PROLOG IN MAINZ UND FRANKFURT
Als ich am 10. November 2013 das Rhein-Main-Derby Mainz 05 gegen Eintracht Frankfurt in Mainz besuchte, fiel mir in der Pause ein kleiner Zeppelin mit dem typischen Schriftzug der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, der FAZ, auf. Als Eintracht-Fan spöttelte ich, ob sich die FAZ nicht in der Zielgruppe vertan habe. Beim zweiten Hinschauen sah ich aber, dass nicht Frankfurter Allgemeine das kleine Luftschiff zierte, sondern Allgemeine Zeitung. Das Schriftbild war verblüffend ähnlich. Beide Zeitungen mussten etwas miteinander zu tun haben. So führte mich eine Alltagsbeobachtung zur Geschichte. In der Tat gab es einen Zusammenhang, denn hier in Mainz, bei der Allgemeinen Zeitung, hatte die FAZ ihren Anfang genommen, und hier hatte zunächst ein Teil der Redaktion residiert. Die Wurzeln reichten aber viel weiter zurück zur berühmten Frankfurter Zeitung (FZ), die, noch vor Gründung des deutschen Kaiserreichs, 1856 ins Leben gerufen worden war.
So gelangt man also zu der langen Vorgeschichte der FAZ, und auch ihre siebzigjährige Geschichte selbst ist kompliziert, facettenreich und angesichts von mittlerweile weit über sechs Millionen Artikeln1 und Tausenden von Redakteuren und Mitarbeitern schier unüberschaubar und daher nur begrenzt fassbar. Eine Totalgeschichte ist schon angesichts der Fülle an Material und unzähliger möglicher Perspektiven auch rein theoretisch sinnlos. Zudem wäre sie wohl auch ziemlich langweilig. Es werden also Kenner der FAZ in diesem Buch einiges vermissen, Namen, die für sie wichtig sind, und Artikel, an die sie sich erinnern. Jeder liest letztlich eine andere Zeitung, die allerwenigsten lesen sie Tag für Tag vollständig, und auch dann haben sie unterschiedliche Perspektiven, Rezeptionsmuster und Erinnerungen.
Es geht hier also um Ausschnitte aus der Geschichte der Zeitung, um die Bildung von Schwerpunkten. Diese Schwerpunkte ergaben sich aus drei Fragekomplexen:
Erstens: Woran erinnerten sich die Zeitzeugen besonders und übereinstimmend? Das Gedächtnis trügt, und das Vergessen ist der Normalzustand unseres Gehirns. Frühere Erfahrungen werden durch später hinzugekommenes Wissen überlagert. Aber subjektiv für wichtig gehaltene Ereignisse, Strukturen und Prozesse werden immer wieder überdacht und erwähnt, und darauf kommt es bei der Frage nach der Relevanz an. Die so identifizierten Themen bedürfen dann der Erschließung anhand von Primärquellen aus der erforschten Zeit.
Zweitens: Was hat Niederschlag in unpublizierten Quellen unterschiedlicher Provenienz gefunden? Die vielen Briefe, die man im Geschäftsgang früher verfasste, die Vermerke und Protokolle von Redaktions- und Herausgebersitzungen, die zum ersten Mal überhaupt eingesehen werden konnten, sind nicht durch die Erinnerung getrübt. Sie sind gleichwohl quellenkritisch zu betrachten, bezeugen aber, was jeweils verhandelt und reflektiert wurde, was auf der Agenda der Zeitung stand.
Drittens: Wie und unter welchen Aspekten wurde die FAZ von außen wahrgenommen, in anderen Medien, in der Politik, in der Wirtschaft und im Kulturbetrieb? Denn für diese Funktionssysteme der Gesellschaft im Luhmann’schen Sinne bildete die FAZ ein Leitmedium, sie stellte diesen Systemen Informationen zur Verfügung und irritierte sie, wie sie ihrerseits von diesen Systemen irritiert wurde. Diese Resonanz ist für die Geschichte der Zeitung von großer Bedeutung und zeigt ihre Wirkung und ihre oft kritische Beobachtung.
