Die Epidemie und ihre Sponsoren oder
Wie die Pharmaindustrie Dicke macht
Wir alle sind, jedenfalls wenn wir der Berichterstattung in den Medien und den Worten der zuständigen Experten Glauben schenken, Zeugen einer Epidemie. Einer Epidemie, von der mehr als jeder zweite Deutsche und über eine Milliarde Menschen weltweit betroffen sind. Einer Epidemie, die in ihrem Schlepptau ein Bündel an tödlichen Folgekrankheiten führt. Einer Epidemie, die selbst Babys nicht verschont und die die Lebenserwartung der kommenden Generation erstmals seit Jahrhunderten senken wird. Einer Epidemie, deren Folgekosten so groß sind, dass sie nicht nur das Gesundheitswesen in ernste Finanzierungschwierigkeiten bringt, sondern auch zukünftiges Wirtschaftswachstum gefährdet.
Obwohl es schon seit mindestens vierzig Jahren Anzeichen für das Auftreten der neuen Massenkrankheit gibt, hat sich erst in den letzten zehn Jahren das Bewusstsein für ihre rasante Verbreitung und ihre fatalen Folgen geschärft. Gab es bis Anfang der 1990er Jahre nur sporadische Berichte über die Folgen der verheerenden Seuche, explodierte deren Zahl nach der Jahrtausendwende. So berichteten DIE ZEIT und DER SPIEGEL von 1980 bis 1999 lediglich neunzehnmal über die Krankheit. Allein zwischen 2004 und 2008 waren es, die Online-Ausgaben der Zeitungen nicht mitgerechnet, 24 Artikel, in denen der neuen Epidemie durch das Wörtchen Adipositas – den medizinischen Fachausdruck für krankhaftes Übergewicht – die Referenz erwiesen wurde.
Ein ähnliches Bild ergibt sich in Großbritannien. In der britischen Tageszeitung The Guardian erschienen im Jahr 1999 erst 40 Berichte, in denen das Wort »obesity« vorkam, im Jahr 2002 waren es bereits 127 Artikel, bis 2004 mit 392 Meldungen ein vorläufiger Rekord erreicht wurde. In den USA blieb die Zahl der jährlichen Meldungen über die Massenerkrankung in Tageszeitungen und Nachrichtenportalen bis Anfang der 1990er Jahre deutlich unter 500. 1994 waren es erstmals über 1000 Meldungen, die den Namen der Epidemie in der Schlagzeile führten, 1997 dann bereits 2500 Meldungen, und nur sechs Jahre später hatte sich die Zahl auf 7500 verdreifacht.
Auf internationaler Ebene vervierfachte sich die Zahl der englischsprachigen Artikel, die die Krankheit erwähnten, von weniger als 4000 pro Quartal im Jahr 2000 auf fast 16 000 pro Quartal im Jahr 2007. In Frankreich wurde »obésité« in der landesweiten Tageszeitung Le Monde zwischen 1987 und 1997 weniger als zwanzigmal pro Jahr erwähnt. Im Jahr 2002 dagegen bereits mehr als fünfzig-, 2004 dann sogar schon mehr als hundertmal.
Wenn die These von der seuchenartigen Verbreitung der Adipositas also in irgendeinem Zusammenhang gerechtfertigt ist, dann in Bezug auf die Berichterstattung in den Medien. Doch nicht nur die Zahl der Artikel zu Übergewicht und Adipositas hat sich vervielfältigt, auch der Tonfall, in dem über das Phänomen berichtet wird, ist aggressiver geworden. War lange Zeit nur von einem – wenn auch gravierenden – Gesundheitsproblem die Rede, so ist die Bezeichnung als Seuche mittlerweile unhinterfragter Bestandteil der Berichterstattung über den dicken Bauch. Metaphern wie der »Krieg gegen die Pfunde« oder die viel bemühte »tickende Zeitbombe« unterstreichen die Dringlichkeit des Problems und lassen keinen Zweifel an der Notwendigkeit und Zulässigkeit von Gegenmaßnahmen mehr zu.
Die schrillsten Töne sind dabei in den USA und Großbritannien zu vernehmen. Der ehemalige US-Präsident George W. Bush sprach 2002 vom »War on Fat«, der dem »War on Terrorism« folgen müsse, und zog medienwirksam die Joggingschuhe an. Sein oberster Gesundheitsbeauftragter, Richard Carmona, der in den USA ganz militärisch »Surgeon General« heißt, bezeichnete das Übergewicht seiner Landsleute gar als »Terror im Innern«, der schlimmer sei als die Anschläge vom 11. September 2001. Der britische Gesundheitsminister Alan Johnson dagegen befand, dass das Übergewicht mindestens ebenso bedrohlich für die Zukunft der Insel sei wie der Klimawandel. Britische Forscher setzten kürzlich sogar noch einen drauf. Sie behaupteten, massenhaftes Übergewicht sei ein maßgeblicher Grund für den Klimawandel.[4] Auch in den USA schüren Wissenschaftler die Hysterie um die Fettpolster: So meint beispielsweise der US-amerikanische Ernährungsexperte Barry Popkin, dass global gesehen das Übergewicht bereits heute die Gefahren des Welthungers in den Schatten stelle.[5]
Die Wahrnehmung von Übergewicht als einer Epidemie, einer Seuche also, die sich die Welt in rasantem Tempo unterwirft und die Zukunft des Planeten in Frage stellt, geht wesentlich auf ein Ereignis im Jahr 1997 zurück: das Treffen einer Expertengruppe der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in Genf.
