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E-Book

Die Weiße Rose

AutorInge Scholl
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2011
ReiheDie Zeit des Nationalsozialismus ? »Schwarze Reihe« 
Seitenanzahl208 Seiten
ISBN9783104013107
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Die 'Weiße Rose' wurde zum Symbol einer Aktion, mit der einige Münchner Studenten zum Widerstand gegen die Diktatur Hitlers aufriefen. Sie bezahlten dafür mit ihrem Leben: im Februar 1943 fielen sie der Gestapo in die Hände. Die Geschwister Hans und Sophie Scholl waren unter den Hingerichteten. Inge Scholl, die Schwester, erzählt mit Hilfe von geretteten Dokumenten die Vorgeschichte und den Verlauf der Bewegung. Diese Ausgabe enthält außerdem Gerichtsurteile, Pressereaktionen und Augenzeugenberichte.

Ilse Aichinger wurde am 1. November 1921 in Wien geboren. 1948 veröffentlichte sie ihren Roman über die Kriegszeit in Wien, »Die größere Hoffnung«, und ihre ersten berühmten Geschichten. Für ihren Roman, ihre Gedichte, Hörspiele und Prosastücke, die in viele Sprachen übersetzt wurden, erhielt sie zahlreiche literarische Auszeichnungen, u. a. 1952 den Preis der Gruppe 47, 1982 den Petrarca-Preis, 1983 den Franz-Kafka-Preis, 1995 den Österreichischen Staatspreis für Literatur und 2015 den Großen Kunstpreis des Landes Salzburg. Ilse Aichinger starb am 11. November 2016 im Alter von 95 Jahren.

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Leseprobe

Die weisse Rose


In den frühlinghaften Februartagen nach der Schlacht bei Stalingrad fuhr ich in einem Vorortzug von München nach Solln. Neben mir saßen zwei Parteigenossen im Abteil, die sich flüsternd über die jüngsten Ereignisse in München unterhielten. »Freiheit« war in großen Buchstaben an die Universität geschrieben worden, »Nieder mit Hitler« auf die Straßen, Flugblätter waren gefallen, die zum Widerstand aufriefen, die Stadt war wie von einem Stoß erschüttert. Zwar stand alles noch wie zuvor, das Leben ging weiter wie je, aber im geheimen war etwas verändert. Das merkte ich an dem Gespräch der beiden Männer, die sich hier im Abteil gegenübersaßen und ihre Köpfe zusammensteckten. Sie sprachen vom Ende des Krieges und was sie tun würden, wenn es plötzlich vor ihnen stünde. »Es wird nichts übrigbleiben, als sich zu erschießen«, meinte der eine und blickte rasch zu mir herüber, ob ich vielleicht etwas verstanden hätte.

Wie mögen diese beiden Männer aufgeatmet haben, als wenige Tage später überall brennend rote Plakate zur Beruhigung der Bevölkerung angeschlagen waren, auf denen zu lesen stand:

Wegen Hochverrats wurden zum Tode verurteilt:

 

Der 24jährige Christoph Probst

der 25jährige Hans Scholl

die 22jährige Sophia Scholl.

Das Urteil wurde bereits vollstreckt.

Die Presse schrieb von verantwortungslosen Einzelgängern, die sich durch ihr Tun automatisch aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen hätten. Von Mund zu Mund erzählte man sich, daß an die hundert Personen verhaftet worden waren, und daß noch weitere Todesurteile zu erwarten seien. Der Präsident des Volksgerichtshofes war im Flugzeug eigens von Berlin gekommen, um kurzen Prozeß zu machen.

In einem zweiten, späteren Verfahren wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet:

Willi Graf

Professor Kurt Huber

Alexander Schmorell.

Was hatten diese Menschen getan? Worin bestand ihr Verbrechen?

Während die einen über sie spotteten und sie in den Schmutz zogen, sprachen die anderen von Helden der Freiheit.

