2 Der Mensch im sozialen Kontext – Sozialpsychologie
Burkhart Brückner
Was Sie in diesem Kapitel lernen können
Die Sozialpsychologie ist eine Teildisziplin der Psychologie und umfasst das menschliche Denken, Fühlen und Handeln in sozialen Zusammenhängen. Sozialpsychologen beschäftigen sich mit psychischen Phänomenen im sozialen Kontext, mit den Wechselbeziehungen zwischen Personen und Gruppen und mit dem Verhältnis zwischen den Individuen und der Gesellschaft. In der sozialpsychologischen Grundlagenforschung werden experimentell begründete Theorien entwickelt, während die angewandte Sozialpsychologie wissenschaftlich fundierte Konzepte für die Praxis zur Verfügung stellt. Das folgende Kapitel präsentiert einige für die Soziale Arbeit besonders wichtige Themengebiete der Sozialpsychologie.
• Sozialer Einfluss: Auf welche Weise beeinflussen Personen andere Menschen und wie werden sie von ihnen beeinflusst? ( Kap. 2.2)
• Soziale Wahrnehmung: Wie erklären wir uns das Verhalten anderer Menschen? Wie entstehen Stereotypen und Vorurteile? ( Kap. 2.3)
• Gruppen: Welche Merkmale und Prozesse prägen das Handeln und die Arbeit in Gruppen? ( Kap. 2.4)
• Prosoziales Handeln: Warum und unter welchen Bedingungen helfen Menschen einander? ( Kap. 2.5)
• Gesundheit: Welche Rolle spielen soziale Beziehungen für die Förderung von Gesundheit und die Vermeidung von Krankheiten? ( Kap. 2.6)
2.1 Warum ist die Perspektive der Sozialpsychologie wichtig für die Soziale Arbeit?
Sozialarbeiter und Sozialarbeiterinnen benötigen sozialpsychologisches Wissen, um die Bedeutung des individuellen und kollektiven Handelns in modernen Gesellschaften zu verstehen. Deshalb fließen sozialpsychologische Kenntnisse in fast jeden professionellen Kontakt ein – sei es in der Beratung für die Gestaltung der Beziehungen zu den Klienten oder sei es für die Gruppenarbeit mit Modellen aus der Kleingruppenforschung. Sozialpsychologische Ergebnisse fundieren das generelle Wissenschafts- und Berufsverständnis in der Sozialen Arbeit, aber auch konkrete Arbeitsvorhaben, etwa Anti-Diskriminierungs-Projekte und Programme zur Stärkung des Hilfeverhaltens oder zur Förderung der Gesundheit. Die Soziale Arbeit profitiert von drei Ebenen des sozialpsychologischen Wissens (Auhagen/Bierhoff 2003):
1. Die sozialpsychologische Grundlagenforschung vermittelt fundamentales Wissen über die sozialen Beziehungen im menschlichen Leben. Sie bietet eine wissenschaftliche Perspektive auf das wechselseitige Verhältnis zwischen Individuum und Gesellschaft und die subjektive Verarbeitung von sozialen Zusammenhängen. Dies betrifft z. B. die Fragen, in welcher Weise die Menschen sich das Handeln von anderen Personen erklären, wie sich in Gruppen Minderheiten gegen Mehrheiten behaupten können oder wie zwischenmenschliches Mitgefühl entsteht.
2. Die angewandte Sozialpsychologie ermöglicht theoriehaltige Erklärungen von konkreten sozialen Prozessen und Problemstellungen. Darauf aufbauend können die Aufgabenfelder, Konzepte und Methoden der Sozialen Arbeit fachgerecht entwickelt werden. Die angewandte Sozialpsychologie bietet u. a. Modelle für die Balance von Nähe und Distanz, für den Zusammenhang zwischen Selbstwahrnehmung und Fremderfahrung, für die Arbeit in Gruppen und die Regulation von sozialen Konflikten. Charakteristische Problemstellungen sind: Welche Regeln gelten für eine produktive und gute Kommunikation im Team? Inwiefern beeinflusst soziale Unterstützung die Bewältigung von Krankheiten? Was zeichnet gut funktionierende Familien aus?
3. Die praktische Sozialpsychologie trägt auf wissenschaftlicher Grundlage zu alltagsrelevanten Problemlösungen bei. Vor dem Hintergrund sozialpsychologischer Konzepte können in Institutionen, Teams oder Arbeitsgruppen flexible und angemessene Lösungen für konkrete Konfliktsituationen im ›Hier und Jetzt‹ deutlich werden. Dies betrifft etwa die Betreuung von verhaltensauffälligen Kindern und Jugendlichen, Probleme zwischen Lehrern und Schülern oder die professionelle Haltung als Streetworker.
