Einleitung
Neulich gab es in unserem Viertel ein Konzert: Jungs mit Bob-Marley-Frisur schrummelten auf ihren E-Gitarren und die Jugendlichen im Publikum wippten im Takt; mitten auf der Straße und bis spät in die Nacht. Unglaublich. Wilde Konzerte von Bands, deren Musik schräg und deren Texte bitterböse sind, so etwas hat es in Kairo bisher nicht gegeben. Oder wenn, dann kam ziemlich schnell die Polizei. Das hat sich geändert: In diesem Frühling blüht die Kulturszene richtig auf. Willkommen im neuen Ägypten!
Einige Wochen zuvor an der amerikanischen Botschaft: Männer mit rotgefärbten Bärten und Frauen mit Gesichtsschleier fordern die Freilassung des blinden Scheichs Omar Abdel Rahman, der wegen Terrorverstrickung in einem US-Gefängnis sitzt. Diese Demonstranten galten bisher als Terroristen, wurden im Gefängnis gefoltert oder standen unter Hausarrest. Jetzt stehen sie hier im Botschaftsviertel von Kairo und rufen ihre Parolen. Die Polizei steht daneben und schaut zu. In diesem Frühling gibt es ungeahnte Freiheiten. Wie gesagt: Willkommen im neuen Ägypten!
Die Revolution am Nil ist nicht nur eine politische Revolution. Sie hat nicht nur die Regierung gestürzt, sie hat auch die Gesellschaft durcheinandergewirbelt. Es sind Freiräume entstanden. Freiräume für unabhängige Kultur, aber Freiräume auch für jene Kräfte, denen genau diese Kultur ein Dorn im Auge ist: Im neuen Ägypten melden sich islamische Gruppen zu Wort, die lange unterdrückt waren. Männer mit langen Bärten und Frauen mit Schleier, plötzlich scheinen sie überall zu sein und das macht vielen liberalen Muslimen und Christen in Ägypten Sorgen. Vor allem, weil niemand genau weiß, was sie eigentlich wollen. Sie widersprechen sich, fordern heute dies und morgen jenes. Auch das ist neu und ein gutes Zeichen. Es wird diskutiert und gestritten: Was will der Islam und welche Rolle soll er in der neuen Zeit spielen? Der Arabische Frühling ist – so die These dieses Buches – auch ein Islamischer Frühling. Die Konsequenzen dieser Entwicklung werden mindestens so einschneidend sein wie die des Sturzes der Regierungen von Tunis, Kairo und Sanaa.
Ägypten war schon immer Trendsetter in der Region. Ganz besonders in Islamfragen. Hier entstand 1928 die Muslimbruderschaft, von hier kommt der neue Chef von Al Kaida und von Kairo aus verbreitete sich auch im vergangenen Jahrzehnt der coole neue Pop-Islam mit seiner Kopftuchmode und frommen Pop-Sängern. Auch die Entwicklungen dieses Frühjahrs – das ist absehbar – werden auf den Rest der islamischen Welt abfärben. Erste Impulse sind sogar schon jetzt in Deutschland angekommen, wie Gespräche mit jungen Muslimen belegen.
Die Umwälzungen in der Gesellschaft und gerade die Neuorientierung der Religiösen bedeutet für Europa eine große Chance: Das Freund-Feind-Raster des vergangenen Jahrzehnts, geprägt durch den Krieg gegen den Terror und den tiefer werdenden Graben zwischen dem Westen und dem Islam, beginnt zu bröckeln; zumindest auf der südlichen Seite des Mittelmeeres. Nicht mehr der 11. September 2001 mit allen seinen negativen Elementen soll in Zukunft das Bezugsdatum sein, wenn es um die Beziehungen zwischen der Islamischen Welt und dem Westen geht. Mit dem Arabischen Frühling hat eine neue Zeit angefangen. Junge Araber haben nicht mehr das Gefühl sich rechtfertigen zu müssen dafür, dass eine Minderheit ihre Religion für den Terror missbraucht. »Habt ihr eure Meinung über uns jetzt geändert?«, ist eine vielgestellte Frage in dieser Zeit. Sie sind stolz auf das, was sie geschafft haben und dieses neue Selbstbewusstsein ist ein guter Ausgangspunkt für neue Beziehungen.
Allerdings erfordert dies von unserer Seite eine Anstrengung: Wir müssen hinschauen, bereit sein unsere Meinung zu ändern auch über Phänomene, von denen wir bisher dachten, dass wir wüssten, was sich dahinter verbirgt. Ein Islamist ist nicht gleich ein Islamist und selbst bei dem, was wir bisher sicher für Terror hielten, ist ein genauerer Blick gefragt. In den Akten der ägyptischen Staatssicherheit sind Hinweise aufgetaucht, die manche der Anschläge der letzten Jahre – zum Beispiel auf dem Sinai 2005 – in einem anderen Licht erscheinen lassen. Womöglich waren es gar nicht immer Terroristen, welche die brutalen Taten begingen. Einzelheiten sind weiter unklar, des Öfteren scheinen jedoch die ägyptische Regierung und ihr Geheimdienst die Finger im Spiel gehabt zu haben. Und wenn Ägypten so etwas tat, was haben dann die anderen arabischen Regierungen gemacht? Die Angst vor dem Terror war ein wichtiger Grund, weshalb Europa und die USA den Diktatoren in der Region all die Jahre die Treue gehalten haben. Womöglich müssen wir die Geschichte des islamischen Terrors und des Kampfes gegen ihn, welcher ja die vergangenen 10 Jahre sehr geprägt hat, noch einmal umschreiben.
