Einleitung
Das vorliegende Handbuch führt theoretische sowie empirische bewegungs- und sportwissenschaftliche Wissensbestände mit aktuellen kindheitspädagogischen Diskursen zusammen, die für die bewegungspädagogische Arbeit in außerfamiliären Settings mit Kindern in den ersten sechs bis acht Lebensjahren relevant erscheinen. Dabei stehen die Dokumentation und Einspeisung von Forschungsergebnissen in den fachwissenschaftlichen Diskurs ebenso im Mittelpunkt wie die Sichtbarmachung relevanter Themen, vielfältiger Perspektiven und disziplinärer Besonderheiten. Die spezifischen Schwerpunkte der Beiträge repräsentieren die Breite der theoretischen, praktischen und empirischen Zugänge.
Sport- und bewegungspädagogische Diskussionen rücken, wenn es um Bildungsprozesse in der Kindheit geht, seit jeher in erster Linie die Schule und mit ihr die Schulkindheit in den Mittelpunkt ihrer Forschungs- und Gestaltungsinteressen. Auch für die Herausgabe dieses Handbuchs besteht hierdurch die Gefahr, sich aktuellen schulbezogenen Strömungen der Pädagogik der frühen Kindheit und ihrer Forschung hinzugeben und in erster Linie Bedingungen und Wirksamkeiten einer professionellen Entwicklungsförderung zu fokussieren »– womöglich sogar noch zugespitzt auf die Förderung in Kindertageseinrichtungen mit dem Maßstab des Schulerfolgs« (Honig 2015, S. 47). Um dieser Perspektiv-Verengung entgegenzuwirken, beschränkt sich das Handbuch mit Blick auf die Gegenstandsauffassung sport- und bewegungspädagogischer Anliegen zum einen nicht allein auf die Institution Kita1 und deren Fragen im Hinblick auf ihre Aufgabe der Gestaltung und Vorbereitung von Übergängen in die Schule. Es thematisiert daneben auch non-formale und informelle Kontexte sowie therapeutische und gesundheitsbezogene Handlungsfelder der Frühpädagogik. Zum anderen ist es ein zentrales Anliegen dieses Handbuchs, mit der Auswahl und der Themenzusammenstellung der Beiträge zu zeigen, dass der Diskurs zu Bewegung und Sport in der frühkindlichen Bildung keineswegs nur einseitig einer kompensatorischen Logik verpflichtet ist, die auf die seit langem diskutierten Veränderungen der Bewegungs- und Lebenswelt von Kindern antwortet. Bewegung, Sport und nicht zuletzt das in den vergangenen Jahren wissenschaftlich weniger beachtete Spiel verfügen im Kontext frühkindlicher Pädagogik über eine eigene Dignität. Denn Bewegung, Sport und Spiel gelten in bildungstheoretischen Ansätzen der Bewegungs- und Sportpädagogik als körper- bzw. leibbasierte Modi und symbolische Formen kindlicher Weltbegegnung, in denen sie sich Welt in Selbst-, Sach- und Sozialbezügen erschließen (vgl. Laging & Kuhn, 2017).
Sport und Bewegung im Diskurs der Kindheitspädagogik
Mit der steigenden Attraktivität früher Bildung geht seit einigen Jahren auch eine erhebliche Multidisziplinarität in der Frühpädagogik einher (vgl. Mischo, 2017). Unter der Vielzahl der beteiligten Disziplinen finden sich in einem verstärkten Maß die Sport- und Bewegungswissenschaften wieder. Konstitutives Moment der Sportwissenschaften ist das Paradigma der Interdisziplinarität: Durch die Integration von theoretischen und empirischen Befunden der Bezugswissenschaften (z. B. Medizin, Pädagogik, Psychologie) werden ausgewählte Aspekte des Gegenstands Sport untersucht (vgl. Willimczik, 2014). Die Bewegungswissenschaften fokussieren als Teildisziplin der Sportwissenschaften sowohl auf körperinterne Steuerungs- und Funktionsprozesse (z. B. Motorik, Sensorik, Emotion, Kognition) als auch auf äußerlich beobachtbare Aspekte von Bewegung und Haltung (z. B. Biomechanik). Sport und Bewegung lassen sich manchmal nicht trennscharf voneinander abgrenzen und schon der Begriff der Bewegung kann wissenschaftstheoretisch sowohl naturwissenschaftlich-mechanistisch als auch anthropologisch oder phänomenologisch Verwendung finden. Bewegung gilt als eines der zentralen Themen des Sports, wobei Sport als eine »spezifische Kulturform der menschlichen Bewegungsfähigkeit« betrachtet werden kann (vgl. Scheid & Prohl 2017, S. 6).
Die Gründe für die prominente Verortung von Bewegung und Sport in der frühen Bildung liegen u. a. darin, dass Sport und Bewegung in der kindlichen Entwicklung eine zentrale Rolle einnehmen und als bedeutende bildende, soziale und gesundheitliche Ressourcen kommuniziert werden. Da Umgebungsfaktoren das Bewegungsverhalten maßgeblich beeinflussen, kommt bewegungspädagogischen Settings nicht nur vor dem Hintergrund einer sich wandelnden Lebens- und Bewegungswelt, sondern auch mit Blick auf steigende Inanspruchnahmequoten von Kindertagesbetreuung und hoher gesellschaftlicher Relevanz der Frühen Bildung ein großer Stellenwert zu.
