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Der wilde Sozialismus

Selbstorganisation und direkte Demokratie in den Kämpfen von 1789 bis heute

AutorCharles Reeve
VerlagEdition Nautilus
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl336 Seiten
ISBN9783960542117
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis23,99 EUR
Prinzipien der direkten Demokratie und der kollektiven Selbstverwaltung ziehen sich durch alle revolutionären Epochen, von der Französischen Revolution über den Mai 1968 bis zur Besetzung der ZAD heute. Charles Reeve zeigt die revolutionären Phasen der sozialistischen Bewegung aus der Perspektive häretischer Sozialismuskonzeptionen, jener Strömungen, die die offiziellen und offiziösen Geschichtsschreibungen als 'extreme Überschreitungen' bezeichnen: die 'Enragés' während der Französischen Revolution, den Kampf der Sowjets in der russischen Revolution, die sich die Macht über die Neugestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft nicht nehmen lassen wollten. Die Selbstregierung der Räte und die Versuche einer Sozialisierung der Ökonomie in der Deutschen Revolution von 1918 bis 1920. Die Verwirklichung anarchistischer Kollektive in der Spanischen Revolution sowie die Praktiken der autonomen Selbstorganisation im wilden Generalstreik des Mai 1968 und während der Portugiesischen Revolution von 1973-1975, die Gelbwesten heute. Die Anfänge der Zukunft gehen immer mit den letzten Kraftanstrengungen einer aus den Fugen geratenen Vergangenheit einher. 'In diesem aufklärerischen und ausgesprochen gut dokumentierten Essay lässt Charles Reeve die großen Momente der sozialistischen Bewegung der letzten 200 Jahre Revue passieren.' Le Monde diplomatique

Charles Reeve, geboren 1945 in Lissabon, lebt seit seiner Desertion aus der portugiesischen Kolonialarmee 1967 als Aktivist und Schriftsteller in Paris. Auf Deutsch erschien von ihm zuletzt 'Die Hölle auf Erden. Bürokratie, Zwangsarbeit und Business in China' (mit Xi Xuanwu, Edition Nautilus 2000).

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Leseprobe

KAPITEL 2


DIE PARISER KOMMUNE (1871)


DIE GRENZEN EINER PRAXIS DER »REINEN DEMOKRATIE«


FALLSTRICKE DES GEGENSATZES VON ZENTRALISMUS UND FÖDERALISMUS


Der Widerspruch zwischen zentralistischen und föderalistischen Vorstellungen von Politik und Gesellschaft war älter als die Französische Revolution und die Konzeption der Jakobiner. Bereits die Aristokratie hatte in ihrem Kampf gegen den Feudalismus auch eine autoritär-zentralistische Strömung umfasst. Von der Französischen Revolution bis ins frühe 20. Jahrhundert setzte sich das jakobinische Modell dann in der bürgerlichen Politik durch und prägte mehr oder minder deutlich auch sozialistische Strömungen, angefangen bei bestimmten Utopisten über die Anhänger Blanquis bis zu marxistischen Bewegungen. Das zentralistische Staatsmodell und die Ablehnung von Föderalismus verbanden sich zudem mit dem parlamentarisch-repräsentativen System. Permanente Abtretung von Souveränität versus direkte Demokratie, Staat versus Selbstregierung, Zentralismus versus Föderalismus – all dies waren in den Debatten der sozialistischen Bewegung zentrale Themen.

Dabei vertrat Proudhon dezentrale Konzeptionen von Wirtschaft und politischer Organisation, die dem jakobinischen Zentralismus zuwiderliefen: Dem vom Zentralstaat oktroyierten »Gesellschaftsvertrag« hielt er ein föderalistisches Modell entgegen. Jakobinisch geprägte Strömungen setzten dies häufig mit einer Rückkehr in die Vergangenheit gleich – eine einseitige, irreführende Behauptung, denn der föderalistische Gedanke ermöglichte es Proudhon zugleich, eine neue Form der Ausbeutung zu kritisieren. Im Gegensatz zwischen Staatseinheit und Föderalismus erkannten Denker wie Proudhon und Edgar Quinet, dass die Revolution »als Kampf um die Zerstörung des alten Zwanges und die Verwirklichung einer neuen Freiheit mit unvermeidlicher geschichtlicher Notwendigkeit zugleich einen neuen Zwang und eine neue Unfreiheit in sich selbst hervorbringt«.1