Dieses Buch beginnt am Tahrir-Platz, wo am 25. Januar 2011 gegen 15 Uhr ein Wunder passierte und plötzlich nichts mehr so war, wie man immer gedacht hatte. Im ersten Teil beschreibe ich noch einmal Tag für Tag dieses Wunder von Kairo mit allen seinen Höhen und Tiefen. Für mich persönlich war dies eine wunderbare und zugleich nervenaufreibende Zeit. Seit 2008 arbeite ich als Korrespondentin in Kairo. Ich lebe hier mit meiner Familie. »Mama, ich will Schokokuchen machen!« sagte unsere ältere Tochter am vierten Tag der Revolution. Das war der Tag, an dem Handys und Internet ausgeschaltet wurden. »Klar, machen wir, wenn das hier vorbei ist!« Auf die Nachfrage der Siebenjährigen, wann das ungefähr sein werde, sagte ich: »Wenn der Präsident abgetreten ist!« Seitdem wartete sie und verfolgte im Fernsehen mit, was Al Dschasira und Co berichteten. Den Kuchen backte sie schließlich mit meiner Schwester in Deutschland. Nachdem die Schlägerbanden mit Pferden und Kamelen auf den Tahrir gestürmt waren und die Stimmung sich gegen Ausländer richtete, brachte mein Mann die Mädchen nach Deutschland. Urlaub bei der Familie, weg von Panzern und Schlägertrupps.
Im zweiten Teil gehe ich der Frage nach, wie es zum »Wunder« gekommen ist. Viele sprechen von einer Facebook-Revolution, andere sagen, Einflüsse von außen hätten dazu geführt. Doch in Ägypten ist schon seit Jahren eine Protestbewegung herangewachsen und – das ist das Entscheidende – es ist eine Zusammenarbeit von Aktivisten entstanden, welche über ideologische Grenzen hinweg ging. Da trafen sich junge Muslimbrüder mit den Anhängern liberaler Ideen, Sozialisten und Marxisten und sie alle fanden, dass sie ein Ziel haben: Freiheit! Nicht zuletzt passierte das Wunder von Kairo im Arabischen Frühling. Ägypten hat sich bei Tunesien angesteckt und nachdem der Sturz Mubaraks geglückt war, kannten auch die Jugendlichen in anderen arabischen Staaten kein Halten mehr.
Im dritten Kapitel geht es um die anderen arabischen Länder: Libyen, Bahrain, Syrien und Jemen. Ich hoffe inständig, dass dieser Teil des Buches zumindest in seinem düsteren Ausblick am Ende überholt ist, wenn Sie, liebe Leser, es in den Händen halten. Hoffentlich ist nach dem Sommer das Kapitel Muammar al Gadhafi, Baschar al Assad und Ali Abdullah Saleh abgeschlossen und auch in Bahrain sieht es nicht mehr ganz so finster aus.
Das Problem, dass es schwierig ist, Ereignisse zu beschreiben und zu analysieren, die noch nicht abgeschlossen sind, stellt sich auch im vierten Teil: Die Revolution in Ägypten ist mit dem Sturz Mubaraks nicht zu Ende und das Land geht durch eine Phase, die man am ehesten mit einer Achterbahnfahrt vergleichen kann: Mal lebt die Hoffnung, dass der Neuanfang gelingt, dann versinkt das Land wieder in einer Welle von Gewalt. Kirchen brennen! Besonders der Konflikt zwischen den Religionen macht den Menschen zu schaffen. Die Militärregierung verliert immer mehr an Vertrauen, es gibt aber auch keine Alternative. Unter den Jugendlichen der Revolution ist es zunehmend verpönt, den Begriff »Revolution« zu benutzen. Mubarak sei zwar weg, aber sonst sei alles beim Alten, sagen sie. In diesen Tagen Mitte Juli ist der Tahrir-Platz wieder voll. Es ist fast so wie Ende Januar, Anfang Februar. Die Menschen wohnen in Zelten, auf mehreren Bühnen werden politische Reden gehalten und abends gibt es Konzerte. Die Hauptforderung des neuen Protestes ist die Verurteilung des Ex-Präsidenten und der Polizisten, die während der Revolution auf die Demonstranten geschossen haben. Zugleich spaltet sich das Land: Liberale und Islamisten beäugen sich misstrauisch. Auch entfernt sich die Elite, die in den Salons von Kairo die Zukunft diskutiert, zunehmend von dem Rest der Bevölkerung, dem mangelnde Sicherheit und hohe Lebensmittelpreise zu schaffen machen. Die Wirtschaft läuft derweil nur sehr langsam wieder an. Wohin steuert Ägypten?
Im fünften Teil komme ich wieder zum Ausgangspunkt: Welche Rolle spielte der Islam in der Revolution und wie verändert die Revolution den Islam? Ich zeichne die islamischen Bewegungen nach, ihr Entstehen, Erstarken und wie sie in den letzten Jahren in die Krise geraten sind. Jede für sich und aus unterschiedlichen Gründen. So waren es nicht die Führer der islamischen Bewegungen, die zur Revolution aufriefen. Manche von ihnen lehnten die Demos zu Anfang ab, andere haben die Anfänge mehr oder weniger verschlafen. Die Revolution hat neue Ideen entstehen lassen und es zeichnen sich Trends ab, wie sich die Bewegungen in der kommenden Zeit weiterentwickeln könnten.
Zum Schluss komme ich zu uns: Welche Auswirkungen hat der Arabische und vor allem der Islamische...