Politische Arenen
Es ist eine alte Wahrheit, dass man
in der Politik oft vom Feinde lernen muss.
WLADIMIR ILJITSCH LENIN
»Wenn die Führung nur Verantwortung übernehmen und Machtspiele untersagen würde, müsste man sich nicht mit Mikropolitik herumschlagen und könnte seine Energie einzig in produktive Arbeit stecken.«
So oder ähnlich tönt es oft von Mitarbeitenden und sogar von Führungskräften selbst, wenn sie, nicht zu Unrecht, empört sind über den zeitlichen und menschlichen Verschleiß, der durch mikropolitisches Agieren in Organisationen verursacht wird. Leider ist die Lösung nicht so einfach. Es gibt zwar Führungskräfte, die sich entsprechend engagieren und klassische Spiele wie zum Beispiel das Horten von Informationen bekämpfen, aber durchschlagender Erfolg lässt sich offenbar auch in diesen Fällen nicht erzielen. Weshalb ist das so?
Der deutsche Psychologe Oswald Neuberger definierte 2006 in Mikropolitik und Moral in Organisationen Mikropolitik als »die Summe jener kleinen Machtmethoden, mit denen innerhalb von Organisationen Macht aufgebaut und eingesetzt wird«. Je weniger strukturiert und offiziell geregelt ist, desto größer ist der Graubereich, in dem Mikropolitik geschieht. Und weil sich glücklicherweise nicht alles regeln lässt, gibt es keine Organisation ohne Mikropolitik. Es nützt folglich nichts zu hoffen, dass das Umfeld sich gänzlich unpolitisch gestaltet, sondern es bleiben nur zwei Optionen: sich ein Umfeld zu suchen, mit dessen Ausmaß und Stil von politischen Aktivitäten man einigermaßen leben kann, und/oder sich die wichtigsten Strategien anzueignen, um sich in dieser Arena behaupten und positionieren zu können und sich im Erfolgsfall anschließend für ein möglichst angenehmes und faires Klima einzusetzen.
Kathleen Kelley Reardon, Professorin für Management an der Southern California Marshall School of Business, analysiert und berät Organisationen hinsichtlich ihrer Kommunikationskultur und Produktivität und hat dabei festgestellt, dass diese beiden Felder stark von der innenpolitischen Funktionalität oder eben auch Dysfunktionalität abhängen. Sie schlägt in ihrem erhellenden Buch The Secret Handshake (2011) eine Typologie von vier politischen Arenen vor, die in unterschiedlichen Organisationen, oft aber auch nebeneinander in derselben Organisation, vorkommen und ihren Mitgliedern eine Umgebung anbieten, die diese wiederum in unterschiedlicher Weise »bespielen« können. Sie unterscheidet zwischen einer minimal, durchschnittlich, hoch und pathologisch politisch geprägten Arena.
Eine minimal politisch geprägte Arena hat sie beispielsweise bei der Firma Patagonia ausfindig gemacht, die bezüglich freier Arbeitszeiten, -orte und Familienfreundlichkeit als Vorreiterin gilt.
Moderat politische Organisationen sanktionieren formal kontraproduktives mikropolitisches Verhalten. Dieses findet sehr wohl trotzdem statt, aber eher dezent, und wird von den politisch agierenden Mitarbeitenden bestritten. Auch die Organisation als Ganzes tut so, als ob sich alle an die offiziellen Regeln halten würden: »Bei uns gibt es keine Mikropolitik!«. Dies hat unter anderem zur Folge, dass Konflikte nicht offen ausgetragen werden können. In solchen Organisationen finden sich parallel existierende Gesetze, geschriebene und ungeschriebene. Ein klassisches Beispiel für moderate politische Arenen sind Universitäten. Offiziell wird beispielsweise bekundet, dass Professoren und Professorinnen exzellente Lehre anbieten sollen, inoffiziell wissen alle, dass das Publizieren in wichtigen Journals einer der größten Erfolgsfaktoren für eine akademische Karriere ist. Von der Basis bis zur Mitte der Organisation sind Universitäten als Expertenorganisationen an der fachlichen Kompetenz und Expertise ihrer Spezialisten und Spezialistinnen orientiert, im strategischen Kopf hingegen wird nach anderen Regeln gespielt und fast nur noch politisch agiert.
In einer hochpolitischen Arena sind Konflikte allgegenwärtig. Sie ist voller ungeschriebener Regeln und Tabus und die hierarchischen Stufen der Organisation grenzen sich jeweils klar nach unten ab. Wen man kennt ist wichtiger als was man weiß. Übergriffige Personen können zwar entlassen werden, was aber in der Regel an der Situation nicht viel ändert, da die Strukturen eine echte Veränderung nicht zulassen. Das System ist stärker als das Individuum.
