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E-Book

Volle Tonne, leere Teller

Was sich ändern muss. Gespräche über Armut, Verschwendung, Gerechtigkeit und notwendiges Engagement.

AutorJochen Brühl
Verlagadeo
Erscheinungsjahr2019
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783863348052
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis17,99 EUR
Jochen Brühl, Bundesvorsitzender der Tafel Deutschland, reist mit dem Zug kreuz und quer durch Deutschland und spricht mit Unterstützern und Kritikern seiner Arbeit über Fragen, die vielen unter den Nägeln brennen: Wie kann es sein, dass im reichen Deutschland Menschen arm sind? Was läuft da eigentlich genau schief? Ist nur der Staat verantwortlich? Wie können wir Lebensmittelverschwendung verhindern und sinnvolle Alternativen schaffen? Ein streitbares Debattenbuch, das Pro und Contra zulässt, Missstände beim Namen nennt sowie zum Nachdenken und Mitmachen aufruft. Und ein leidenschaftliches Plädoyer für das Ehrenamt, ohne das es in Deutschland finster aussehen würde. U.a. mit Jörg Pilawa; Moderator | Hannes Jaenicke; Schauspieler | Paula Schwarz; Unternehmerin | Henriette Egler; Bloggerin | FranzJosef Overbeck; Ruhrbischof | Barbara Hendricks; Bundesministerin a.D. | Gerhard Trabert; Arzt | Ulrich Schneider; Paritätischer Wohlfahrtsverband | Thomas Middelhoff; Ex-Manager | Irmgard Schwaetzer; Bundesministerin a.D. | Christina Brudereck; Autorin | Jürgen Kisseberth; Lidl | Raphael Fellmer; 'Sirplus' | Tim Raue; Sternekoch | Sabine Werth; Tafelgründerin | Marianne Birthler; ExBundesbeauftragte für die Stasiunterlagen

Jochen Brühl ist verheiratet und lebt in Essen in einer Wohngemeinschaft mit mehreren Familien und Alleinstehenden. Der studierte Sozialarbeiter und Diakon war viele Jahre für verschiedene Organisationen tätig. 1999 zählte er zu den Gründern der Tafel Ludwigsburg. Derzeit ist er leitender Fundraiser für den CVJM Deutschland und ehrenamtlicher Vorsitzender der Tafel Deutschland e.V. sowie Mitglied im Vorstand der Europäischen Foodbank FEBA.

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Leseprobe

Obwohl Jürgen Kisseberth bis heute ein wichtiger Entscheider in der Schwarz-Gruppe ist, ist er das Gegenteil des selbstdarstellerischen Topmanagers. In Gesprächen zeigt er sich als angenehmer Partner, zurückhaltend, bescheiden und immer mit einem Hang zum Understatement. Ihn würde hier doch keiner mehr kennen, sagt er in unserem Smalltalk vor dem eigentlichen Gespräch. Zu alt, nicht mehr im Tagesgeschäft, die Jungen hätten jetzt das Sagen. Ich erzähle ihm, wie mich die Empfangsdame in diesen Meetingraum hier führte. Er war noch von einigen Mitarbeitern belegt, die aber auffallend schnell das Feld räumten, als der Name Kisseberth fiel. Er winkt ab. Stimmt alles gar nicht.

Der Meetingraum, in dem wir uns treffen, ist genauso gigantisch wie das Unternehmen selbst. Der Tisch hat eine Länge von sicher 15 Metern, 30 bis 40 Personen können hier also locker tagen. Wir setzen uns und beginnen das Gespräch. Als Snack gibt es schwäbische Butterbrezeln. Ein Termin ganz nach meinem Geschmack.

Im Vorfeld gab es in meinem Umfeld durchaus ein paar kritische Stimmen, als ich erwähnte, dass ich für dieses Buch auch mit einem Vertreter des Handelsunternehmens sprechen würde. Lidl und Co. sind für viele Menschen immer noch ein rotes Tuch und der Inbegriff eines Unternehmertums, dem es ausschließlich um Gewinnmaximierung geht. Ethik, soziale und gesellschaftliche Verantwortung: Fehlanzeige. Dafür Kosten drücken um jeden Preis und aggressive Expansion im (inter)nationalen Verdrängungswettbewerb. Dass die Tafeln seit mehr als zehn Jahren wirklich großzügig durch das Unternehmen unterstützt werden, andere NGOs oder Organisationen ebenso, und dass sich Kisseberth bereits 2013 für einen flächendeckenden Mindestlohn in Deutschland eingesetzt hat, wissen dagegen deutlich weniger Menschen. Oder sie wollen es nicht wissen, weil es nicht in das typische Gut-Böse-Schema passt. Und wer das soziale Engagement anerkennt, sieht darin in erster Linie Imagepflege.

