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E-Book

Frühförderung mit Kindern psychisch kranker Eltern

AutorAleksandra Dimova, Manfred Pretis
VerlagERNST REINHARDT VERLAG
Erscheinungsjahr2019
ReiheBeiträge zur Frühförderung interdisziplinär 12
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783497612352
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis28,99 EUR
Etwa drei bis fünf Millionen Kinder im deutschen Sprachraum haben mindestens einen Elternteil, der psychisch krank ist. Das kann gravierende Folgen für die Kinder haben: Unerwartete Reaktionen, schwierige soziale und finanzielle Verhältnisse, längere Trennungen können eine sichere Bindung an die Eltern und die Entwicklung der Kinder beeinträchtigen. Die Autoren zeigen, wie man Kinder psychisch kranker Eltern in der Frühförderung unterstützen kann: Anhand von Fallbeispielen informieren sie über Störungs-bilder der Eltern und erklären, wie das Kind die Erkrankung wahrnimmt.

Prof. Dr. Manfred Pretis ist Professor für Transdisziplinäre Frühförderung an der Medical School Hamburg, Heilpädagoge und Klinischer Psychologe. Dr. med. Aleksandra Dimova, Ph. D., habilitiert in biologischer Psychiatrie und ist Fachärztin für Psychiatrie in freier Praxis in Graz.

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Leseprobe

2     Vergessene Kinder

2.1    Auffällige Unauffälligkeit

Peter, beim ersten Kontakt zehn Monate alt, wurde über Initiative der Sozialarbeiterin bei unserem Dienst vorstellig, weil seine Mutter die vom zuständigen Jugendamt empfohlene Förderung abgebrochen hatte. Es wurde gemutmaßt, dass bei der Mutter eine depressive Erkrankung vorliegen könnte. Die Vorgangsweise der eingesetzten Pädagogin in der Fördersituation zuhause, Peter kleine, Geräusche erzeugende Gegenstände anzubieten, damit dieser selbstwirksame Erfahrungen machen konnte, führte zur Eskalation in der Familie: Nach Ansicht der Mutter war zu befürchten, dass Peter das Fördermaterial verschlucken könnte und somit die Fachkraft bewusst die Gesundheit ihres Sohnes gefährde. Dieser Vorwurf von Seiten der Mutter führte zum Abbruch.

Noch dazu habe die behandelnde Kinderärztin der Mutter auch versichert, mit Peter sei – auf der Basis der U-Untersuchungen – alles in Ordnung. Da die Mutter selbst Pflegekind war, massive Konflikte zur eigenen Herkunftsfamilie bestanden und die eigene (Pflege)Großmutter Zweifel beim Jugendamt anmeldete, ob die Kindesmutter fähig sei, ihren Sohn zu erziehen, entschied sich die Sozialarbeiterin, unseren Dienst anzubieten. Eine mögliche Fremdpflege stand im Raum, da sich das Jugendamt Sorgen um das Interaktionsverhalten und die Bindung machten.

Anfangs nahmen die Eltern widerwillig unser „freiwilliges“ Serviceangebot einer Ressourcen-Belastungsanalyse in Anspruch, vor allem in der Hoffnung, bestätigt zu bekommen, dass mit Peter alles in Ordnung sei.

Nach einer Vorstellung unsererseits, unserer Arbeitsweise, der Fragestellung (welche Förderbedürfnisse bei Peter vorlagen) sowie möglichen Zweifeln der Eltern, was mit Daten und Informationen geschehe, wurden Vater und Mutter gebeten, so wie zuhause mit ihrem Sohn zu spielen, auch um die Stresssituation für beide Elternteile zu vermindern. Im Vordergrund sollte das gemeinsame Eingehen auf die Bedürfnisse von Peter liegen.

