Einführung in die Konfliktproblematik
Leser, die sich für die allgemeine sozialwissenschaftliche konflikttheoretische Diskussion interessieren, seien auf die Publikation von Peter Imbusch (2005) »Sozialwissenschaftliche Konflikttheorien – ein Überblick«, aufmerksam gemacht. Imbusch bietet neben dem Überblick zur Konfliktproblematik differenzierte Ausführungen zu einem weiten und engen Konfliktverständnis, zur Relevanz und Bedeutung von Konflikttheorien, zu den Klassifikations- und Differenzierungsmöglichkeiten und zu verschiedenen konflikttheoretischen Ansätzen, den Traditionen konflikttheoretischen Denkens von der Antike bis zur Gegenwart. Akribisch durchläuft er das problemgeschichtliche Verfahren von Heraklit über Hobbes und Machiavelli, Hegel, Marx und Engels, Darwin und Spencer, Nietzsche und Weber bis hin zur Frankfurter Schule und zu aktuellen Ansätzen von Galtung, Rapoport, Dahrendorf, Collins und Luhmann.
Diese Veröffentlichung beschränkt sich bewusst auf Konflikte in der Schule und im Unterricht, auf das Konfliktpotenzial der letzten Jahrzehnte sowie auf die aktuellen Konfliktfelder und Konfliktkonstellationen.
Unter einem Konflikt wird im Rahmen dieser Publikation eine Auseinandersetzung, Belastung und/oder Schwierigkeit verstanden, die bei der beteiligten Person oder den beteiligten Personen zu einer emotionalen Betroffenheit und zu Beeinträchtigungen von unterschiedlicher Relevanz führt.
Damit wird der Konfliktbegriff relativ weit gefasst. Der unterschiedlichen Konfliktrelevanz entsprechend lassen sich Schein-, Rand-, Zentral- und Extremkonflikte unterscheiden (Becker/Dietrich/Kaier 1982, S. 23 ff., Becker/Stadler 1982, Becker 1983).
Scheinkonflikte führen nur zu einer momentanen Betroffenheit und hinterlassen keine Beeinträchtigungen.
Randkonflikte bewirken eine kurzzeitige und geringe emotionale Betroffenheit und hinterlassen nur geringe Beeinträchtigungen.
Zentralkonflikte führen zu einer starken emotionalen Betroffenheit mit Langzeitwirkung und zu starken Beeinträchtigungen.
Extremkonflikte hinterlassen eine sehr starke dauerhafte emotionale Betroffenheit und führen zu Beeinträchtigungen, die nicht korrigierbar sind.
Hauptmerkmal eines Konflikts ist also der Grad der emotionalen Betroffenheit sowie die psychischen, physischen, sozialen und kognitiven Beeinträchtigungen.
Dazu ein Beispiel:
Wenn Schüler miteinander flüstern, der Lehrer sie scharf ansieht und die Schüler sofort wieder bei der Sache sind, liegt ein Scheinkonflikt vor.
Wenn sich Schüler halblaut unterhalten, während der Lehrer einen Sachverhalt erklärt, er die Erklärung kurz unterbricht, die Schüler ermahnt, Ruhe einkehrt und er mit der Erklärung fortfährt, handelt es sich um einen Randkonflikt.
Wenn sich viele Schüler häufig ungeniert laut unterhalten, sodass Lehren und Lernen nur noch unter hohem Zeitverlust möglich sind und die Lernergebnisse weit hinter den Erwartungen zurückbleiben, liegt ein Zentralkonflikt vor.
Und wenn es im Unterricht ständig drunter und drüber geht, sich der Lehrer kein Gehör mehr verschaffen kann, die Schüler ihre Freude daran haben, ihn zu quälen, der Lehrer schließlich resigniert, sich krankmeldet und in eine psychosomatische Klinik eingeliefert wird, handelt es sich um einen Extremkonflikt.