Aber kann man sie Helden nennen? Sie haben nichts Übermenschliches unternommen. Sie haben etwas Einfaches verteidigt, sind für etwas Einfaches eingestanden, für das Recht und die Freiheit des einzelnen Menschen, für seine freie Entfaltung und ein freies Leben. Sie haben sich keiner außergewöhnlichen Idee geopfert, haben keine großen Ziele verfolgt; was sie wollten, war, daß Menschen wie du und ich in einer menschlichen Welt leben können. Und vielleicht liegt darin das Große, daß sie für etwas so Einfaches eintraten und ihr Leben dafür aufs Spiel setzten, daß sie die Kraft hatten, das einfachste Recht mit einer letzten Hingabe zu verteidigen. Vielleicht ist es schwerer, ohne allgemeine Begeisterung, ohne große Ideale, ohne hohe Ziele, ohne deckende Organisationen und ohne Verpflichtung für eine gute Sache einzustehen, und allein und einsam sein Leben für sie einzusetzen. Vielleicht liegt darin das wirkliche Heldentum, beharrlich gerade das Alltägliche, Kleine und Naheliegende zu verteidigen, nachdem allzuviel von großen Dingen geredet worden ist.

 

Das beschauliche Städtchen im Kochertal, in dem wir unsere Kindertage verbrachten, schien von der großen Welt vergessen. Die einzige Verbindung mit dieser Welt war eine gelbe Postkutsche, die die Bewohner in langer, rumpelnder Fahrt zur Bahnstation brachte. Mein Vater jedoch, der dort Bürgermeister war, sah mit großem Kummer die Nachteile dieser Weltabgeschiedenheit und setzte es schließlich in zähem Kampf gegen manchen Bauernschädel durch, daß endlich eine Eisenbahn gebaut wurde.

Uns aber erschien die Welt dieses Städtchens nicht klein, sondern weit und groß und herrlich. Wir hatten auch bald begriffen, daß sie am Horizont, wo die Sonne auf- und unterging, noch lange nicht zu Ende war.

Aber eines Tages rollten wir auf den Rädern unserer geliebten Eisenbahn mit Sack und Pack davon, weit fort über die Schwäbische Alb. Ein großer Sprung war getan, als wir in Ulm, der Stadt an der Donau, die nun unsere neue Heimat werden sollte, ausstiegen. Ulm – das hörte sich an wie der Klang der größten Glocke vom gewaltigen Münster. Zuerst hatten wir großes Heimweh. Doch viel Neues zog bald unsere Aufmerksamkeit auf sich, besonders die Höhere Schule, in die wir fünf Geschwister eines nach dem andern eintraten.

 

An einem Morgen hörte ich auf der Schultreppe eine Klassenkameradin zur andern sagen: »Jetzt ist Hitler an die Regierung gekommen.« Und das Radio und alle Zeitungen verkündeten: »Nun wird alles besser werden in Deutschland. Hitler hat das Ruder ergriffen.«

Zum erstenmal trat die Politik in unser Leben. Hans war damals 15 Jahre alt, Sophie 12. Wir hörten viel vom Vaterland reden, von Kameradschaft, Volksgemeinschaft und Heimatliebe. Das imponierte uns, und wir horchten begeistert auf, wenn wir in der Schule oder auf der Straße davon sprechen hörten. Denn unsere Heimat liebten wir sehr, die Wälder, den Fluß und die alten, grauen Steinriegel, die sich zwischen den Obstwiesen und Weinbergen an den steilen Hängen emporzogen. Wir hatten den Geruch von Moos, von feuchter Erde und duftenden Äpfeln im Sinn, wenn wir an unsere Heimat dachten. Und jeder Fußbreit war uns dort vertraut und lieb. Das Vaterland, was war es anderes als die größere Heimat all derer, die die gleiche Sprache sprachen und zum selben Volke gehörten. Wir liebten es und konnten kaum sagen, warum. Man hatte bisher ja auch nie viele Worte darüber gemacht. Aber jetzt, jetzt wurde es groß und leuchtend an den Himmel geschrieben. Und Hitler, so hörten wir überall, Hitler wolle diesem Vaterland zu Größe, Glück und Wohlstand verhelfen; er wolle sorgen, daß jeder Arbeit und Brot habe; nicht ruhen und rasten wolle er, bis jeder einzelne Deutsche ein unabhängiger, freier und glücklicher Mensch in seinem Vaterland sei. Wir fanden das gut, und was immer wir dazu beitragen konnten, wollten wir tun. Aber noch etwas anderes kam dazu, was uns mit geheimnisvoller Macht anzog und mitriß. Es waren die kompakten Kolonnen der Jugend mit ihren wehenden Fahnen, den vorwärtsgerichteten Augen und dem Trommelschlag und Gesang. War das nicht etwas Überwältigendes, diese Gemeinschaft? So war es kein Wunder, daß wir alle, Hans und Sophie und wir anderen, uns in die Hitlerjugend einreihten.