Ein pathologisch politisches Umfeld kann daran erkannt werden, dass Mitarbeitende überdurchschnittlich stark ihre Vorgesetzten und andere mächtige Personen der Organisation umschmeicheln und sich gleichzeitig gegenüber weniger mächtigen Personen übergriffig und herablassend verhalten. Impression Management, das heißt die Steuerung des Eindrucks, den man auf andere macht, ist von größter Bedeutung. Informationen werden anderen Kollegen und Kolleginnen übermäßig oft vorenthalten und strategisch zur eigenen Positionierung eingesetzt. Wenn sich in der Organisation niemand getraut, offen Kritik zu üben, dann handelt es sich mit Bestimmtheit um ein pathologisch politisches Umfeld. Hinzu kommt noch die Tatsache, dass sich auch das führende Management entsprechend mikropolitisch verhält und deswegen keine Chance auf Unterstützung von oben besteht.
Zu jedem Umfeld gibt es nun passende Spielerinnen und Spieler. Kelley Reardon schlägt hier ebenfalls eine Typologie der individuellen politischen Stile vor. Sie unterscheidet zwischen Puristen und Puristinnen, Teamplayern, Straßenkämpferinnen und -kämpfern und Manövrierern und Manövriererinnen.
Puristinnen und Puristen glauben daran, durch harte Arbeit vorwärts zu kommen. Sie wollen sich nicht an Politik beteiligen und sind in der Regel ehrlich, wenn nicht gar naiv, wenn es um politische Machtspiele geht. Teamplayer glauben dann erfolgreich zu sein, wenn sie gut mit anderen zusammenarbeiten und beteiligen sich nur an Politik, wenn sie dem Vorankommen der Gruppe dient. Sie wollen ihre Eigeninteressen nicht vor die Interessen der Gruppe stellen. Straßenkämpfer und -kämpferinnen sind Individualisten, die denken, dass sie am besten mit harter Taktik vorankommen. Sie haben ihre persönlichen Vorteile im Fokus und sind immer auf Angriffe vorbereitet. Einige von ihnen sind geschickte Intriganten, andere haben schlicht schon zu oft erlebt, dass sie verheizt wurden, und sichern sich deshalb andauernd ab. Manövriererinnen und Manövrierer wiederum denken, dass sie durch geschicktes und dezentes Taktieren weiterkommen. Sie agieren subtiler als Straßenkämpfer und verfolgen sowohl ihre eigenen Ziele als auch die Ziele ihres Teams.
Es geht nun hier nicht in erster Linie darum, die verschiedenen Strategien zu werten, sondern zu betonen, dass es sich lohnt, mikropolitisches Verhalten zu verstehen und sich dann ein möglichst passendes Umfeld zu suchen und gleichzeitig sein Repertoire an Schachzügen zu erweitern.
Typologien sind immer zwiespältig. Zum einen sind sie, wie jedes Modell, starke Vereinfachungen. Es besteht die Gefahr, dass man durch die Anwendung einer solchen Typologie andere und sich selbst schubladisiert. Andererseits sind Modelle sehr hilfreich, wenn es darum geht, sich selbst und sein Verhalten in einem größeren Kontext zu reflektieren und einzuordnen. Baddeley und James beispielsweise haben in ihrem Artikel »Owl, Fox, Donkey, Sheep: Political Skills for Managers« bereits 1987 eine recht unterhaltsame, aber meiner Meinung nach griffige Typologie mikropolitischen Verhaltens vorgestellt, die direkt aus dem Tierreich stammt. Diese lädt wunderbar zum Schubladisieren ein, kann man doch nun im Arbeitsalltag sein eigenes und das Verhalten anderer »tierisch gut« wahrnehmen. Sie verwenden zwei Achsen, von denen eine den Grad des politischen Bewusstseins und die andere das Ausmaß des Einsatzes psychologischer Spielchen beschreibt. Über Kreuz gelegt ergeben sich hier auch wieder vier Typen mikropolitischen Verhaltens: Die Schafe, die weder merken, dass überhaupt politisch etwas läuft noch Spiele spielen wollen, die Esel, die die mikropolitischen Vorgänge ebenfalls nicht verstehen, aber trotzdem mit entsprechend geringem Erfolg mitspielen, die Füchse mit hohem innenpolitischem Bewusstsein, die psychologische Spielchen nur zu ihrem Eigennutz einsetzen, und zuletzt die Eulen, die politische Klugheit mit Integrität vereinen. Parallelen zum Modell von Kelley Reardon werden schnell sichtbar, hinzu kommt aber der Aspekt der politischen Unbedarftheit der Esel und Schafe, die sich nie durchsetzen werden, weil sie die Spielregeln nicht verstehen oder, im Fall der Schafe, nicht einmal wissen, dass es sie gibt.
Typologien können trotz aller Vereinfachung nützliche Gedankenstützen sein und einem helfen, das eigene Verhalten, die Umwelt und den sich daraus ergebenden match oder missmatch zu analysieren. Und sich dann der Frage zu stellen, ob man an den eigenen mikropolitischen Kompetenzen schrauben und dazulernen will oder sich nicht vielleicht doch ein anderes Umfeld suchen sollte....