Der Manager kennt diese Argumentation, und man spürt, dass ihn dieses Denken betroffen macht. Er spricht von der inneren Überzeugung, aus der heraus das Unternehmen gesellschaftlich handelt: »Wir sehen unsere Verantwortung für die Gesellschaft. Unternehmer haben sich schon immer auch sozial engagiert. Natürlich muss die Wirtschaftlichkeit eines Unternehmens funktionieren, weil man sich ansonsten gar nicht engagieren kann. Aber mich stört es, wenn ich Vorwürfe höre, dass es uns nur um die Außenwirkung gehe.«

NATÜRLICH MUSS DIE WIRTSCHAFTLICHKEIT EINES UNTERNEHMENS FUNKTIONIEREN, WEIL MAN SICH ANSONSTEN GAR NICHT ENGAGIEREN KANN. ABER MICH STÖRT ES, WENN ICH HÖRE, DASS ES UNS NUR UM DIE AUSSENWIRKUNG GEHE.

Jürgen Kisseberth

Aus Überzeugung handelt ein Unternehmen seiner Meinung nach dann, wenn es sich langfristig in Projekte einbringt. »Wir gehen gemeinsam mit unseren Partnern einen langen Weg. Egal, ob das die Tafel ist oder der Verein brotZeit, der mehreren Tausend benachteiligten Kindern täglich ein ausgewogenes Frühstück zur Verfügung stellt. Das machen wir ebenso mit Fairtrade und dem WWF in Österreich. Wir leben es auch bei uns im Haus und versuchen, die Umwelt zu schützen und nachhaltiger mit den vorhandenen Ressourcen umzugehen.«

Jürgen Kisseberth macht deutlich, dass die Zeiten sich einfach geändert haben. Das Umweltbewusstsein in der Gesellschaft ist seit den 1980er-Jahren kontinuierlich gestiegen. Und spätestens seit der Klimawandel in aller Munde ist, interessiert sich der Endverbraucher auch verstärkt für Produktions- und Arbeitsbedingungen und den ökologischen Fußabdruck von Unternehmen. Auch beim Thema Arbeitsbedingungen von ausländischen Lieferanten fährt die Schwarz-Gruppe inzwischen eine Null-Toleranz-Politik. »Wir achten auf solche Sachen. Ein Zulieferer, der auffällig wird, wird sofort darauf hingewiesen, dass wir solche Arbeitsumstände nicht dulden. Er muss diese Zustände dann kurzfristig abstellen, oder er beliefert uns nicht mehr.«

Die Schwarz-Gruppe hat sich im Wettbewerb gut behauptet und zeigt kontinuierlich gute Wachstumszahlen. Ich frage mich, ob die gesellschaftliche Verantwortung – im Unternehmensjargon als Corporate Social Responsibility, CSR, bezeichnet – der Schwarz-Gruppe so leichtfällt, weil man es sich leisten kann. Stimmen die Zahlen, gibt es Kapazitäten für solche Dinge, und ganze Abteilungen werden in Unternehmen gegründet, die sich darum kümmern und entsprechende Projekte umsetzen. Aber wie sieht es in schlechten Zeiten aus? Muss man sich CSR leisten können?

Kisseberth ist da weniger zynisch als ich: »Ich glaube, nicht nur bei uns, sondern auch in vielen anderen Unternehmen ist CSR bereits so verankert, dass es auch in wirtschaftlich schlechteren Zeiten ein wichtiges Thema bleiben wird. Wir haben diese Werte in unseren Unternehmensgrundsätzen festgeschrieben, und diese sind handlungsverpflichtend für alle Mitarbeiter. Da heißt es: ›Wir übernehmen in unserem täglichen Handeln ökonomische, soziale und ökologische Verantwortung.‹ Unsere CSR-Kultur ist also fix. Sie definiert, wie wir CSR betrachten, wie wir damit umgehen. Und wir haben in den einzelnen Fachbereichen eigens Teams, die dafür zuständig sind. Diese Struktur durchdringt unser Unternehmen so sehr, dass sie unabhängig von wirtschaftlichen Erfolgen ist.«

Ich komme auf ein anderes Thema zu sprechen. Den großen Handelsunternehmen und insbesondere den Discountern wird häufig vorgeworfen, ihre Marktmacht durchzusetzen und den Lieferanten Preise zu diktieren. Der deutsche Bauernverband bemängelte schon häufig die Beträge, die Aldi und Lidl beispielsweise ihren Milchlieferanten zahlen. Ein schwieriges Thema, denn auf der anderen Seite gibt es viele Geringverdiener, die beim Lebensmittelkauf auf jeden Cent achten müssen und die sich freuen, wenn der Literpreis mal wieder um ein paar Cent fällt. Oder sind unsere Lebensmittel jetzt schon zu billig und müssten eigentlich viel teurer sein, damit auch die Produzenten und Lieferanten ein Auskommen haben, von dem sie gut leben können?

