Mit Blick auf die Speisekarte
Verrückte Normalität
»Immer mehr!«, wird uns von den Plakatwänden herab zugerufen, bei der Werbung für Hypotheken, für Autos, für Versicherungen. Immer mehr – es wird für uns ein Lebensplan entworfen, in dem es, wie selbstverständlich, immer aufwärts gehen soll. Easy investieren, das Auto gehört zum Leben, Fliegen sowieso, man muss überall gewesen sein – »been there, done that«. Auch im Kleinen sind die Versprechungen groß. Laufend neue Klamotten, das neueste Mobiltelefon, die schnellste Datenübertragung, bloß nicht abgehängt werden. Wenn Kinder kommen, braucht es einen SUV, ein Haus im Grünen, man steht dann im Stau. Doch jetzt, in Zeiten der Klimakrise, wird diese lange eingeübte Normalität brüchig.
Am Anfang war das Steak.
Es lag dann aber nicht auf meinem Teller, so, wie ich mir das gewünscht hatte, und daran war Anja schuld. Anja, die alles sehr genau liest, auch eine Speisekarte, und die beiläufig gesagt hatte, es sei schon seltsam. Seltsam, dass bei den Speisen in den allermeisten Restaurants nach den Vorspeisen zuerst die Fleischgerichte, manchmal auch der Fisch aufgeführt sei, aber erst an dritter Stelle »Vegetarisches«. Diese Abfolge auf der Speisekarte in vielen Restaurants, meinte Anja, sei Ausdruck einer bestimmten Normalität, die selbstverständlich davon ausgehe, dass pflanzliche Ernährung zuletzt kommt, als das Außergewöhnliche.
»Fleisch ist wie das Auto: Die Mehrheit hat eins, aber eigentlich ist es untragbar, und das Steak, das du bestellen willst, ist wie ein SUV – zu groß, zu schwer, zu belastend.«
Anja, muss man wissen, ist die gewissenhafteste Person, die ich kenne. Sie produziert praktisch keinen Abfall, fährt niemals Auto, ist Vegetarierin. Anja kennt auch die ökologischen Kennzahlen zu Produkten, zu Dienstleistungen, und so bereitete sie mich auch an jenem Abend im Restaurant auf ein Zahlengewitter vor.
»Willst du es wirklich wissen?«
»Heraus damit.«
»In Sachen CO2 variieren die Zahlen stark, aber du kannst davon ausgehen, dass in einem Kilo Steak zwischen 13 und 36 Kilogramm CO2 stecken, je nach Herkunft, je nach Transportart. Dazu kommt die benutzte Landfläche, allein rund 40 Quadratmeter für dieses eine Kilo, und sagenhafte 15’000 Liter Wasser.«
»Du vergisst die Futtermittel, und dass der Regenwald abgeholzt wird, um Soja für Rinder anzubauen.«
»Richtig.«
Ich bestellte Linsen an Balsamico, und Anja entschied sich für ein Tofugericht, und wir verbrachten einen Teil des Abends damit, uns über Zahlen zu unterhalten, Zahlen zu dem, was wir unserem Planeten so zumuten. Fast alles ist bekannt, errechnet, vom Intergovernmental Panel on Climate Change (IPCC), von staatlichen Umweltagenturen, von Versicherungsgesellschaften, von statistischen Büros, von der Internationalen Energieagentur. Es gibt keine Ungewissheit, die Biodiversität schwindet rapide, die Gletscher schmelzen schneller, als die pessimistischen Prognosen der Glaziologen errechnet haben, der Meeresspiegel steigt, die Dürren nehmen zu, die Schweiz ist mit zwei Grad Erwärmung bereits in der Klimakrise gelandet. Und der »Earth Overshoot Day«, der Tag, an dem die Menschheit alle zur Verfügung stehenden Ressourcen für ein Jahr eigentlich aufgebraucht hat, rückt im Kalender immer weiter nach vorne, er fand für die Schweiz 2019 bereits am 7. Mai statt, für Deutschland sogar vier Tage früher; seit diesem Datum verbrauchen wir die Ressourcen einer zweiten Erde, bis Ende des Jahres werden es drei Erden sein. Letztmals, das wusste Anja, war das Verhältnis zwischen global zur Verfügung stehenden Ressourcen und dem jährlichen Verbrauch im Jahr 1971 ausgeglichen. Von da an lief die Bilanz aus dem Ruder.
Irgendwann einmal zückte ich mein kleines schwarzes Ding, und wir schauten uns die Kurve der Konzentration an CO2 in der Atmosphäre an, die das Mauna Loa Obervatory auf Hawaii monatlich nachführt. Die Kurve stand bei knapp 415 Teilchen pro Million Lufteinheiten – noch nie in der Menschheitsgeschichte und zuvor war die Atmosphäre so gesättigt mit Treibhausgasen.
Anja sagte:
»Die Zeit der Mutmaßungen ist vorbei, die Zeit, als man sich noch fragte, kommt die Katastrophe oder kommt sie nicht. Heute wissen wir, dass sie kommt.
