Gespräch des Psychologischen Psychotherapeuten Johann Linnemann (J. L.) mit Ingrid Dautel (I. D.)
J. L.: Liebe Ingrid, es gibt so viele Bücher auf der Welt, die man gar nicht alle schaffen kann zu lesen, auch zum Thema Traumatisierung ist eine so große Anzahl erschienen. Welchen Sinn macht es, hier noch ein Buch dazuzulegen?
I. D.: Das verstehe ich gut – ich wollte auch kein neues Theorie-Buch schreiben, auch wenn ich ein Kapitel Theorie in meinem Buch drin habe, das den Hintergrund ein bisschen erläutert, sodass eben auch nicht Eingeführte das Thema besser verstehen.
Es ist aber vor allem ein Buch aus der Praxis, das zeigt, wie das sein kann, wenn drei Generationen neu miteinander in Kontakt, in Kommunikation treten. Es ist also gedacht für Menschen, die bisher noch nicht viel mit der Frage zu tun hatten, wie Traumata an die nächsten Generationen weitergegeben werden. Da will ich einen leicht verständlichen Einstieg schaffen für Menschen, die ihren Familienhintergrund und sich selbst darin besser verstehen wollen. Und es ist interessant für Fachleute, die sich für mehrgenerationale Gruppenarbeit interessieren und für mehrgenerationale Themen überhaupt.
J. L.: Also ein Buch aus der Praxis für die Praxis?
I. D.: Ja, das könnte man so sagen. Es ist wohl auch einzigartig, dass in diesem Buch drei Generationen zusammen ins Gespräch kommen: die Kriegskinder, die Nachkriegskinder und die Kriegsenkel.
J. L.: Ist das ein Mutmach-Buch?
I. D.: Ja, genau! Denn diese Generationen haben ja oft in der Ursprungsfamilie nicht miteinander reden können oder wollen. Ich denke da auch an die Nachkriegsgeneration, die dieses Schweigen erlebt hatte und die sich dann zum Teil in der 68er-Bewegung ja auch scharf abgegrenzt hat von ihren Eltern, nachdem sie enttäuscht war über die mangelnde Kommunikation.
Jetzt sitzen da Teilnehmerinnen in den Selbsterfahrungsgruppen, die könnten ihre Eltern sein oder ihre Söhne oder Töchter, und da gibt es heute eine andere Redebereitschaft und auch Redefähigkeit miteinander. Deshalb würde ich schon zustimmen, dass das auch eine Art Mutmach-Buch ist, das zeigt, dass die mangelnde Kommunikation von damals auch verändert werden kann.
J. L.: Das heißt, es hat sehr lange gedauert, wenn man es unter dem Gesichtspunkt der Traumatisierung betrachtet.
I. D.: Ja, das hat sehr lange gedauert, und die Bewusstwerdungsphasen sind auch unterschiedlich intensiv gelaufen: Die Jüngeren waren da zum Teil schneller. Sie haben rascher gemerkt, da ist eine Art Fremdkörper in mir – ich verstehe gar nicht, wie ich manchmal reagiere. Sie haben schnell erkannt, wenn sie sich ihre Eltern vergegenwärtigt haben, dass sie oft so reagieren, wie ihre Eltern hätten reagieren müssen. Zum Beispiel trauert ein Kriegskind-Vater nicht um seine verstorbene Frau und hat Angst vor dem Alleinsein. Seine Tochter erspürt dieses Unbewusste des Vaters, verhält sich entsprechend und hilft ihm, seine Angst zu bewältigen. Das ist alles ein Akt der Liebe der Kinder ihren Eltern gegenüber.
Die Älteren kamen erst später darauf, dass sie doch manches gerne anders gemacht hätten mit ihren Kindern.
J. L.: Kann man davon ausgehen, dass die Traumatisierungen so gravierend sind, dass sie lange Zeit nicht gespürt und auch nicht darüber geredet werden konnte?
I. D.: Ja, es gab lange Zeit dieses »beredte Schweigen«. Die Kinder haben gespürt, da wird irgendetwas totgeschwiegen, aber ich darf da nicht nachfragen. Und das Interessante ist ja auch, dass diese Kinder dann oft eine sogenannte »Stellvertreterposition« einnehmen z. B. für totgeschwiegene Verwandte, eine Art Energieübertragung, durch die ein Kind sich dann mit diesen Ausgestoßenen oder Verstorbenen identifiziert, d. h. deren Rolle einnimmt, da es unbewusst diese wieder zum Leben erwecken möchte.
J. L.: Also gibt es in manchen Familien auch eine Art Dynamik, die versucht, alles wieder »heil« zu machen? Die Toten, die nicht geachtet oder nicht betrauert wurden, stehen ein, zwei Generationen später sozusagen wieder auf?
I. D.: Ja, das könnte man so sagen. Die Kinder machen das ja nicht bewusst, dieses Schwere zu übernehmen, diese Last. Doch sie erspüren den Menschen, über den/die nicht geredet wird, und öffnen ihr Herz für diesen Teil aus der Familie und »übernehmen« das.
J. L.: Weil die Last nur für eine Generation zu schwer war?
I. D.: Ja. Und die Eltern, die Kriegskinder, hatten ja erst einmal diese materielle Aufbauarbeit zu bewerkstelligen und mussten für alles, was vorher war, Bewältigungsmechanismen entwickeln. So hatten sie gar keine Zeit und keine Energie mehr für etwas anderes, zum Beispiel, sich auch noch dem Inneren zuzuwenden.