Der Dissens zwischen Marx und Proudhon betraf vor allem wirtschaftliche Fragen. Verstärkt wurde er durch die politischen Positionen, die der französische Philosoph nach 1848 vertrat, sowie durch die unklare Haltung seiner Anhänger zur Regierung von Napoléon III. Marx befasste sich während seiner aktiven Zeit in Deutschland, im Jahr 1848 sowie ab 1864 in der Ersten Internationale nur sehr wenig mit der Frage von Zentralismus und Föderalismus an sich. Für Proudhon ergab sich das Konzept eines föderal-dezentralisierten politischen Aufbaus aus seinem ökonomischen Entwurf einer Gesellschaft, die er sich als Assoziation von Privatproduzenten vorstellte. Was Marx mit ihm teilte, war ein »Widerwille gegen die sozialistische Gefühlsduselei« und die Ablehnung utopischer Sozialisten.2 Aber Marx hatte ein Verständnis von politischer Macht, das dem einheitlich-zentralistischen Staat die Schlüsselrolle bei der Veränderung der Gesellschaft und der Abschaffung der Ausbeutung zuwies, und er kritisierte Proudhons Projekt als einen Versuch, »den Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit« einzuebnen; darauf ziele sein »ganzes Banksystem, sein ganzer Produktentausch«.3 Für Marx stand dies einem Bruch mit dem System der kapitalistischen Ausbeutung entgegen, aus dem die soziale Emanzipation hervorgehen sollte.

Dann brach die Pariser Kommune von 1871 brüsk in die Debatte ein: Indem sie als historisches Ereignis dazu nötigte, zum Problem der politischen Macht neu Stellung zu beziehen, wurde sie bestimmend für die Zukunft sozialistischer Ideen und für die Spaltung zwischen den beiden Strömungen. Die Frage der Repräsentation und des Ausdrucks der Volkssouveränität stellte sich nun in einer zugespitzten Weise und deutlicher in einer Klassenperspektive, denn mit der Entfaltung des Kapitalismus war der Konflikt zwischen der Klasse der Produzenten und der Bourgeoisie mittlerweile ins Zentrum des gesellschaftlichen Lebens gerückt.

Proklamiert wurde die Kommune auf Beschluss des Zentralkomitees der Nationalgarde, in dem sich die Komitees oder Räte der einzelnen Bataillone zusammengeschlossen hatten. Die Abgeordneten der Kommune wiederum entstammten unterschiedlichsten Richtungen; Anhänger von Blanqui und Fourier fanden sich ebenso in ihren Reihen wie aktive Mitglieder der protogewerkschaftlichen Chambres syndicales. Mehrheitlich waren sie eher Zentralisten als Föderalisten und vertraten eine jakobinische Konzeption. Da außerdem ein kollektivistischer Geist vorherrschte, wendeten sich manche Kommunarden wie etwa Eugène Varlin klar gegen Proudhon. Je nach der Situation waren ihre Ideen näher an denen von Marx oder von Bakunin angesiedelt, ohne dass man sie deshalb schlicht als Untergebene der beiden Köpfe der Internationalen Arbeiter-Assoziation betrachten könnte. Es wäre grundsätzlich falsch zu meinen, die damaligen Strömungen hätten so funktioniert wie die später entstehenden Arbeiterparteien.

