Geleitwort von Eva-Lotta Brakemeier
Mit Neugier habe ich das vorliegende Buch „Essentials der Psychotherapie – Praxis und Forschung im Diskurs“, herausgegeben von den wertgeschätzten Kollegen Martin Rufer und Christoph Flückiger, aufgeschlagen und mit Freuden gelesen: neugierig aufgeschlagen, da ein derartiges Buch, in welchem schulenübergreifendes Experten-Praxiswissen direkt wissenschaftlich kommentiert wird, in der bisherigen psychotherapeutischen Buchlandschaft einzigartig ist; mit Freuden gelesen, da ich, die als Wissenschaftlerin und Psychotherapeutin stets die Verschränkung von Wissenschaft und Therapiepraxis anstrebt, in diesem Buch ein sehr gelungenes Beispiel für die Umsetzung eben dieses „Scientist-Practitioner“-Anspruchs vorfinde.
Fünf extrem erfahrene TherapeutInnen, die dieses Buch mitgestaltet haben, haben sich durch langjährige Berufspraxis als PsychotherapeutInnen, SupervisorInnen und AusbilderInnen einen unschätzbaren Fundus an Wissen und Erfahrung angeeignet, der sie zu ExpertInnen im Kontext von Therapie, Aus- und Weiterbildung macht. Derartige therapeutische Expertise wird jedoch meist nur mündlich während Aus- und Weiterbildungen bzw. Supervisionen weitergegeben. In diesem Buch erhalten diese therapeutisch-praktischen ExpertInnen jedoch eine nachhaltige Stimme, indem sie ihre hilfreichen Heuristiken der Psychotherapie schriftlich dokumentieren und somit ihr Handlungswissen, das in (Lehr-)Büchern selten erfasst wird, versprachlichen. Um zeitgleich dem wissenschaftlichen Anspruch, der jegliche Psychotherapie begleiten sollte, gerecht zu werden, wurden fünf ausgewiesene ExpertInnen der Psychotherapie-Forschung eingeladen, diese Heuristiken wissenschaftlich zu reflektieren, zu differenzieren und zu kommentieren. Als Resultat sind folgende höchst spannende, sehr lehrreiche und bedingt durch zahlreiche Praxisbeispiele auch kurzweilige „Paar-Beiträge“ entstanden: zur Bedeutung des Vertrauens und der Selbstwirksamkeit (Martin Rufer – Ulrike Dinger), zum Nachdenken über das Menschen- bzw. Therapeutenbild (Annette Kämmerer – Christoph Flückiger), zum positiven Denken im Spannungsfeld von Selbstabwertung, Selbstzweifeln und Akzeptanz (Dirk Zimmer – Ulrike Willutzki) und zu allgemein menschlichen und kulturbedingten Prozessen in der Therapie und Supervision (Verena Kast – Maria Borcsa). In einem zusammenfassenden Resümee der beiden Herausgeber, welche ebenfalls als Vertreter der Experten-Praxisseite (Rufer) bzw. der Experten-Forschungsseite (Flückiger) ein wunderbares Team bilden, wird dieses kontextuelle Wissen im wechselseitigen Diskurs gekonnt zusammengefasst.
Als ich mich als junge Psychotherapeutin in Ausbildung bei meinen ersten stationären Psychotherapien ein wenig wie ins kühle Wasser geworfen fühlte, half mir – abgesehen von den begleitenden Theorieseminaren am Wochenende, wenigen im Studium erworbenen praktischen Psychotherapie-Kompetenzen sowie einem „gesunden Therapeutenverstand“ – v.a. das Buch „Der Panama-Hut: oder Was einen guten Therapeuten ausmacht“ von Irving Yalom (2010). In diesem Buch konnte ich Ratschläge und Empfehlungen für besondere oder schwierige Therapiesituationen schnell nachschlagen, mit denen ich mich in den ersten Monaten als Novizin konfrontiert sah. Das vorliegende Buch kann für junge NovizInnen (PsychologInnen, Ärzte, BeraterInnen) eine ähnliche Funktion übernehmen, wobei die reichhaltigen und wertvollen Empfehlungen zur Praxis zum Nachdenken anregen und zudem eingebettet werden in den wissenschaftlichen Diskurs, was ich als besonders wertvoll empfinde. Für fortgeschrittene TherapeutInnen in Aus- und Weiterbildung oder bereits Experten-TherapeutInnen sowie KollegInnen, die sich primär als Psychotherapie-ForscherInnen verstehen, mag dieses Buch jedoch auch eine wahre Fundgrube bzw. Schatzkiste an wertvollem Praxis- und Wissenschaftswissen aus mindestens zwei Gründen sein:
- Dieses Praxis- und Wissenschaftswissen ist nicht nur nationen- und geschlechterübergreifend dargestellt, sondern auch schulenübergreifend bzw. integrativ einzuordnen, was leider immer noch eine Besonderheit darstellt bei deutschsprachigen psychotherapeutischen Werken. Somit vermag es integrativ denkende und handelnde TherapeutInnen, die sich in unterschiedlichen Therapieschulen oder -richtungen beheimatet fühlen, auch vielerlei Anregungen zu geben, nicht zuletzt hinsichtlich der jeweiligen Therapeutenidentität und therapeutischen Haltung.
