Verhältnissen leben und die unsere Solidarität dringend brauchen. Und es gibt Politikerinnen und Politiker, die alle Errungenschaften dieses Staates infrage stellen und populistisch nach anderen Gesellschaftsformen rufen. In diesem Buch geht es nicht um Parteipolitik, nicht um Flügelkämpfe. Es geht darum, dass wir nicht nur über die reden sollten, die Politik betrifft, sondern mit ihnen. In einer Medienlandschaft, in der prominente Köpfe mit griffigen, kurzen und vereinfachten Botschaften die größte Aufmerksamkeit erzielen, sollten wir uns ganz bewusst Zeit nehmen für die Menschen und ihre Erfahrungen. Nicht nur sehen, wie es ihnen aktuell geht, sondern uns auch fragen, wie sie in diese Situation gekommen sind.

Rede ich dabei nur von einigen wenigen Menschen am sogenannten »Rand« unserer Gesellschaft? Eben nicht. Wenn ich darüber rede, dass »unsere« Würde in Gefahr ist, so ist dies ganz bewusst geschehen. Denn es geht um Situationen, die den meisten von uns im Laufe unseres Lebens begegnen können. Im Krankenhaus, im Pflegeheim, auf dem Wohnungsmarkt. Nach einer falschen beruflichen Entscheidung. Oder völlig fremdbestimmt. Plötzlich gerät unser Leben aus dem Gleichgewicht. Das, was vorher selbstverständlich war, gilt nun nicht mehr.

Reise durch ein Leben


Während eines langen Lebens können wir öfter in solche Situationen geraten. Deshalb reisen wir in diesem Buch zusammen durch ein Leben. Nicht durch das eines bestimmten Menschen, sondern durch »unser« Leben mit all seinen Themen. Kindheit, Elternhaus, Familiengründung, Beruf, Wohnungssuche, Krankheit, Pflege im Alter. Bis hin zur Würde auf den letzten Metern.

Würde ist kein einfacher Begriff. Er hat viele Dimensionen. Wir werden um sie kreisen, um ihnen Station für Station näher zu kommen. Zum Beispiel, wenn es um eine Frau geht, die ihr Leben lang gearbeitet hat. Und die heute Flaschen sammelt. Tag für Tag inspiziert sie Mülleimer und hält nach etwas Verwertbarem Ausschau. Es werden mit den anderen Sammlern Reviere abgesteckt. Wer darf in ihrem Viertel welche Mülleimer leeren? Und doch steht die Situation dieser Frau, die um ihre Würde ringt, für die Angst vieler Menschen. Über Jahrzehnte sah es nicht so aus, als ob sie einmal in diese Lage kommen könnte. Aber heute ist genau das ihr Leben.

Während wir durch ein Leben reisen, werde ich mir mit Ihnen gemeinsam Gedanken darüber machen, warum wir uns nicht mehr sicher sein können, nicht auch in eine würdelose Situation zu geraten. Ich bin kein Ökonom und kein Politiker, ich habe keine Lösung für das Thema soziale Ungleichheit. Aber es gibt auch als Beobachter dieser Gesellschaft genug Anhaltspunkte dafür, dass etwas schiefläuft. Viele Menschen haben immer weniger Vertrauen in Institutionen. Weil sie nicht mehr daran glauben, dass der Bankangestellte, der Versicherungsberater, selbst die behandelnde Ärztin unser Bestes wollen. Geht es nicht berufsübergreifend vor allem darum, dass die nächsten Quartals- und Jahreszahlen stimmen müssen? Kann so noch eine aufrichtige Bindung zu Kunden und Patienten aufgebaut werden? Eine rhetorische Frage, zugegeben.

Die Reise durch ein Leben ist immer wieder und ganz bewusst subjektiv. Dieses Buch ist ein Kommentar zu den Bruchlinien einer zerrissenen Gesellschaft und bemüht sich nicht in jeder Passage um so etwas wie »Ausgewogenheit«. Wir hören vor allem diejenigen, die sonst häufig nicht gehört werden. Die Jugendlichen, die mit schlechten Startmöglichkeiten um eine Chance im Leben kämpfen. Die Familien, die trotz großer Bemühungen keine angemessene Wohnung finden. Die Arbeiter, die körperlich nicht mehr können oder plötzlich nicht mehr gebraucht werden. Die älteren Menschen, die so wenig zum Leben haben, dass sie vereinsamen oder mit 75 noch Taxi fahren, um sich etwas Teilhabe am Leben leisten zu können. Wir sind in den Pflegeheimen und erfahren von Angehörigen, Pflegenden und Betroffenen, welche unwürdigen Auswirkungen es hat, wenn zu wenige Pflegekräfte für viel zu viele Patienten zuständig sind. Und wir sind bei denjenigen, die am Ende ihres Lebens um ein würdiges Abschiednehmen kämpfen. Wir hören nicht im gleichen Maße Politikerinnen und Politiker, die zu diesen Themen Stellung nehmen. Sie haben viele Foren, um sich und ihre Positionen zu vertreten. Das Gleiche gilt für Unternehmer und Funktionäre von Wohnungsbaugesellschaften und Pflegeheimen.

Ausführlich zu Wort kommen allerdings Wissenschaftler, die sich mit den jeweiligen Fachgebieten intensiv beschäftigen. Wir ergänzen sie mit Zahlen und Hintergründen, die zeigen, dass es sich bei den Menschen in diesem Buch keineswegs um Einzelfälle handelt. Vor allem aber geht es darum, den Zahlen, die eine zerrissene Gesellschaft dokumentieren, aber häufig abstrakt bleiben, auch Gesichter zu geben.

Es ist nicht alles schlecht in dieser Gesellschaft, nun wirklich nicht. Aber es gibt Ungerechtigkeiten, es gibt Verlierer. Und es gibt Ängste in der Mitte der Gesellschaft, bald ebenfalls zu den Verlierern zu gehören. Damit keine Missverständnisse entstehen: Ja, in diesem Buch werden Missstände angeklagt. Aber nicht mit der Absicht, eine Empörungskultur zu schüren und pauschal gegen »die Politiker«, »das System«, »die Justiz«, »die Unternehmer« oder »die Presse« zu agitieren. Die Diskussion von Ungerechtigkeiten und Missständen dürfen wir nicht denen überlassen, die gar nicht diskutieren wollen. Denn immer noch – und erst recht in diesen digitalen Zeiten – geht es darum, wie wir miteinander umgehen. Wie wir über Themen und andere Menschen sprechen. Und ob wir uns vor allem quotenträchtig in den Skandalisierungs-Hype begeben wollen.

Was heißt »zerrissen«?


Die Risse in unserer Gesellschaft werden auf unterschiedlichen...

Blick ins Buch

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