Vom Fernweh
»Da, wo du nicht bist, ist das Glück.«
Franz Schubert
Ein Buch über das Daheimbleiben sollte vermutlich nicht ausgerechnet an einem nasskalten Februartag vor einem Reisebüro beginnen, wenn der Winter schon so lang ist, dass man sich nicht mehr an das Gefühl erinnern kann, im T-Shirt durch die Stadt zu laufen, und der Frühling noch so fern, dass man sich kaum vorstellen kann, dass er überhaupt jemals wieder übers Land ziehen wird. Es sollte vielleicht nicht unbedingt an einem Tag beginnen, an dem für jeden, der auch nur ein bisschen Platz für Träume in sich hat, das Fernweh unbezwingbar wird.
Ich lebe in Berlin, einer Stadt, von der ich manchmal scherzhaft behaupte, sie läge nicht im Osten Deutschlands, sondern in Westsibirien. Der Winter hier dauert ungefähr neun Monate, und spätestens im Februar verliere ich regelmäßig den Glauben daran, dass er überhaupt jemals wieder geht. Die Pappeln in meinem Kiez säumen dann den Straßenrand wie eine Armee von Toten; in den von den Nachbarn im Sommer liebevoll gepflegten Baumscheiben beugen sich welke Funkien und Farne; und der Himmel hängt so tief, dass er einem auf die Schultern drückt.
In jenem Februar, in dem mich aus wolkenverhangenem Himmel plötzlich das Fernweh packte, war der Winter besonders grimmig. Oder vielleicht kam er mir auch nur besonders grimmig vor, denn ich hatte gerade einen kleinen Sohn geboren und konnte mich plötzlich nicht mehr einfach so vor der Kälte draußen verkriechen. Unser Baby schlief nämlich nicht, zumindest nicht in seinem Bettchen; obendrein war es oft schon gegen fünf Uhr morgens wach, weshalb ich nicht selten in der Morgendämmerung einen ersten Spaziergang unternahm, bei dem ich zwar erbärmlich fror, es hingegen, dick in Wolle gepackt und gemütlich schuckelnd, endlich, endlich ins Land der Träume glitt.
Ich werde diesen Winter nie vergessen: wie ich über die Rollsplittdünen auf den vereisten Gehwegen stapfte und den Kinderwagen durch die gefrorene Stadt bugsierte, vorbei an tiefgekühlten Hundehaufen, rußpatinierten Schneebergen und vergessenen Weihnachtsbäumen, in denen noch Lamettareste hingen. Ich werde die Kälte nicht vergessen, die ihren Weg noch durch die Maschen meiner dicksten Wollmütze fand. Die jeden meiner Schritte knirschen und jeden meiner Atemzüge einen Augenblick lang weiß in der Luft stehen ließ, ehe er sich in nichts auflöste.
Ich hatte mir in diesem Winter angewöhnt, mir einmal am Tag ein winziges Italiengefühl zu verschaffen und nach meiner morgendlichen Runde auf einen Cappuccino und ein Panino bei der kleinen italienischen Salumeria an der übernächsten Ecke einzukehren. Ich mochte die sizilianische Familie, die den Laden betrieb: Papa Nino, der jeden Morgen kistenweise frisches Gemüse in die Küche trug und die herrlichsten Antipasti wieder herausbrachte; seine Frau Maria, die mir stets einen Extrakeks auf die Untertasse legte; Carmelo und Salvatore, die beiden Söhne, die immer für einen Plausch zu haben waren und die das Baby, das mich regelmäßig an meine Grenzen brachte, jeden Tag aufs Neue mit einer Begeisterung feierten, dass ich mich meiner unglücklichen Gefühle fast ein bisschen schämte.
Doch an diesem Februarmorgen kam ich nicht bis zur Salumeria. Ich wurde aufgehalten: von den braun gebrannten Beinen einer Frau, von einem weißen Sandstrand und türkisfarbenem Wasser.
Direkt neben der Salumeria gibt es ein kleines Reisebüro, dem ich bis dahin keine große Beachtung geschenkt hatte. Ich hatte in meinem ganzen Leben noch nie eine Reise aus dem Katalog gebucht – als ich jünger war, gehörte ich eher zu den Leuten, die einfach ohne Planung losfliegen und dann sehen, wohin der Wind sie trägt; später dann hatte ich meine Reisen stets selbst im Internet zusammenbastelt, war Empfehlungen gefolgt oder einfach dorthin gereist, wohin ich eingeladen war. Reisebüro, das hatte für mich immer ein bisschen nach all-inclusive gerochen, nach reservierten Sonnenliegen und Abendessen vom Büffet.
An diesem Tag im Februar aber stand ich plötzlich vor einem Aufsteller, der für 14 Tage in einem Fünf-Sterne-plus-Resort auf den Malediven warb, inklusive Flug.
14 Tage.
Fünf Sterne plus.
Malediven.
Eigentlich bin ich nicht der Typ für Strandurlaub. Ich finde es unbequem, lange auf einem Handtuch zu liegen, die Sonne ist mir zu heiß, und ich hasse es, mich ständig akribisch eincremen zu müssen. Und die Malediven fand ich als Reiseziel eher befremdlich – wer wollte schon freiwillig 14 Tage auf einer Insel verbringen, die man schneller umrundet hat als die Reichstagskuppel?
Doch jetzt blieb ich stehen, schuckelte den Kinderwagen von Hand weiter und betrachtete die herrliche Bräune der Frau, ihre schlanken Glieder, die sich im warmen Sand rekelten. Ich spürte in meinen Körper hinein: Wann hatte ich meine Beine eigentlich das letzte Mal bewusst gesehen? In den letzten Wochen war ich morgens bloß hastig in die lange Wollunterwäsche geschlüpft und abends in den karierten Flanellpyjama. Den Rest des Tages hatten sie mich mit schnellen Schritten durch die immergrauen Tage getragen, hatten ohne Luft und Tageslicht ihren Dienst verrichtet.