Natürlich werden darüber hinaus die markanten politik-, wirtschafts- und kulturgeschichtlichen Ereignisse und Entwicklungen in den 70 Jahren seit Gründung der Zeitung 1949 und deren Beobachtung, Prägung und Kommentierung im Blatt in den Blick genommen. Es wird also eine Geschichte erzählt entlang der im oben skizzierten Sinn relevanten Stationen. Dass dabei die Vorlieben und Interessen des Autors mitspielen, der seit rund 35 Jahren zu den Lesern der Zeitung gehört, sei unumwunden zugegeben. Eine Chronik ist das vorliegende Werk also nicht, ebenso wenig eine Festschrift oder eine Auftragsarbeit. Der Autor stieß mit seinem Ansinnen bei der FAZ zunächst nicht auf offene Türen. Es ist schließlich ein deutsches Spezifikum, dass wichtige Medienhäuser in ihren eigenen Angelegenheiten sehr öffentlichkeitsscheu sind, erst recht in Bezug auf ihre eigene Geschichte. Dennoch habe ich nach vielen Anläufen als erster Wissenschaftler überhaupt Zugang zu den Archivalien der FAZ erhalten.2 Daneben haben mir viele FAZler mit Gesprächen und Auskünften geholfen, dieses Buch zu schreiben. Diejenigen, denen das Gebotene nicht reicht und die sich über einzelne Sujets weiter informieren möchten, seien auf die Arbeiten meiner Doktoranden zu den einzelnen Ressorts und zum Gründungsherausgeber Erich Welter verwiesen. Darüber hinaus dienen die vielen Nachweise zu FAZ-Artikeln nicht nur der Belegpflicht, dem wissenschaftlichen Prinzip der Nachprüfbarkeit, sondern sollen auch dazu anregen, sich mit verschütteten Autoren und Preziosen vertraut zu machen und unmittelbar in die jeweilige Zeit einzutauchen. Alle Artikel liegen digital und im Internet abrufbar vor, freilich kostenpflichtig. Das Gesamtarchiv hält darüber hinaus jede bessere Universitätsbibliothek in ihrem Netz vorrätig, ein unschätzbarer Fundus, der die Leser in immer neue Themen hineinzieht. Bei allen Einschränkungen: Der im Motto von Stadelmaier beklagten Erinnerungstilgung dürfte in jedem Fall entgegengewirkt werden.
VON DER FRANKFURTER ZEITUNG ZUR FRANKFURTER ALLGEMEINEN ZEITUNG
Die traditionsreiche Frankfurter Zeitung Leopold Sonnemanns war ein liberales Blatt unter Einschluss einiger sozialistischer und vieler jüdischer Journalisten. 1856 zunächst als Finanz- und Börsenzeitung gegründet, entwickelte sie sich in der »Eschenheimer Gaß« (Große Eschenheimer Straße) gegenüber dem Palais Thurn und Taxis während der 1920er Jahre zu einem Medium mit weithin beachteten Feuilletons. Zu ihren Mitarbeitern zählten Walter Benjamin, Rudolf Geck, Walter Dirks, Theodor Heuss, Siegfried Kracauer, Adolf Loos, Joseph Roth, Friedrich Sieburg und Max Weber. In der goldenen Ära des Feuilletons lieferten sie Glanzstücke »unter dem Strich«, wo die Feuilletons damals noch platziert waren, oder schrieben im Literaturteil aufsehenerregende Besprechungen. Nicht immer stießen diese Stücke oder Vorabdrucke moderner Romane wie Alfred Döblins »Berlin Alexanderplatz« auf das Wohlwollen der Leser, die bisweilen heftig protestierten.3
Die republiktreue Zeitung wurde damals kollegial von einer Redaktionskonferenz unter Vorsitz von Heinrich Simon geführt, eines Enkels von Sonnemann. Liberal, jüdisch, republiktreu – das machte die Lage prekär, nachdem Adolf Hitler am 30. Januar 1933 Kanzler geworden war. Anders als die noch deutliche ältere liberale »Tante Voss«, die 1934 unter ihrem Chefredakteur Erich Welter eingestellte Vossische Zeitung aus Berlin, wurde die FZ von den neuen Machthabern aber nicht verboten. Welter wechselte denn auch zur FZ und leitete dort den Handelsteil. Die Frankfurter Zeitung sollte nach dem Willen von Joseph Goebbels und seines Staatssekretärs Walther Funk sowie einiger dem liberalen Presseorgan wohlgesinnter Mitarbeiter im Reichspropagandaministerium als Feigenblatt des neuen Reiches im Ausland herhalten, wo die Zeitung die höchste Auflage aller deutschen Printmedien erreichte. Ein besonderer Fürsprecher der Zeitung war Rolf Rienhardt, Hauptamtsleiter im Presseamt der Reichsleitung der NSDAP und enger Mitarbeiter des Pressemultifunktionärs Max Amann.
1934 musste Simon, ein getaufter Jude, nach dem Schriftleitergesetz ausscheiden. Herausgeber wurde nun die Imprimatur GmbH, über die der Vorstandsvorsitzende der I.G. Farben, Carl Bosch, die in der Weltwirtschaftskrise ins Trudeln geratene Frankfurter Zeitung seit 1930 unterstützt hatte, was im Unternehmen wegen manch linker Sozialreportage wie Siegfried Kracauers »Die Angestellten« auf Kritik gestoßen war. Joseph Roth hatte da seine Mitarbeit bereits aufgekündigt, und Kracauer floh unmittelbar nach der Machtergreifung nach Frankreich. Dagegen konnten der »jüdische Mischling« Erich Lasswitz und die mit Jüdinnen verheirateten Wilhelm Hausenstein, Dolf Sternberger – der als Redakteur für Bildung und Hochschule 1934 überhaupt erst zur FZ gegangen war, weil er unter den Bedingungen des »Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums« nicht mehr Professor werden konnte – und Otto Suhr bis April 1943 weiter für die Zeitung arbeiten.
Eine Schlüsselrolle als Vorsitzender der Redaktionskonferenz nahm nun der Leiter des Politikressorts, Benno Reifenberg, ein. Dem Naturell nach war der kunstsinnige Reifenberg ein Feuilletonist. Von 1924 bis 1930 hatte er das Feuilleton der Zeitung geleitet. Wie viele seiner intellektuellen Zeitgenossen hat er die Nationalsozialisten zunächst...