Konflikte können sich innerhalb einer Person, also intrapersonal, abspielen, z.B. als Widerstreit von Motiven, wenn z.B. ein Schüler unsicher ist, ob er sich zum Klassensprecher wählen lassen oder besser im Hintergrund bleiben soll. Oder wenn ein Lehrer Zweifel hegt, ob er sich um eine bestimmte Schulleiterstelle bewerben soll. Zu den intrapersonalen Konflikten zählen auch die Bewusstseinskonflikte (Wagner 1984). Während des Unterrichts überlegen sich Lehrer mehrmals pro Stunde, wie sie sich entscheiden sollen, und sie zweifeln häufig daran, ob ihre Entscheidung auch die richtige sei:
Soll ich die Arbeitsphase verlängern oder den Prozess abbrechen? … Mich dem Schüler direkt zuwenden oder ihn auf später vertrösten? … Die Frage jetzt beantworten oder sie mit einer Begründung zurückstellen? … Die Schüler ermahnen oder über den Randkonflikt hinweg unterrichten? … Soll ich nach dem Medieneinsatz zunächst Partnergespräche initiieren oder gleich in eine allgemeine Aussprache eintreten?…
Bewusstseinskonflikte treten bei gut ausgebildeten und problembewussten Lehrern häufiger auf als bei naiven, weil mit dem Grad der Professionalisierung auch der Blick für die vielen Handlungsmöglichkeiten zunimmt. Allerdings wäre es wohl falsch, die Empfehlung auszugeben, naiv zu bleiben, um so möglichst viele Bewusstseinskonflikte zu vermeiden. Kluge Lehrer müssen nun einmal mit ihren Bewusstseinskonflikten leben. Doch bei etwa 20 Bewusstseinskonflikten pro Unterrichtsstunde und 120 an einem Unterrichtsvormittag lässt sich erklären, warum Lehrer nach sechs Stunden so müde und abgekämpft sind.
Zu den intrapersonalen Konflikten gehören ebenso die Intrarollenkonflikte. Unter einer Rolle versteht man die Gesamtheit der Erwartungen, die an den Träger einer sozialen Position gerichtet werden (Dahrendorf 1965). Der Lehrer hat eine bestimmte soziale Position inne. Schüler, Kollegen, Schulleiter und Eltern richten Erwartungen an ihn. Sind diese unterschiedlich, weiß er oft nicht, welcher Erwartung er gerecht werden soll, und so wird ein Intrarollenkonflikt ausgelöst. Die Schüler möchten z.B. eine Schneeballschlacht durchführen, doch der Schulleiter ist dagegen. Nun steht der Lehrer plötzlich vor der Entscheidung, den Erwartungen der Schüler oder des Schulleiters zu entsprechen, also vor einem Intrarollenkonflikt, den es zu regeln gilt.
Interpersonale Konflikte werden zwischen zwei oder mehr Personen ausgetragen, wenn unterschiedliche Verhaltenstendenzen, Einstellungen oder Haltungen sichtbar werden, die unvereinbar erscheinen. Entsprechend den vorherrschenden interaktionalen Konstellationen gibt es Lehrer-Schüler-Konflikte, Schüler-Schüler-Konflikte, Lehrer-Lehrer-Konflikte, Lehrer-Schulleiter-Konflikte, Konflikte zwischen Schulleitung und Schulaufsicht sowie zwischen Lehrern und Eltern. Ein typischer Lehrer-Schüler-Konflikt liegt vor, wenn ein Schüler während einer Klassenarbeit abschreibt. Schüler-Schüler-Konflikte lassen sich während der Pause auf dem Schulhof beobachten, wenn zwei Schüler sich prügeln. Ein Lehrer-Lehrer-Konflikt bahnt sich an, wenn einer von beiden den ungünstigeren Stundenplan akzeptieren soll. Ein Lehrer-Schulleiterkonflikt liegt vor, sofern sich ein Lehrer weigert, in einer Freistunde wiederholt eine Vertretungsstunde zu übernehmen. Und ein Konflikt zwischen dem Schulleiter und dem zuständigen Schulaufsichtsbeamten bahnt sich an, wenn der Schulleiter es versäumt hat, die angeforderte Statistik fristgerecht zu übermitteln. Eltern-Lehrer-Konflikte treten auf, wenn sich der Unterrichtsausfall häuft, Schüler vor Klassenarbeiten erkranken oder wenn Lehrer fragwürdige Methoden praktizieren. Bei Zentral- und Extremkonflikten gestaltet sich die interaktionale Konstellation allerdings komplexer, weil bald viele Schüler, Lehrer und Eltern über das Ereignis reden und sich mit ihm auseinandersetzen.
Zu den interpersonalen Konflikten gehören auch die Interrollenkonflikte. Ein Lehrer ist schließlich nicht nur seinem Beruf verpflichtet, sondern er ist z.B. auch Ehepartner, Vater, Parteimitglied und Mitglied in einem Verein, d.h., er hat verschiedene Rollen auszufüllen. Erwartungen werden also nicht nur aus dem beruflichen Segment an ihn gerichtet, sondern auch von seiner Frau, den Kindern, den Parteigenossen und Vereinsmitgliedern. Nach dem Unterricht hat er zu entscheiden, welchen Erwartungen er den Vorrang geben soll: Soll ich heute Abend mit meiner Frau ins Kino gehen oder die Klassenarbeit korrigieren? Soll ich mit den Kindern spielen oder mich auf den Unterricht vorbereiten? Diese konkurrierenden Anliegen können...