2 Lernvoraussetzungen in unter schied lichen Entwicklungsbereichen
Das zentrale Moment jeder Unterrichtsplanung ist, die Lernangebote an die Lernvoraussetzungen der Kinder anzupassen. Zur Analyse von Lernvoraussetzungen orientiert man sich an Entwicklungsmodellen.
Entwicklungsmodelle sind (empirisch überprüfte) Beschreibungen von Stufen oder Phasen innerhalb eines Entwicklungsbereiches.
Bei der Betrachtung von Lernvoraussetzungen bei Kindern mit geistiger Behinderung stellen sich zwei entscheidende Fragen, die wiederum in engem Zusammenhang mit späteren didaktischen Entscheidungen für den Unterricht stehen:
a) Wie vollziehen sich Entwicklung und Lernen bei Kindern mit geistiger Behinderung, unterscheiden sich die Prozesse bedeutsam von jenen bei Kindern ohne Behinderung? (Mit anderen Worten: Wie „besonders“ sind diese SchülerInnen?)
b) Welche potenziellen Hemmnisse in Entwicklung und Lernen können sich aus einer geistigen Behinderung ergeben und wie kann vor diesem Hintergrund Entwicklung durch Unterricht initiiert und gefördert werden?
Auf die Frage, ob sich die Entwicklungsprozesse bei Kindern mit und ohne geistige Behinderung unterscheiden, gibt es zunächst zwei Antwortmöglichkeiten.
geistige Behinderung als Andersartigkeit Die Differenzthese besagt, dass die Entwicklung von Kinder mit geistiger Behinderung in entscheidenden Aspekten anders verläuft als bei Kindern ohne Behinderung.
Einige kognitive Prozesse, so die Behauptung, werden gar nicht durchlaufen, bestimmte Funktionen sind gestört oder fallen ganz aus. Für den Unterricht würde das etwa bedeuten, dass gänzlich andere Unterrichtsprinzipien angewendet werden müssten bzw. dass spezifische Methoden notwendig sind.
geistige Behinderung als Entwicklungsverzögerung Der entwicklungstheoretische Ansatz geht hingegen davon aus, dass sich Entwicklung bei beiden Gruppen gleichartig vollzieht. Daraus folgend wird geistige Behinderung lediglich als Entwicklungsrückstand angesehen.
Damit einher geht die Annahme, dass Kinder mit geistiger Behinderung prinzipiell die gleichen Stufen von Entwicklung durchlaufen wie Kinder ohne geistige Behinderung, allerdings langsamer und i. d. R. mit einem geringeren Abschlussniveau. Dies hat zur Folge, dass ältere Kinder mit geistiger Behinderung oft ein ähnliches Verhalten zeigen wie Kinder ohne eine Behinderung in einem jüngeren Alter.
Eine Konsequenz für die Gestaltung des Unterrichts könnte sein, dass bei älteren Kindern mit geistiger Behinderung gleiche Inhalte und Methoden adäquat wären wie bei jüngeren Kindern ohne Behinderung. Zu fragen wäre hier in der Folge, welche Bedeutung die notwendigerweise viel häufigere Wiederholung und Übung einzelner Schritte oder Inhalte bei der Aneignung hat und welche didaktischen Konsequenzen daraus gezogen werden müssten.
Bedeutung von Umweltfaktoren Beide Ansätze sind eher als Denkrichtungen, denn als geschlossene Theoriegebäude zu verstehen. Sie versammeln jeweils zahlreiche unterschiedliche Theorien unter sich. Beiden gemein ist, dass sie der Tatsache, dass sich Entwicklung niemals nur aus einem Menschen selbst heraus vollzieht und demzufolge auch nicht lediglich endogen beschrieben und erklärt werden kann, relativ wenig Gewicht beimessen. Insbesondere die Differenzthese verstellt den Blick darauf, in wie starkem Maße Umweltfaktoren, in diesem Sinne also auch Unterricht, Einfluss auf die Entwicklung nehmen können.
Entwicklung beruht immer auf der Interaktion zwischen Organismus und Umwelt. Das bedeutet, dass Entwicklung eher als ein lebenslanger und dynamischer Prozess gesehen werden muss, der eine Auseinandersetzung zwischen Kind und Umwelt darstellt.
Aktuell wird davon ausgegangen, dass die Entwicklung von Kindern mit und ohne geistige Behinderung wesentlich mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede aufweist. Die These eines „kognitiven Andersseins“ (Differenztheorie) lässt sich somit nicht aufrechterhalten.
Folglich sind zur Beschreibung der Entwicklung von Kindern mit geistiger Behinderung die allgemeinen Entwicklungsmodelle anwendbar.
Entwicklungsverläufe von Kindern mit und ohne geistige Behinderung unterliegen grundsätzlich gleichen Mechanismen. Im Folgenden werden die Lernvoraussetzungen in zentralen Lern- und Entwicklungsbereichen beschrieben sowie wesentliche Konsequenzen, die sich daraus für die Unterrichtsgestaltung ergeben, dargestellt. Einen Schwerpunkt bilden bei geistigen Behinderungen logischerweise die kognitiven Lernvoraussetzungen (Kap. 2.1) und die eng damit verbundenen sprachlich-kommunikativen Kompetenzen (Kap. 2.2). Zusammen mit den sozialen Fähigkeiten (Kap. 2.3) sind dies die entscheidenden Voraussetzungen für den Bildungserfolg im weiteren Sinne sowie im engeren Sinne für den Erwerb der Kulturfertigkeiten Lesen, Schreiben und Rechnen (Kap. 4).