Und doch machen alle weiter, als wäre da nichts. Noch immer werden Pipelines verlegt, es wird in Ölfirmen investiert, es werden Kohlekraftwerke gebaut, als gäbe es kein Morgen. Die verkauften Autos werden größer, die Flugreisen billiger, der Onlinehandel boomt. Man bohrt nach Öl im Mittelmeer, man sucht Gas unter der Arktis, man fördert Schieferöl in Kanada, als sei nicht längst klar, dass ab sofort kein bisschen mehr CO2 in die Atmosphäre gelangen sollte.«
»Die Macht der Gewohnheit?«
»Oder ganz einfach Normalität?«
Normalität oder Normalisierung ist, wie der französische Philosoph Michel Foucault in vielen seiner Schriften erarbeitet hat, ein komplexer Vorgang, bei dem Menschen durch das Mittel der Sprache und durch die Macht von Institutionen zu einer bestimmten Lebensart »diszipliniert« werden. Diese Art von Disziplinierung findet in vielfältigen Diskursen statt, sie geht sowohl von der Werbung, von der Schule, von wissenschaftlichen Institutionen, aber auch von den Erzählungen aus, die die Produkte unserer Überflussgesellschaft umgeben. Normalisierung, darauf hat Michel Foucault hingewiesen, wird bestärkt und bestätigt durch die Praxis der Menschen, die wiederum die Macht dieser Normalitätsvorstellungen nachvollziehen und festigen; und Normalisierung zielt immer auf eine Grenzziehung hinaus: Diejenigen, die innerhalb der Norm sind, werden belohnt, die anderen, die außerhalb stehen, geraten unter Rechtfertigungsdruck.
Normalisierung oder Normalität sind, darauf hat die amerikanische Autorin Elisabeth C. Britt hingewiesen, die Produkte der Industrialisierung, der Standardisierung, der Messbarkeit. Sie sind »die Sprache des Ingenieurs«, die sich über die nunmehr zwei Jahrhunderte Industrialisierung herausgebildet hat, um sich darüber zu verständigen, welche Vorstellungen von Zukunft für alle begehrenswert sein könnten. Die Statistik wiederum lieferte die Daten und Vergleichsmöglichkeiten für eine Moderne, die zwar eine Pluralität von Lebensvorstellungen zuließ, in ihrem Kern aber imprägniert war und ist von Leistung, Fortschritt, Wachstum. Dass darin Spielarten abweichenden Verhaltens, auch dissidente Positionen bis hin zur fundamentalen Opposition vorkommen, ist kein Widerspruch; denn die Macht der Diskurse erstreckt sich, wenn sie denn ihren Namen verdienen wollen, auch über abwegige, nicht konforme Haltungen. Sie werden ins große Dispositiv der Normalität integriert, indem sie für »normal« erklärt (»Es ist normal, dass die Jugend rebelliert, sie hat das schon immer getan, jetzt gehen halt die Klimajugendlichen auf die Straße«) oder aber indem sie diskreditiert werden (»Die Jugendlichen, die sich fürs Klima einsetzen, haben keine Ahnung, man muss das den Experten überlassen«).
Die Normalität, in der wir leben und die sich täglich fortsetzt, durch unsere Kaufentscheide, durch die Reisepläne, die wir schmieden, durch unsere Essgewohnheiten, sie ist das Produkt eines gelernten, eingeübten, bisher auch durchaus erfolgreichen historischen Prozesses, der mit der Industrialisierung und mit dem Verbrennen von Kohle begann. Die Kohle war der Treibstoff der Industrialisierung, sie war das Substrat, auf dem sich eine zunächst schmale, aber mächtige Schicht der Bevölkerung ihren Reichtum aufbauen konnte (die andere Grundlage war die systematische Ausbeutung der Sklaven gewesen, und auch die industrielle Ausbeutung der Arbeiterinnen und Arbeiter). Sie ermöglichte ein paar Wenigen damals schon, ein Leben ausschweifenden Verbrauchs zu führen; allein aus Gründen der damals real verfügbaren Ressourcen wäre diese Unverhältnismäßigkeit nicht verallgemeinerbar gewesen. Dennoch ist im Laufe der Geschichte – in einem »industriellen Fatalismus«, wie Ulrich Beck die Geschichte der Industrialisierung bezeichnet – praktisch genau das passiert, das bourgeoise Leitmotiv (mitsamt der Figur der Kleinfamilie) hat sich auf die Schicht der Kleinbürger, später auch der Angestellten, schließlich der Arbeiterinnen und Arbeiter übertragen; im sogenannten »Wirtschaftswunder« nach dem Zweiten Weltkrieg erlebte die Norm von Fortschritt, Wachstum, Glück ihre reale Bestätigung. Was dem einen sein Buick, war dem anderen sein Volkswagen Käfer, und Staubsauger und Waschmaschine, das Steak auf dem Teller, die Bananen im Supermarkt und der Atomstrom aus der Steckdose waren nur einige jener wirkungsmächtigen Ikonen einer neu angebrochenen, scheinbar unerschöpflichen Modernität.
Darin sind wir gefangen, bis...