Die Welt und unsere Belastungen haben sich verändert. Wir arbeiten zu viel und zu lange. Statt uns in der knapp bemessenen Freizeit davon zu erholen, hetzen wir von Termin zu Termin. Kein Wunder, dass Stresserkrankungen immer mehr zunehmen.
In diesem Kapitel lesen Sie u. a., warum
War früher alles besser?
Warum fühlen wir uns heutzutage so gestresst? Was hat sich verändert? War es früher besser? Dies sind Fragen, die wir immer wieder in unseren Seminaren gestellt bekommen.
Eine Teilnehmerin erzählt: »Ich verstehe das einfach nicht! Ich habe alles, was ich brauche. Mein Leben ist viel einfacher, bequemer und sicherer als das meiner Großeltern. Wenn mein Großvater abends von der Arbeit kam, hatte er, solange es ihm das Tageslicht erlaubte, viel am Haus zu arbeiten. Alles Gemüse, das es zu essen gab, kam aus dem eigenen Garten. Meine Großeltern bestellten ein kleines Kartoffelfeld und kümmerten sich tagtäglich um die Obstbäume. Sie hatten eine Sieben-Tage-Woche, mussten mühevoll per Hand Wäsche waschen, hatten viel zu tun mit Einkochen und Holzhacken und nur sehr wenig Urlaub. Und doch waren sie nie gestresst oder überfordert. Ich habe eine geregelte 40-Stunden-Woche, einen Staubsauger, eine Spülmaschine, Waschmaschine und viele weitere Geräte, die mir helfen, Zeit und Kraft zu sparen. Ich habe Wochenenden und viel mehr Urlaub. Und trotzdem habe ich den Eindruck, es geht mir schlechter als meinen Großeltern, denn ich bin ständig müde, stehe unter starkem Zeitdruck, fühle mich oft überfordert und bin im heiß ersehnten Urlaub krank. Was hat sich verändert?« |
Die Teilnehmerin hat recht: Wir arbeiten in unserer modernen Zeit kürzer denn je, haben mehr Urlaub und es stehen uns viele Möglichkeiten zur Verfügung, uns das Leben zu erleichtern. Und dennoch fühlen wir uns den ganzen Tag lang gestresst und getrieben von Pflichten, die so zahlreich sind, dass wir sie gar nicht mehr aufzählen können. Wir sehnen uns nach Pausen, die wir nicht bekommen, nicht einmal im Urlaub.
In Summe arbeitete der Mensch früher mehr und auch körperlich viel anstrengender als heute. Dennoch ist der Stresspegel in der Bevölkerung im Laufe der vergangenen Jahre exponentiell gestiegen, wie diverse Stress-Studien immer wieder bestätigen.
Früher gab es Pausen, heute gibt es Freizeit
Doch woran liegt das? Ein wesentlicher Grund ist sicherlich in unserem Freizeitverhalten zu suchen. Früher war das Leben übersichtlicher. Der Tag war unterteilt in Arbeit und Pausen. Während der Pausen wurde geruht, gegessen oder geschlafen. Heutzutage ist der Tag unterteilt in Arbeit und Freizeit. Unsere Freizeit ist jedoch oft nur eine Illusion von freier Zeit. Meist hat sie mit einer wirklichen Pause zur Regeneration nichts zu tun. In unserer freien Zeit machen wir den Haushalt, renovieren die Wohnung und wollen außerdem das Beste für uns herausschlagen, uns intensiv um die Familie kümmern und Urlaub genießen.
Auch die Grenzen zwischen Freizeit und Arbeit verwischen sich immer mehr. So unterstützen wir während des Spaziergangs schnell mal per Handy die Kollegin bei einem schwierigen Fall und organisieren am Arbeitsplatz per WhatsApp-Gruppe den Kegelabend. Nach einer Stress-Studie der Techniker Krankenkasse aus dem Jahr 2016 ist dies ein großer Stressfaktor mit gravierenden Auswirkungen.
Leben in der VUCA-Welt
Dazu kommt, dass sich in der heutigen Zeit alles so schnell und permanent verändert, dass nichts mehr als sicher erachtet werden kann. Grund dafür ist vor allem die digitale Transformation. Sie bezeichnet einen fortlaufenden, in digitalen Technologien begründeten Veränderungsprozess, der die gesamte Gesellschaft und insbesondere Unternehmen betrifft. Diese bereits seit 1990 stattfindende Evolution hat uns unter anderem die digitale Vernetzung und die Sozialen Medien, die ständige Erreichbarkeit via Smartphone, die Streamingdienste, das Online-Banking, Fitnesstracker und per Handy steuerbare Haushaltsgeräte beschert. Die Menschen müssen sowohl auf der aktiven wie auch auf der reaktiven Seite des Lebens flexibler sein als je zuvor. Das bringt viele Vorteile sowohl für die Arbeitswelt als auch im Privatleben. Es fördert die Entwicklung und verhindert Langeweile. Der Nachteil daraus ist jedoch ein beständiges Gefühl von Unsicherheit und die rastlose Suche nach dem nächsten »Kick«.