Wir waren mit Leib und Seele dabei, und wir konnten es nicht verstehen, daß unser Vater nicht glücklich und stolz ja dazu sagte. Im Gegenteil, er war sehr unwillig darüber, und zuweilen sagte er: »Glaubt ihnen nicht, sie sind Wölfe und Bärentreiber, und sie mißbrauchen das deutsche Volk schrecklich.« Und manchmal verglich er Hitler mit dem Rattenfänger von Hameln, der die Kinder mit seiner Flöte ins Verderben gelockt hatte. Aber Vaters Worte waren in den Wind gesprochen, und sein Versuch, uns zurückzuhalten, scheiterte an unserer Begeisterung.

Wir gingen mit den Kameraden der Hitlerjugend auf Fahrt und durchstreiften in weiten Wanderungen unsere neue Heimat, die Schwäbische Alb.

Wir liefen lange und anstrengend, aber es machte uns nichts aus; wir waren zu begeistert, um unsere Müdigkeit einzugestehen. War es nicht großartig, mit jungen Menschen, denen man sonst vielleicht nie nähergekommen wäre, plötzlich etwas Gemeinsames und Verbindendes zu haben? Wir trafen uns zu den Heimabenden, es wurde vorgelesen und gesungen, oder wir machten Spiele oder Bastelarbeiten. Wir hörten, daß wir für eine große Sache leben sollten. Wir wurden ernst genommen, in einer merkwürdigen Weise ernst genommen, und das gab uns einen besonderen Auftrieb. Wir glaubten, Mitglieder einer großen Organisation zu sein, die alle umfaßte und jeden würdigte, vom Zehnjährigen bis zum Erwachsenen. Wir fühlten uns beteiligt an einem Prozeß, an einer Bewegung, die aus der Masse Volk schuf. Manches, was uns anödete oder einen schalen Geschmack verursachte, würde sich schon geben – so glaubten wir. Einmal sagte eine fünfzehnjährige Kameradin im Zelt, als wir uns nach einer langen Radtour unter einem weiten Sternenhimmel zur Ruhe gelegt hatten, ziemlich unvermittelt: »Alles wäre so schön – nur die Sache mit den Juden, die will mir nicht hinunter.« Die Führerin sagte, daß Hitler schon wisse, was er tue, und man müsse um der großen Sache willen manches Schwere und Unbegreifliche akzeptieren. Das Mädchen jedoch war mit dieser Antwort nicht ganz zufrieden, andere stimmten ihr bei, und man hörte plötzlich die Elternhäuser aus ihnen reden. Es war eine unruhige Zeltnacht – aber schließlich waren wir doch zu müde. Und der nächste Tag war herrlich und voller Erlebnisse. Das Gespräch der Nacht war vorläufig vergessen.

In unseren Gruppen entstand ein Zusammenhalt, der uns über die Schwierigkeiten und die Einsamkeit jener Entwicklungsjahre hinwegtrug, vielleicht auch hinwegtäuschte.

Hans hatte sich einen Liederschatz gesammelt, und seine Jungen hörten es gerne, wenn er zur Gitarre sang. Es waren nicht nur die Lieder der Hitlerjugend, sondern auch Volkslieder aus allerlei Ländern und Völkern. Wie zauberhaft klang doch solch ein russisches oder norwegisches Lied in seiner dunklen, ziehenden Schwermut. Was erzählte es einem nicht von der Eigenart jener Menschen und ihrer Heimat.

Aber nach einiger Zeit ging eine merkwürdige Veränderung in Hans vor, er war nicht mehr der alte. Etwas Störendes war in sein Leben...

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