Peter wurde in diesen Erstkontaktsituationen von den beiden anwesenden Elternteilen auf eine Decke am Boden unseres Zentrums gelegt. Sein Vater setzte sich am Fußende vor seinen Sohn, ergriff kurzfristig Fördermaterialien, die er für wenige Sekunden schüttelnd vor der Brust von Peter bewegte. Aufgrund der Rückenlage war jedoch zu vermuten, dass Peter diese Gegenstände nicht sehen konnte. Die meiste Zeit, in der die Eltern unsererseits gebeten wurden, so wie zuhause zu spielen, wirkte Peter sich alleine überlassen. Er lag auf dem Rücken, lautierte, versuchte beide Hände in seine Mittellinie zu bekommen, folgte sporadischen visuellen Angeboten des Vaters, der ein Plüschtier außerhalb der Reichweite von Peter auf der rechten Seite bewegte. Ein einziges Mal kam es während dieser ersten 20 Minuten zu körperlichem Kontakt zwischen dem Vater und Peter, indem der Vater die Füße Peters leicht bewegte. Die sprachliche Kommunikation des Vaters mit seinem Sohn beschränkte sich dabei auf das Imitieren von Schnalzlauten.

Aufgrund ihrer ausgeprägten Adipositas (Fettleibigkeit) und damit einhergehenden Problemen mit ihren Knien war es der anwesenden Mutter nicht möglich, sich auf den Boden hinab zu begeben, um mit Peter in körperlichen Kontakt zu treten. Peters Mutter beobachtete die Spielsituation stehend aus ungefähr zwei Meter Entfernung. In der ersten Einheit gelang es Peter nach 15 Minuten, sich aus der Rückenlage ohne Unterstützung der Eltern in die Bauchlage zu drehen. Danach begann Peter, den Spielteppich robbend zu explorieren. Der Junge griff nach allen erreichbaren Gegenständen. Er untersuchte den Teppich, auf dem er lag, lautierte häufig, und es entstand der Eindruck, als ob er sich durch heftiges asymmetrisches Strampeln selbst aktivierte.

Für uns als Untersucher erwiesen sich diese 20 Minuten der „Kaum-Interaktion“ als sehr belastend und nur wenig ertragbar. Wie konnte es sein, dass die Eltern – zumindest auf der beobachtbaren Verhaltensebene – sich vorwiegend teilnahmslos verhielten (obwohl sie natürlich ihren Sohn beobachteten) und obwohl sie wussten, dass sie sich in einer diagnostischen Situation befanden und Spielsequenzen sogar videoaufgezeichnet wurden. Peter hingegen schien sich sehr anzustrengen, seine Umwelt aktiv zu erforschen.

Methodisch versuchten wir, in dieser diagnostischen Phase trotzdem die Ressourcen und all das, was in der Familie funktionierte, hervorzuheben:

1    Die Familie nahm die Termine wahr (wie auch andere Arzttermine).

2    Vater und Mutter erschienen gemeinsam zu den Terminen.

3    Vor allem die Kindesmutter zeigte hohes Interesse an einem Austausch darüber, wie weit ihr Sohn entwickelt sei.

4    Der Vater konnte sich für kurze Zeit auf Spielsituationen mit seinem Sohn einlassen.

5    Peter wirkte gepflegt, sauber und wohlgenährt.

6    Alle U-Untersuchungen wurden durchgeführt.

7    Die Mutter hielt aktiv Kontakt zur Sozialarbeiterin.

8    Peter beschäftigte sich beinahe 20 Minuten mit sich selbst.

9    Es gelang ihm sogar, sich ohne Hilfe des Vaters von der Rückenlage in die Bauchlage zu drehen.

10  Peter wirkte auf den ersten Blick sehr autonom, aktiv, kommunikativ und selbstwirksam.

11  Peter schien über ein „einfaches Temperament“ zu verfügen, er wirkte ausgeglichen und zeigte kaum forderndes Verhalten (z. B. durch Schreien).

12  Die Mutter kümmerte sich in der Vergangenheit aufgrund einer von der Kinderärztin gestellten Verdachtsdiagnose „Seitenschwäche“ zuerst um Physiotherapie und stimmte in weiterer Folge einer häuslichen Förderung zu, die jedoch – wie zuvor beschrieben – in weiterer Folge abgebrochen wurde.