Nicht der Mensch selbst hat sich grundlegend verändert, sondern das Umfeld, die Arbeitswelt und die Beziehungen untereinander. Diese geänderten Rahmenbedingungen werden heutzutage mit dem Akronym VUCA beschrieben. VUCA steht für Volatility, Uncertainty, Complexity, Ambiguity. Die ursprünglich aus dem US-Militär-Jargon stammenden Begriffe sind zu einem festen Bestandteil der Managementliteratur geworden. Sie benennen die veränderten Rahmenbedingungen, unter denen wir heute leben und arbeiten.
Unsere VUCA-Welt
- Volatility – Unbeständigkeit: Die Herausforderungen, denen wir in unserem Leben begegnen, sind unerwartet, unstabil. Es gibt eine hohe Schwankungsbreite. Die Geschwindigkeit, mit der sich Veränderungen ergeben, erhöht sich immer weiter. In Unternehmen steigt der Innovationsdruck rasant. Die Mitarbeiter müssen sich einem stetigen Wandel stellen.
- Uncertainty – Ungewissheit: Die Unsicherheit steigt; es gibt kaum noch Vorhersehbares. Die Zukunft birgt großes Potenzial für Überraschungen – nicht nur im privaten Leben, sondern auch in Bezug auf mögliche Marktentwicklungen. Es mangelt an Berechenbarkeit. Zweifel wachsen, wie Unternehmen überleben und womit sie auch in Zukunft Umsätze machen können. Es muss stets mit dem Schlimmsten gerechnet werden, um auf das Beste hinzuarbeiten. Dies geht Hand in Hand mit einer unsicheren Beschäftigungssituation für die Mitarbeiter.
- Complexity – Komplexität: Es gibt keine Standardisierungen mehr. Viele teilweise unbekannte Variablen mit nur schwer oder nicht absehbaren Wirkungen treffen aufeinander, bestimmen die Zukunft. Es wird immer schwieriger, vorauszuplanen und alle wichtigen Parameter im Blick zu behalten. Die Systeme multiplizieren sich, während die Vernetzung gleichzeitig für Verwirrung sorgt – eine fordernde Aufgabe für die Führungskräfte und Unternehmensleitungen. Die Komplexität erfordert Menschen im Unternehmen, die über den Tellerrand hinausdenken, sich flexibel auf neue Aufgaben einstellen und bereit sind, ihre Komfortzone zu verlassen.
- Ambiguity – Mehrdeutigkeit: Informationen sind nicht mehr eindeutig interpretierbar. Es wird immer schwerer, Ursache und Wirkung zu finden. Interessenkoalitionen werden vielschichtiger. Wegen der Vielzahl der Rollen, Aufträge und Schnittstellen nehmen Missverständnisse zu. Für Unternehmen bedeutet dies, dass sie sich aus den bewährten und erprobten Abläufen heraus bewegen müssen und bisher gut laufende Geschäftsmodelle auf den Prüfstand stellen müssen. Vielfach werden Individuallösungen der richtige Weg sein. Das bedeutet für die Menschen im Unternehmen, kreativ weiterzudenken statt nur auf bestehendes Know-how zurückzugreifen.
Zwangsläufig sind die Gegebenheiten, Situationen und Umstände heute nicht dieselben, denen wir in Zukunft begegnen werden. Das Optimum von gestern ist der Standard von heute. Die technische Entwicklung beschleunigt zunehmend. Branchengrenzen lösen sich auf. All dies verlangt von uns Menschen heute eine hohe Veränderungsbereitschaft, Innovationsfähigkeit und vernetztes Denken. Flexibilität und Lernbereitschaft sind dafür wesentliche Voraussetzungen. Außerdem erfordert es die Kompetenz, mit berufsrelevanten sowie persönlichen Unsicherheiten zurechtzukommen. Klingt nach Stress? Ist Stress!
Während früher die Anstrengung mehr körperlicher Natur war, sind die Stressfaktoren heute:
- Leistungsdruck,
- Verlust von geregelten Zeitrhythmen,
- gesteigerte Anforderungen an Flexibilität, Anpassungsfähigkeit und Mobilität,
- unsichere oder zeitlich befristete Arbeitsplätze,
- weniger Wertschätzung bei hoher Verantwortung,
- eine Null-Fehler-(Un-)Kultur.
Die Techniker Krankenkasse hat in Zusammenarbeit mit dem Meinungsforschungsinstitut Forsa einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung zum persönlichen Stresslevel und den häufigsten Stressauslösern sowie dem individuellen Umgang mit Stress befragt. Danach fühlen sich 46 % durch ihren Beruf belastet. Auf Platz 2 mit 43 % folgen die eigenen, hohen Ansprüche. Platz 3 nennt zu viele Termine und Verpflichtungen als Stressfaktor gefolgt von Belastungen durch den Verkehr und die ständige Erreichbarkeit.
Eine Studie der Barmer Ersatzkasse in Kooperation mit der Universität St. Gallen aus dem...