Die Soziale Arbeit nutzt Ergebnisse, die auf jeder dieser drei Ebenen gewonnen werden. Wie aber definieren Sozialpsychologen ihre wissenschaftliche Tätigkeit?
Sozialpsychologie als Wissenschaft
In der Sozialpsychologie werden allgemeine Merkmale des menschlichen Erlebens und Handelns im sozialen Kontext erforscht. Das Soziale, der gesellschaftliche Kontext des Individuums, ergibt sich im Lebenslauf
• aus der realen oder symbolischen Präsenz anderer Personen,
• durch die Beziehungen zu ihnen im Sozialraum,
• mit den jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnissen und Kulturräumen,
• aus den konkreten materiellen Rahmenbedingungen der Lebenswelten und
• den jeweils bedeutsamen Normen, sozialen Rollen und biographischen Ereignissen.
Vom psychologischen Standpunkt aus gesehen, werden diese Kontextbedingungen individuell wahrgenommen und im Handlungszusammenhang psychisch verarbeitet – die objektiven Bedingungen werden subjektiv erfahren. Mit dieser subjektiven Erfahrung sind bewusste oder unbewusste Bewertungen, Handlungsmodelle und Sinnzuweisungen verbunden. Nur mit dieser individuellen Vermittlung, also im Zuge der psychischen Verarbeitung, werden gesellschaftliche Kontextbedingungen zu ›wirksamen‹ Handlungsvoraussetzungen. Nicht die Lebensbedingungen als solche ›verursachen‹ Handlungen, sondern die Menschen verhalten sich aktiv zu diesen Bedingungen und gestalten so ihre Lebensführung.
Die empirischen Ergebnisse der sozialpsychologischen Forschung werden durch Experimente, Befragungen, Feldbeobachtungen, Interviews oder Dokumentenanalysen erzielt. Nach Graumann (1979) bezieht sich diese weit verzweigte Forschung
• auf das Individuum, sein Verhalten und seine psychischen Prozesse im sozialen Kontext,
• auf die interindividuellen Wechselwirkungen zwischen mehreren Personen sowie
• auf die jeweils individuell bedeutsamen Strukturen von sozialen Systemen.
Die klassische und am häufigsten zitierte Definition der Sozialpsychologie stammt von dem amerikanischen Psychologen Gordon Allport (1954a, 5):
»Mit wenigen Ausnahmen sehen Sozialpsychologen ihre Disziplin als einen Versuch an, zu verstehen und zu erklären, wie die Gedanken, Gefühle und Verhaltensweisen von Individuen durch die tatsächliche, vorgestellte oder implizite Anwesenheit anderer menschlicher Wesen beeinflusst werden.«
Im Mittelpunkt stehen hier weniger die jeweiligen Persönlichkeitszüge oder die biologische Ausstattung der Individuen, sondern das Verhalten der Personen in sozialen Situationen, ihre Interaktionen und die verinnerlichte, psychische Repräsentation des Sozialen. Die klassische Sozialpsychologie konzentriert sich häufig auf die jeweils aktuellen, äußeren Bedingungen des individuellen Handelns. Im Vordergrund steht die Frage, welchen momentanen Einfluss diese situativen Bedingungen auf das Verhalten der Personen ausüben. Der Ansatz entspricht somit einem eindeutig naturwissenschaftlichen Beobachtungs- und Forschungsmodell: Das Verhalten einer Person (»abhängige Variable«) wird in einen messbaren Zusammenhang mit methodisch kontrollierten Umweltmerkmalen (»unabhängige Variable«) gebracht, um zu beobachten, wie sich das Verhalten unter verschiedenen (Labor-)Bedingungen verändert. Deshalb ist das Experiment der ›Königsweg‹ der klassischen Sozialpsychologie, um Kausalhypothesen zu den untersuchten Phänomenen durch statistische Methoden zu überprüfen. Neben Laborexperimenten werden auch Feldexperimente unter natürlichen Bedingungen sowie Umfragemethoden eingesetzt. Bedeutende Forscher, wie etwa Stanley Milgram (1933–1984), Solomon Ash (1907–1996) oder Henri Tajfel (1919–1982), haben dazu beigetragen, dass dieser, v. a. aus den USA stammende, individualwissenschaftliche Ansatz zum dominierenden ›Hauptstrom‹ der akademischen Sozialpsychologie wurde.
Eine neuere Definition der Sozialpsychologie setzt weitere Akzente: Nach Johanna Hartung (2009, 16) wird in der Sozialpsychologie das Individuum »als Akteur im sozialen Kontext betrachtet, dessen Wahrnehmung, Denken, Fühlen und Handeln sich in der Interaktion mit der sozialen Umwelt entwickelt, das gestaltend auf eine...