Der ehemalige Deutschland-Chef antwortet erwartbar diplomatisch: »Es muss ein Preis gefunden werden, mit dem alle in der Wertschöpfungskette ein vernünftiges Auskommen haben. Das funktioniert aber ganz gut, denn in der Kette gibt es bisher wenige Ausfälle. Wir haben also offensichtlich ein Preisgefüge gefunden, mit dem alle leben können, und arbeiten inzwischen vermehrt direkt mit Bauern zusammen, damit das Geld tatsächlich bei ihnen ankommt und nicht in irgendwelchen Genossenschaften versickert«, so Kisseberth.

Auch wenn es um Müllentsorgung geht, zeigt sich die Macht der Unternehmensgruppe. Bei mehr als 3.000 Lidl- und 1.000 Kaufland-Filialen in Deutschland fallen Unmengen an Müll an – viel davon aus Kunststoff. Mit einem eigenen Recycling- und Entsorgungssystem zieht sich das Unternehmen nach und nach aus dem staatlichen beziehungsweise kommunalen Entsorgungssystem zurück und ist auf dem Weg zum Müllverwerter. Liest man zumindest hier und da. Schon jetzt bestehen die Kunststoffflaschen einiger Eigenmarken zu durchschnittlich mindestens 50 % aus Recyclingmaterial, teilweise bereits bis zu 100 %. Das Material dafür stammt aus dem eigenen Wertstoffkreislauf der Schwarz-Gruppe. Das hat einen positiven Effekt für die Umwelt, rechnet sich aber auch wirtschaftlich.

»Wir haben einen eigenen Wertstoffkreislauf geschaffen, der es uns ermöglicht, durch den Wiedereinsatz von Materialien natürliche Ressourcen zu schonen«, sagt Kisseberth. »Wir haben in Deutschland eine Größenordnung erreicht, bei der wir so etwas auch selbst machen können. Das macht für uns auch wirtschaftlich Sinn.«

Als Tafel haben wir es uns zur Aufgabe gemacht, Lebensmittelüberschüsse aus dem Handel und der Produktion vor dem Wegwerfen zu retten und sie an Bedürftige zu verteilen. Überschüsse, die auch dadurch zustande kommen, weil es in der Gesellschaft bestimmte Erwartungshaltungen gibt. Möglichst frisch muss die Ware sein. Und in großer Auswahl vorhanden. Immer. Auch noch um 21:30 Uhr am Abend. Die Einführung des Mindesthaltbarkeitsdatums (MHD) Anfang der 1980er-Jahre hat diesen Frische-Wahnsinn der Verbraucher verstärkt und die Lebensmittelverschwendung vorangetrieben. Was kurz vor Ablauf des MHD ist, bleibt im Regal liegen. Ein System, das auch seinen Teil dazu beiträgt, dass jährlich Millionen Tonnen von Lebensmitteln weggeschmissen werden. War das MHD vielleicht nichts anderes als eine Marketing-Geschichte, damit der Verbraucher in kürzeren Abständen einkaufen muss? Weil sein Joghurt im Kühlschrank ja »abgelaufen« ist?

KUNDEN GREIFEN IM LADEN ZU DEM PRODUKT, DAS DIE LÄNGSTE MINDESTHALTBARKEIT AUFWEIST. EINFACH, WEIL SIE DIE FRISCHESTE WARE HABEN MÖCHTEN.

Jürgen Kisseberth

Das lässt der 69-Jährige aber so nicht stehen. »Es ist schon erstaunlich, dass man davon ausgeht, ein Unternehmen würde freiwillig oder bedenkenlos Überschüsse produzieren, die dann keiner Verwendung zuzuführen sind und damit auch keine Geldrückflüsse ermöglichen. Wer so etwas denkt, hat wenig Ahnung davon, wie gewirtschaftet wird. Es ist unser ureigenstes Interesse, dass wir unsere Waren regulär verkaufen können. Weil jeder Artikel, der nicht verkauft und verwertet wird, auch nicht zum Ergebnis beiträgt.«

Er spricht von den Bereichen, in denen Lidl auch intern versucht, die Überschüsse zu reduzieren: durch eine klügere Disposition, optimierte Bestellrhythmen und eine frühzeitige Preisreduzierung. Dadurch werden Produkte mit kurzfristigem MHD zumindest noch in den eigenen Läden verkauft. »Wir haben dadurch deutlich weniger Überhang als noch vor einigen Jahren«, erklärt Kisseberth, sieht aber auch den...

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