»Adipositas: Verhütung und Bewältigung einer weltweiten Epidemie« hieß die Tagung, die zum Ziel hatte, die Verbreitung, Ursachen sowie die gesundheitlichen und ökonomischen Folgen des Übergewichts zu untersuchen und Strategien zu seiner Bekämpfung zu entwickeln.
Die Konferenz der WHO im Jahr 1997 bestimmte zugleich die Wahrnehmung der neuentdeckten Epidemie. Für die WHO und für die überwiegende Mehrzahl der Regierungen, Gesundheitsorganisationen, Public-Health-Experten und Fachjournalisten ist Übergewicht eine Krankheit, die durch das Leben im Wohlstand ausgelöst wird. Gemeint ist damit, dass weltweit die Notwendigkeit, sich im Alltag zu bewegen, zurückgeht und gleichzeitig Lebensmittel, und hier besonders die kalorienreichen, in immer mehr Ländern zu einem günstigen Preis für beinahe jeden verfügbar sind. Dieser auf den ersten Blick paradiesische Zustand führe aber zu einer gefährlichen Massenkrankheit: der Adipositas nämlich und als ihrer Vorstufe dem Übergewicht. Adipositas wiederum sei der Auslöser zahlloser Zivilisationskrankheiten und gefährde so den Wohlstand und die Leistungsfähigkeit moderner Gesellschaften weltweit.
Um das Ausmaß der eben entdeckten Epidemie veranschaulichen zu können, mussten die WHO und ihre Mitstreiter aus der Pharmaindustrie zunächst eine einheitliche und weltweit verbindliche Definition schaffen. Dazu bemühte man den Body-Mass-Index (BMI), der auch als relatives Körpergewicht bezeichnet wird. Die dazugehörige Formel lautet BMI = kg/m². Wer seinen Body-Mass-Index selbst berechnen möchte, wiege dafür zunächst sein Körpergewicht in Kilogramm, messe anschließend seine Körpergröße in Metern, nehme dann mit Hilfe eines Taschenrechners die Körpergröße zum Quadrat und teile das zuvor ermittelte Körpergewicht durch die potenzierte Körpergröße: Fertig ist der BMI. Noch einfacher ist es allerdings, sich einer der unzähligen BMI-Rechner im Internet zu bedienen.
Seit der WHO-Konferenz vom Juni 1997 gilt weltweit einheitlich ein BMI kleiner als 18,5 als Untergewicht, ein BMI zwischen 18,5 und 25 als Normalgewicht, ein BMI größer als 25 als Übergewicht, und ein BMI größer als 30 als krankhaftes Übergewicht bzw. Adipositas.
Übergewicht ist medizinisch als »kritisch erhöhter Fettanteil an der Gesamtkörpermasse« definiert. George Bray, einer der Väter der modernen Adipositasforschung, hatte 1976 einen Fettanteil an der Körpergesamtmasse von 30 Prozent bei Frauen und von 25 Prozent bei Männern als Adipositas bestimmt. Da der Fettanteil an der Körpergesamtmasse aber nur mit aufwendigen Verfahren ermittelt werden kann, hat sich international der Body-Mass-Index zur Bestimmung von Übergewicht und Adipositas durchgesetzt. Begründet wird dieses Vorgehen damit, dass der Körperfettanteil und der BMI in einem engen Verhältnis stünden.
Tatsächlich ist die Wahrscheinlichkeit, dass beispielsweise eine Frau mit einem BMI größer 30 auch einen Körperfettanteil von mehr als 30 Prozent hat, ziemlich hoch. Doch vor allem bei Menschen mit einem BMI im Bereich 25 bis 30 ist der automatische Rückschluss vom Body-Mass-Index auf den Körperfettanteil fragwürdig. Das zeigen zahlreiche Beispiele von Sportlern und Schauspielern, die – obgleich sportlich und alles andere als fett – nach dem BMI entweder übergewichtig oder sogar adipös sind. Ihr hohes relatives Körpergewicht resultiert aber weniger aus Fettzellen denn aus Muskelkraft. Und genau hier setzt die Kritik am Body-Mass-Index an. Moniert wird, dass der BMI nicht in der Lage ist, den individuellen Körperbau zu berücksichtigen, und damit zwangsläufig jeden Menschen, der kräftiger gebaut und/oder muskulös ist, fälschlicherweise als fett klassifiziert.
Von solchen Einwänden unbeeindruckt, übernahmen innerhalb weniger Jahre weltweit praktisch alle...