- Das Buch mindert die leider oft bestehende Kluft zwischen Forschung und Praxis (vgl. Bohus, 2015; Eiling et al., 2014) und folgt damit dem derzeit zurecht ins Zentrum der Forschung gerückten Paradigma der „Praxisbezogenen Forschung“ (Practice Research Network; z.B. Castonguay et al., 2010). Dieses Buch gibt zunächst und somit in erster Linie der Praxis eine Stimme und nicht – wie beispielsweise in dem ebenfalls höchst empfehlenswerten Buch „Die Psychotherapie-Debatte“ (Wampold, Imel & Flückiger, 2017) – zunächst der Forschung. Somit erreicht es hoffentlich auch die TherapeutInnen, die sich eher in der Praxis beheimatet fühlen. Jede(r) PsychotherapeutIn sollte meiner Meinung nach auch wissenschaftlich denken, im Sinne von: ihr/sein Tun systematisch zu hinterfragen bzw. zu reflektieren, wissenschaftliche Erkenntnisse systematisch zu nutzen, bei der Interpretation von „wissenschaftlichen“ oder „praxisbasierten“ Befunden die zugrundeliegende Methodik zu berücksichtigen und am besten auch selbst in irgendeiner Form zur Erweiterung der wissenschaftlichen Fundierung von Psychotherapie beizutragen. Schon in unserem Lehrbuch „Praxis der Verhaltenstherapie“ (Brakemeier & Jacobi, 2017) haben wir argumentiert, dass eine schlüssige Begründung dafür, in der Praxis nicht auch eine theoretische empirische Haltung einzunehmen, nicht ausmachbar ist. Gleichwohl ist der Versorgungsdruck im Praxisalltag (zum Teil bereits in der Ausbildung) als Argument für eine niedrige Priorisierung der Beschäftigung mit wissenschaftlichen Fragen nicht einfach von der Hand zu weisen, weshalb Bücher wie diese mehr als willkommen sind!
Schließlich halte ich dieses Buch aus folgendem Grund für zukunftweisend: Viele der Beiträge weisen in der Zusammenschau auch auf die Bedeutung einer personalisierten bzw. individualisierten bzw. präzisen Psychotherapie hin, was die zum Beispiel von Alan E. Kazdin aufgeworfene wichtige, jedoch zeitgleich auch schwierig zu beantwortete Psychotherapie-Forschungsfrage adressiert: What works for whom (z.B. Kazdin, 2007; aber auch Roth & Fonagy, 2005)? In einer aktuellen Übersichtsarbeit zur innovativen Psychotherapieforschung visionieren wir entsprechend, dass die Psychotherapie auf dem Weg zu einer evidenzbasierten, individualisierten und modularisierten Psychotherapie sei (Brakemeier & Herpertz, in press). Hiermit ist nicht gemeint, dass jeder Therapeut einfach das macht, was er gut kann – wie Rufer und Flückiger es in ihrem Schlussdiskurs am Ende dieses Buches zu Recht explizit diskutieren. Vielmehr gilt es in diesem Zusammenhang, Psychotherapie jeweils evidenzbasiert auf die individuellen Probleme und Bedürfnisse eines jeden Patienten zu „tailoren“, also maßzuschneidern oder abzustimmen, was in den Beiträgen immer wieder – sei es direkt oder indirekt – beschrieben oder gefordert wird (insb. in den „Paar-Beiträgen“ von Hans Lieb und Günther Schiepek). Zurecht weisen Rufer und Flückiger in diesem Zusammenhang auf eine allseits verbindliche Qualitätskontrolle hin, welche im deutschsprachigen Raum noch zu wenig etabliert ist. Hier sei an Feedbackprozesse zu denken, wie sie beispielsweise in der Arbeitsgruppe um Wolfgang Lutz vorbildlich eingeführt und evaluiert werden (vgl. „Trier Treatment Navigator“; Lutz et al., 2019). Ich begrüße den gesundheitspolitischen Apell der AutorInnen und Herausgeber am Ende ihres Werkes sehr, der uns PraktikerInnen und ForscherInnen auffordert, der (Gesundheits-)Politik pro-aktiv gesellschaftspolitisch relevante Vorschläge zu machen, beispielsweise wie und mit welchen geeigneten wissenschaftlich basierten Mitteln im Praxisalltag die Qualität unserer Arbeit erfasst und gesichert werden kann (wobei auch die negativen Effekte der Psychotherapie erfasst und vermindert werden sollten; Linden et al., 2018), aber auch wie Psychotherapie am besten in die medizinischen Kontexte eingebettet werden kann oder das Image der Psychotherapie verbessert und damit Barrieren zum Zugang durchbrochen werden können.
Summa summarum wünsche ich den beiden Herausgebern und den acht Autorinnen und Autoren, dass dieses vorliegende Buch auf dem Nachttischchen, im Reisegepäck, jedoch auch als vertiefende Seminarliteratur in der Aus- und Weiterbildung seinen wichtigen und festen Platz findet und somit von vielen anderen PraktikerInnen und WissenschaftlerInnen mit vorfreudiger Neugier und neugieriger Freude gelesen wird.
Eva-Lotta Brakemeier, Prof. Dr., Philipps-Universität Marburg, Fachbereich Psychologie
Literatur
Brakemeier, E.L. & Herpertz, S. (in press). Innovative Psychotherapieforschung: Auf dem Weg zu einer evidenzbasierten individualisierten und modularisierten Psychotherapie. Nervenarzt.
Brakemeier, E.L. & Jacobi, F. (2017). Verhaltenstherapie in der Praxis. Weinheim: Beltz.
Bohus, M. (2015). Elfenbeintürme im Treibsand oder: Was macht es so schwierig, Erkenntnisse aus der Forschung in der therapeutischen Praxis umzusetzen? Verhaltenstherapie, 25, 145–155.
Castonguay, L.G., Nelson, D.L., Boutselis, M.A., Chiswick, N.R., Damer, D.D., Hemmelstein, N.A. et al. (2010). Psychotherapists, researchers,...