Mein Blick wanderte zum sich in der Ferne erstreckenden Horizont. Das Rauschen des Meeres – ich konnte es beinahe hören. Ich stellte mir vor, wie die glitzernden Wellen alles davonspülen würden: die bleierne Müdigkeit, die beinahe zum Normalzustand geworden war; das Gefühl der Unzulänglichkeit, das mich durch die Tage begleitete; die Kälte, die in den letzten Monaten nie ganz aus meinem Körper gewichen war. Ich stellte mir vor, wie sich meine Zehen in den warmen, feinen Sand krallen würden.
Eigentlich hatten mein Mann und ich erst wenige Wochen zuvor beschlossen, uns in unserem Reiseverhalten einzuschränken. Bis dahin hatten wir zu den Leuten gehört, die eigentlich ständig irgendwohin fuhren: im Sommer zu einer abgeschiedenen Bergpension in Südtirol, nach Korsika oder Marseille, im Frühling nach Palermo oder Palma, im Spätherbst nach Arles, nach Südafrika, nach Namibia. Wir verbrachten Weihnachten in Brügge oder Tallinn, Silvester in einem Haus in der Uckermark, Karneval in Köln, Ostern auf Capri. Wann immer wir mal drei freie Tage hatten, guckten wir, ohne darüber nachzudenken, nach Flügen – weil es irgendwie zum Leben dazugehörte, weil wir Lust darauf hatten und weil wir es uns halbwegs leisten konnten. Wir verreisten, weil wir das Gefühl hatten, dass die Welt uns offenstand und wir sie uns einfach nehmen konnten. Wir reisten, weil es schön war, beim Wiederkommen etwas zum Erzählen zu haben. Und wir reisten auch, weil es gesellschaftlich legitimiert war: Schließlich habe ich von klein auf gelernt, dass Reisen bildet.
Unseren Urlaub einfach zu Hause zu verbringen? Oder auch nur ein paar freie Tage? Auf die Idee wären wir im Leben nicht gekommen.
Nun hatten wir uns jedoch vorgenommen, uns beim Reisen deutlich zu beschränken. Oder zumindest etwas. Nicht, dass wir ganz und gar auf Urlaub verzichten wollten – wir nahmen uns nur vor, nicht mehr anlass- und gedankenlos in den Flieger zu steigen. Wir beschlossen, in Zukunft eingehend zu prüfen, ob eine Reise wirklich nötig war, und dann zu gucken, wie wir möglichst klimaverträglich dorthin kommen würden.
Aber jetzt, an diesem Februartag, an dem es draußen so kalt war, dass an den Fensterscheiben mancher Altbauten Eisblumen blühten, wusste ich plötzlich: Der Ernstfall war eingetreten. Ich musste verreisen, musste fort von hier.
Da war es, das Fernweh.
Fernweh – das Gefühl der Sehnsucht danach, an einem anderen Ort zu sein, kennt wahrscheinlich jeder. Dabei ist der Begriff noch gar nicht besonders alt; in Wörterbüchern tauchte er zum ersten Mal in den Dreißigerjahren des 20. Jahrhunderts auf, als Analogbildung zum viel älteren »Heimweh«. Die Gefühle, die die beiden Begriffe beschreiben, sind eigentlich gar nicht so verschieden; sie richten sich weniger auf einen Ort in der Außenwelt als auf eine innere Empfindung. Wer Heimweh hat, sehnt sich eher nach einem idealisierten Ort als einem realen. Er fühlt sich unbehaust, einsam und vermisst eine Zeit, in der er sich aufgehoben wähnte im Kreise seiner Freunde, seiner Familie. Wer unter Fernweh leidet, wünscht sich nicht einfach woanders hin. Klar: Wir sehnen uns nach den betörenden Gerüchen auf fremden Märkten, der unverständlichen Melodie fremdsprachigen Stimmengewirrs. Wir sehnen uns nach der Unübersichtlichkeit großer Städte, in denen man sich immer ein bisschen lebendiger, schneller, aufmerksamer fühlt. Wir sehnen uns danach, eine menschenleere Landschaft zu überblicken. Aber schon die Tatsache, dass sich das Wort »Fernweh« durchgesetzt hat und nicht das ältere »Wanderlust«, deutet darauf hin, dass wir eigentlich ein Gefühl der Defizienz damit beschreiben, einen Mangel, einen Schmerz, ein Unbehagen: Wir sehnen uns vor allem nach einem anderen Leben – danach, nicht nur die winterliche Wollunterwäsche, sondern auch den Alltag abzustreifen. Danach, dass sich unter einer fremden Sonne alles auflöst, was uns von uns selbst entfernt, und nur noch übrig bleibt, was wir wirklich sind.
Es gibt bestimmt viele Gründe, warum Menschen ins Auto, in den Zug oder ins Flugzeug steigen und ihre kostbaren Urlaubstage dazu verwenden, an die abwegigsten Orte der Welt zu reisen, in eine gigantomanische Stadt oder an einen ausschließlich von Stechmücken besiedelten finnischen See: Wir haben das Bedürfnis nach Erholung, wollen unseren Horizont erweitern, die Welt sehen. Aber von allen Gründen, die Menschen fürs Reisen haben, ist das Fernweh vermutlich der stärkste. Erholen könnten wir uns ja auch bei einem Spaziergang im Stadtpark und einem anschließenden Bad....