J. L.: Und die nächste Generation war überhaupt erst in der Lage, weil diese Aufbauarbeit dann abgeschlossen war, da anzusetzen, wo es für die Vorgeneration schon gut gewesen wäre anzusetzen?
I. D.: Ja, die Nachkriegskinder haben das dann »geliefert«, sie haben das ausgedrückt, was bislang im »Nebel« geblieben ist.
J. L.: Jetzt kommt ja noch eine Generation, die der Kriegsenkel, mit ins Spiel? Was passiert da?
I. D.: Wenn bis dahin in der Familie nicht alles gelöst wurde – und die Bibel spricht ja davon, dass das Ungelöste bis ins vierte »Glied« weitergetragen werden kann –, dann tragen auch die Kriegsenkel diese familiäre Last weiter. Zwar mit etwas mehr Abstand, zum Beispiel zum Krieg, aber sie fühlen sich oft nicht frei, beruflich wie privat, und wissen oft gar nicht, was sie wirklich wollen, weil sie noch so loyal an die Familiennormen und -themen gebunden sind.
J. L.: Das heißt, dieses Dunkle, Ungelöste geht weiter? Und da es noch eine Generation später ist, erscheint es noch unklarer, ist es noch schwieriger zu erfassen, was mit ihnen los ist? Und man fühlt gar nicht mehr so leicht den Zusammenhang mit früher?
I. D.: Ja, zum Beispiel fühlen sich manche Kriegsenkel in meinen Gruppen den Großeltern gegenüber noch sehr verpflichtet, etwa in dem Punkt, sich nur über Arbeit zu definieren. Sie merken aber auch gleichzeitig, dass das nicht die eigenen Normen sind, und fühlen sich in einer Zwickmühle, die Erwartungen der Eltern und Großeltern nicht mehr erfüllen zu können.
J. L.: Das ist ja ein weites Feld, in dem man sich auch leicht verlieren kann. Gibt es eine Leitlinie durch dieses weite Feld über die Generationen hinweg?
I. D.: Ich nenne meine Gruppen ganz allgemein »mehrgenerationale Selbsterfahrungsgruppe«. Das Ziel ist, dass alle Generationen es im jetzigen Leben ein bisschen leichter haben, es sich ein bisschen schöner gestalten, das Leben auch genießen können, und sich nicht mehr so sehr belastet fühlen von einer nebulösen Vergangenheit, die wir ja versuchen aufzuhellen. Das würde ich schon als Leitlinie für alle drei Generationen bezeichnen. Sie kommen, um manches besser zu verstehen, aber sie kommen auch, um es im familiären Kontext ein bisschen leichter miteinander zu haben.
J. L.: Das heißt, diese Leitlinie ist auch in dem Buch selbst immer wieder das Thema »Praxis«?
I. D.: Ja, die Teilnehmerinnen kommen ja in die Gruppen und berichten erst einmal über ihre aktuellen Themen, und wir versuchen dann immer wieder, wo dies gewünscht wird, auch einen Rückbezug herzustellen, ob es ähnlich zu dem ist, was die Eltern oder Großeltern gemacht hätten, ob es in Opposition dazu steht oder wirklich frei ist. Es wird also oft wichtig zu erkennen, was hat sich für mich verändert, wo möchte und kann ich es auch anders machen, anders leben?
J. L.: Woran kann man sich da festhalten?
I. D.: Die Linie ist schon die, dass wir in die Zukunft schauen und diese leichter hinbekommen möchten. Einiges, was man von den Eltern, Großeltern kennt, taucht auf, und man überlegt, wie kann ich jetzt den Weg freibekommen. Was möchte ich wirklich?
J. L.: Das klingt ein bisschen wie »Aufräumarbeiten« . . .
. . . die Hindernisse der Vorgeneration aus dem Weg zu räumen, vor allem durch bessere Kommunikation miteinander, der Suche nach Gemeinsamkeiten, aber auch nach Unterschieden.
I. D.: Ja, das ist ein gutes Bild für diese seelische Arbeit! Bettina Alberti spricht ja auch in diesem Zusammenhang davon, »seelische Trümmer« wegzuräumen, nachdem die Kriegskinder die anderen Trümmer beiseitegeräumt haben, um zu dem eigenen, wirklich eigenen Leben zu finden. Freiräumen würde ich es auch nennen.
J. L.: Was haben dann die Kriegsenkel noch zu tun, wenn die materiellen und die seelischen Trümmer weggeräumt sind?
I. D.: Ja, was wollen sie mit dieser neuen Freiheit wirklich anfangen? Da kommt oft die Angst vor dieser sicherlich etwas größeren Freiheit mit ins Spiel. Und es gibt noch genügend alte Loyalitäten, unsichtbare Bindungen zu dem, was vorher als »tüchtig« angesehen wurde. Viele Kriegsenkel sind auch mit der heutigen »Multioptionsgesellschaft« überfordert.
J. L.: Das heißt, die ganze Geschichte ist wirklich ein großes Werk, ein großes Projekt dieser drei Generationen, das sich dann praktisch in diesen Gruppen widerspiegelt?
I. D.: Ja, natürlich finden sich hier diese gesellschaftlichen Prozesse wieder, diese Verunsicherungen auch durch die Veränderungen wie Globalisierung, Digitalisierung. Aber man hat...