Während die Proudhonisten in der politischen Praxis der Kommune einen Einfluss föderalistisch-antizentralistischer Prinzipien erkennen wollten, musste Marx einige seiner Auffassungen nun überdenken. In der »Adresse des Generalrats der Internationalen Arbeiter-Assoziation«, besser bekannt als Der Bürgerkrieg in Frankreich, definierte er die Kommune als »wesentlich eine Regierung der Arbeiterklasse«, als »das Resultat des Kampfs der hervorbringenden gegen die aneignende Klasse, die endlich entdeckte politische Form, unter der die ökonomische Befreiung der Arbeit sich vollziehen konnte«. Diese neuartige, besondere politische Form war für Marx ihr »wahres Geheimnis«.4 In der Formulierung »endlich entdeckt« lässt sich zwischen den Zeilen das Eingeständnis herauslesen, dass es die wirkliche Bewegung war, die ihn dazu brachte, eine solche Regierungsform anzuerkennen und so seine bisherigen politischen Vorstellungen zu revidieren.

DAS NEGATIVE UND DAS POSITIVE ELEMENT


Wie häufig hervorgehoben worden ist, arbeitete Marx eher die allgemeinen Züge und neuen Regierungsprinzipien der Kommune heraus, als dass er ihre konkrete Funktionsweise und Realität im Einzelnen untersucht hätte; der Blick auf die großen Tendenzen und Prinzipien einer Bewegung entsprach eher seiner Methode der Analyse. Aber auch mit der Tatsache, dass die Ideen der Kommunarden aus unterschiedlichen Quellen – darunter Proudhon und Bakunin – geschöpft waren, hielt Marx sich nicht lange auf und versuchte sogar, die föderalistischen Tendenzen der Kommune mit seiner eigenen Vorstellung des revolutionären Staats zu versöhnen. Was er in den Vordergrund rückte, war das negative Element der Kommune: die Zerstörung des bürgerlichen Staates. In seinen noch während der Ereignisse angefertigten Notizen, aus denen Der Bürgerkrieg in Frankreich hervorging, schrieb er deutlich: »Daher war die Kommune nicht eine Revolution gegen diese oder jene […] Form der Staatsmacht. Die Kommune war eine Revolution gegen den Staat selbst, gegen diese übernatürliche Fehlgeburt der Gesellschaft; sie war eine Rücknahme des eignen gesellschaftlichen Lebens des Volkes durch das Volk und für das Volk. Sie war nicht eine Revolution, um die Staatsmacht von einer Fraktion der herrschenden Klassen an die andere zu übertragen, sondern eine Revolution, um diese abscheuliche Maschine der Klassenherrschaft selbst zu zerbrechen.«5 Sechzig Jahre später betonte der kritische Marxist Karl Korsch, dass Marx gerade damit aber das positive, konstruktive Element der Kommune in den Hintergrund gedrängt habe: ihren föderativen, anti-zentralistischen Charakter.6

Bereits 1850, zwanzig Jahre vor der Kommune, hatte Marx in der »Ansprache der Zentralbehörde an den Bund der Kommunisten« den Gedanken einer Repräsentation vertreten, die eher einer direkten Ausübung von Souveränität entsprach: Die Arbeiter sollten »neben den neuen offiziellen Regierungen zugleich eigene revolutionäre Arbeiterregierungen, sei es in der Form von Gemeindevorständen, Gemeinderäten, sei es durch Arbeiterklubs oder Arbeiterkomitees, errichten«; sie hätten sich »mit selbstgewählten Chefs und eigenem selbstgewählten Generalstabe zu organisieren und unter den Befehl, nicht der Staatsgewalt, sondern der von den Arbeitern durchgesetzten revolutionären Gemeinderäte zu treten«.7

Solche Räte, Klubs oder Komitees sollten nach Marx die Macht des bürgerlichen Staates einschränken und so eine revolutionäre Doppelherrschaft herbeiführen. Als Organe der Selbstregierung betrachtete er diese Ausdrucksformen direkter Demokratie dagegen offenbar nicht. In gewisser Weise waren sie für Marx eher provisorische, vorübergehende Organisationen, die der neue revolutionäre Staat sich zunutze machen konnte – ein Staat, der seinerseits dem Modell einer zentralisierten, hierarchischen Institution folgen musste. Die direkte Ausübung der Souveränität blieb eine Ausnahme, ein...

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