2.1 Kognitive Lernvoraussetzungen
Piagets Theorie der kognitiven EntwicklungDas wohl einflussreichste und bekannteste Entwicklungsmodell ist Piagets Stufenmodell der Entwicklung des menschlichen Denkens. Piaget (2016, im Original 1970) bezeichnet die Grundbausteine menschlichen Wissens als Schemata.
Ein Schema ist ein organisiertes Wissens- und Verhaltensmuster, in dem Begriffe in einen individuell logischen Zusammenhang gebracht werden. Es handelt sich also gewissermaßen um Netzwerke, in die Objekte und Ereignisse eingeordnet werden können.
Ein Schema dient quasi als Schablone für das Verhalten in einer bestimmten Situation, mittels der man – ohne nachzudenken – auf dieselbe Weise handeln kann, ohne die Situation jedes Mal zunächst neu analysieren zu müssen. Verhaltensschemata und kognitive Schemata sind eng miteinander vernetzt, sodass sich Mischungen ergeben (Abb. 3).
Abb.3: Beispiel für ein Schema
Schemata gelten als Grundstrukturen des Denkprozesses. Die Entwicklung des Denkens vollzieht sich in vier Phasen:
1. Sensomotorische Phase
2. Stadium der Präoperationalen Intelligenz
3. Stadium der Konkret-operationalen Intelligenz
4. Stadium der Formal-operationalen Intelligenz
In jeder Phase spiegeln das Denken und Verhalten eines Kindes eine spezifische geistige Grundstruktur wider, die sich qualitativ von jener der vorherigen und folgenden Phase unterscheidet. Die kognitiven Stufen werden von jedem Kind in der gleichen Reihenfolge durchlaufen, wobei keine Stufe übersprungen werden kann. Die Denkformen werden durch Erreichen einer höheren Stufe nicht vollständig abgelöst, sondern höhere Stufen schließen die Strukturen aller früheren Stufen ein.
Äquilibration Entwicklung (bei Piaget: Lernen) vollzieht sich nach diesem Modell immer durch die Herstellung eines Gleichgewichtszustandes (Äquilibration) zwischen Organismus (Kind) und Umwelt durch Anpassung (Adaptation) des Organismus an seine Umweltgegebenheiten. Sobald sich eine Umweltgegebenheit ändert, d. h. das Kind eine neue Wahrnehmung macht, gerät es aus dem Gleichgewicht und muss sich anpassen. Dies kann auf zwei Arten geschehen – durch Assimilation oder Akkomodation:
Assimilation Die neue Wahrnehmung wird einem bereits vorhandenen Schema zugeordnet (Assimilation), das bisher für ähnliche Wahrnehmungen verwendet wird.
Ein Kind bekommt einen runden, gelben Gegenstand, der süß schmeckt. Seine Mutter sagt dazu „Apfel“. Später bekommt das Kind einen runden, roten Gegenstand, der süß schmeckt, und die Mutter sagt dazu „Apfel“. Durch weitere solche Erfahrungen entsteht ein Apfel-Schema. Dieses enthält die für alle Äpfel typischen Merkmale und gleichzeitig das Wissen, dass zum Apfelessen der Apfel zum geöffneten Mund geführt werden muss. Trifft das Kind später auf eine Birne, assimiliert das Kind und geht mit der Birne genauso um wie mit dem Apfel.
Assimilation ist die Wiederherstellung eines Gleichgewichtszustandes, indem das Kind neue (unbekannte) Umwelterfahrung in ein vorhandenes Schema einordnet. Durch diesen Prozess differenzieren sich Denkstrukturen aus.
Akkomodation Misslingt der Assimilationsprozess, weil eine neue Wahrnehmung nicht mehr in die bestehenden Schemata eingeordnet werden kann, entsteht ein Ungleichgewicht – das Kind empfindet einen Widerspruch. In diesem Falle muss das Schema angepasst bzw. ein neues Schema geschaffen werden (Akko modation) (Abb. 4).
Das Kind beißt in eine Zitrone. Weil auch sie auf dem Obstteller liegt und gelb ist, assimiliert das Kind sie zunächst in sein Apfel- / Birne-Schema. Da sie im Gegensatz zu Apfel und Birne aber sauer ist, muss das Kind sein vorhandenes Schema modifizieren.
Abb.4: Modifikation eines Schemas durch Akkomodation
Durch den Akkommodationsprozess wird das Ungleichgewicht ausgeglichen – das Kind hat sich (durch Erweiterung seines Schemas) entwickelt.
Die Entwicklungsverläufe von Kindern mit und ohne geistige Behinderung unterliegen, so der heutige Wissensstand, grundsätzlich gleichen Mechanismen: Kinder durchlaufen
a) verschiedene Stufen,
b) deren...