Kindertageseinrichtungen werden als lebensbiografisch bedeutsame Institutionen und als bewegungs- und sportpädagogisch relevante Orientierungs- und Gestaltungsorte erfasst (Zimmer, 2015) und aus unterschiedlichen Perspektiven bearbeitet. Mit Blick auf Bildungsprozesse in der frühen Kindheit werden Bildsamkeit und Selbsttätigkeit als »konstitutive Prinzipien körperlicher Bewegungspraxen« betrachtet (vgl. Franke 2018, S. 270 f.). Dabei geht es um die Potenzialität des Körpers bzw. des Leibes in kindlichen Bildungsprozessen: Mit der Gleichzeitigkeit von Leib-Sein und Körper-Haben wird der Blick zum einen auf Bewegung als Medium der Gestaltung von Mensch-Welt-Verhältnissen möglich, zum anderen auf den Körper unter dem Aspekt der Funktionalität, z. B. hinsichtlich einer Förderung der motorischen Entwicklung (vgl. Fikus, 2012). Mit Blick auf Erziehungsprozesse in Kitas sind sowohl das interaktionale Bewegungshandeln zwischen pädagogischen Fachkräften und Kindern als auch die erzieherischen Wirkungen der Peers oder der Familie sowie die erzieherischen Einflüsse der strukturellen Rahmenbedingungen (z. B. durch offene und geschlossene Bewegungsangebote) von Interesse.
Die Relevanz und Attraktivität des Bewegungsdiskurses für die Kindheitspädagogik wird seit vielen Jahren durch das gesellschaftlich-diagnostische Deutungsmuster »Bewegungsmangel« ebenso befördert wie durch alarmierende Botschaften über die Zunahme übergewichtiger Kinder oder Besorgnis erregende motorische Defizite der heutigen Kindergeneration. Dabei geht es aus medizinischer Perspektive um die Warnung vor den möglichen und in Teilen auch schon nachweisbaren negativen gesundheitlichen Folgen der Abnahme motorischer Alltagsaktivitäten von Kindern. Aus soziologischer Perspektive zeigt sich im Kontext sozialer Ungleichheitsforschung, dass die Partizipationsmöglichkeiten am Kindersport milieu-, geschlechts- und migrationsspezifische Disparitäten aufweisen. Sie manifestieren sich bislang jedoch weniger im nichtorganisierten Sport- und Bewegungsverhalten als vielmehr in der sozialen Teilhabe an den organisierten Praktiken des Sportvereins (vgl. Nagel, 2003; Mess & Woll, 2012). Aus pädagogischer Perspektive spielt auch das drastische Verschwinden kindgerechter Bewegungsorte aus dem öffentlichen Raum eine ebenso gewichtige Rolle wie die zunehmende Funktionalisierung kindlichen Bewegens im Kontext moderner Kontroll- und Subjektivierungsprozesse. Gleichwohl schlägt sich der Diskurs zur Sicherung und Qualitätssteigerung von Bewegungsumwelten und Streifräumen der Kinder weitaus stärker in der Überformung von Kita, Sportverein und Schule mit kompensatorischen Aufgaben nieder als beispielsweise in der Stadtentwicklungsplanung und Sozialraumentwicklung.
Sport und Bewegung dürfen in der Diskussion um Bildungsqualität im Elementarbereich inzwischen als etablierte Dimensionen pädagogischer Praxis in Kitas gelten. Dies kommt z. B. im ›gemeinsamen Rahmen der Länder für die frühe Bildung in Kindertageseinrichtungen‹ der Jugendminister- und Kultusministerkonferenz (JKM, 2004) zum Ausdruck, in dem »Körper, Bewegung, Gesundheit« einen Bildungsbereich darstellt. Dieser wird durch die Bildungspläne auf Landesebene entsprechend spezifiziert oder erweitert. Bewegungsbildung und -pädagogik bilden zudem integrale Bestandteile der akademischen Ausbildung von Kindheitspädagog_innen (vgl. Robert Bosch Stiftung, 2008) und sind Gegenstand relevanter Nachschlagewerke zur Pädagogik der frühen Kindheit (vgl. Braches-Chyrek et al., 2014; Fried & Roux, 2013).
Im Zuge einer gesteigerten Aufmerksamkeit für die entwicklungsförderliche Bedeutung von Bewegung und Sport im Alltag von Kindern existieren inzwischen zahlreiche Projekte, Maßnahmen und Programme im Bereich der Bewegungserziehung und -förderung. Gleichwohl mangelt es an einer wissenschaftlichen Begleitung und an Ergebnissen zur Wirksamkeit bewegungsfördernder Maßnahmen jenseits einer »irgendwie funktionierenden Breitbandwirkung« (Schwarz 2014,...