Daneben waren in diesen ersten diagnostischen Phasen auch deutliche Belastungsfaktoren zu beobachten:

1    Aufgrund ausgeprägter Adipositas konnte sich die Mutter kaum zu Peter bücken oder ihn hochnehmen.

2    Die Mutter befand sich während der Spielsituationen meist stehend zwei Meter von Peter entfernt, sodass die Frage des körperlichen Kontaktes und der Bindung offen war.

3    Die Mutter fand zu jedem Argument (z. B. der Wichtigkeit sprachlicher Nachahmung oder motorischer Aktivitäten) ein Gegenargument oder verwies auf ihre Ärztin, Internet oder Elternratgeber. Der Hauptfokus lag dabei auf möglichen Gesundheitsgefährdungen ihres Sohnes.

4    Die Mutter stand mehrmals in der Nacht auf, um nachzusehen, ob ihr Kind noch atme (sie wandte sich im Laufe eines Pseudokrupp-Anfalles an die Kinderklinik, die ihr zur Prävention des plötzlichen Kindstodes ein Atmungsüberwachungsgerät mit nach Hause gab). Ihr gesamtes Pflege- und Betreuungsverhalten konnte arbeitshypothetisch als ängstlich und teilweise überbehütend beschrieben werden (häufiges Doctor-Hopping, teilweises Übertreiben möglicher Gefahren, Vermeidung der Auseinandersetzung mit als bedrohlich interpretierten Informationen).

5    Bei Peter waren aufgrund eines Entwicklungsscreenings Risiken im Bereich seiner motorischen Entwicklung zu sehen (fehlendes freies Sitzen mit zehn Monaten) sowie Risiken im Bereich Sprachentwicklung.

6    Der Vater bezeichnete sich selbst als ehemaliges ADHS-Kind, wobei sich dies im Erwachsenenalter in vermuteter Automatenspielsucht und stundenlangem Computerspielen zuhause widerspiegelte.

7    Die Interaktionssequenzen zwischen dem Vater und Peter wirkten zeitlich sehr kurz und machten es Peter schwer, die Angebote des Vaters wahrzunehmen.

8    Die finanzielle und häusliche Situation erschien schwierig (Hartz-IV-Empfang, teilweise nicht adäquat eingerichtete Wohnung).

9    Das Verhältnis zu den Großeltern (eigentlich Pflegeeltern der Mutter) erschien immer wieder angespannt.

10  Die häusliche Förderung (organisiert über Frühe Hilfen) wurde aufgrund des Konfliktes in Bezug auf eine mögliche Gefährdung der Gesundheit durch das Fördermaterial (Überraschungsei gefüllt mit Reiskörnern) abgebrochen.

11  Die Fachkraft vermutete bei der Mutter eine ausgeprägte Angststörung oder Depression, teilweise mit überbehütenden Verhalten gegenüber ihrem Sohn.

12  Sobald die Mutter eine kleinste somatische Veränderung bei ihrem Sohn wahrnahm, kontaktierte sie Ärzte, setzte jedoch empfohlene Maßnahmen kaum um, da sie glaubte, alles besser zu wissen.

13  Vorliegen einer psychischen Krankheit bei der Mutter im Sinne einer Störung der Persönlichkeit, Mischtypus mit Fokus ängstlich-vermeidend), da aus der Anamnese Hinweise auf ein durchgehendes Muster seit ihrer Kindheit vorlagen.

Abb. 1 zeigt dabei die nach unserer transdisziplinären Diagnostikphase (teilweise erfolgten Beobachtungen in gemeinsamen Sitzungen) eingeschätzte Ressourcen / Belastungssituation (im Sinne eines Ampelsystems):

Der grüne Bereich spiegelt dabei als „ausreichend“ eingeschätzte Resilienzprozesse als „Bewältigungskapital“ (Fingerle 2011) wider. Im Beispiel Peters betraf dies seine Ausdauer, seine soziale (kommunikative) Kompetenz, seine Selbstwirksamkeit, sein „einfaches“ Temperament, seine gesamtgesundheitliche Situation. Diese...

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