3. Richtet Korruption die Gesellschaft zugrunde?
Der durch Korruption verursachte materielle und ideelle Schaden für die Gesellschaft liegt auf der Hand. Wenn Verträge nichts mehr wert sind, wenn Politiker pauschal unter Korruptionsverdacht stehen und man letztlich niemandem mehr trauen kann, richtet sich die Gesellschaft selbst zugrunde. Schon nennt der Volksmund seine Eliten »Ritter der offenen Hand« oder »die besten Politiker, die man für Geld kaufen kann«.
Die Tragikomödie der Korruption besteht darin, dass sie einerseits zwar nicht in der Theorie,[19] wohl aber in der Praxis zwangsläufige Voraussetzung freier Märkte ist – ohne Bestechung läuft in verschiedenen Branchen oder Regionen nichts. Andererseits treibt die Korruptionskonkurrenz die Bestechungskosten ins Uferlose, so dass Korruption unterm Strich für alle Unternehmen teurer ist als ehrlicher Wettbewerb. Darüber hinaus verhindert Korruption systematisch den technischen Fortschritt, also die »Entwicklung der Produktivkräfte«. Noch bestens in Erinnerung ist der Maut-Skandal von 2003: Statt ein funktionstüchtiges System wie das der Schweiz zu übernehmen, schanzte das Bundesministerium für Verkehr, Bau und Stadtentwicklung Daimler und der Telekom den Auftrag zu. Schaden: 6,5 Mrd. Euro.[20]
Was also tun gegen die allgegenwärtige Korruptionsseuche? Zwar schreibt die US-amerikanische Korruptionsforscherin Susan Rose-Ackerman 1996 in einem Anflug von neoliberalem schwarzem Humor: »Wenn der Staat weder Exporte verbieten noch Geschäftslizenzen vergeben und Subventionen verteilen kann« – also letztlich keinerlei Befugnisse mehr hat –, »wäre Bestechung sinnlos.«[21] Aber selbst eine (bislang nur im neoliberalen Modell existierende) völlig freie und nur durch den Polizeistaat abgesicherte Marktwirtschaft wäre schnell am Ende, wenn die Schlüsselpositionen und Schalthebel der Macht mafiös unterwandert würden, denn, wie Susan Rose-Ackerman betont, auch der schlankeste Staat hat Bereitschaftspolizisten mit Ermessensspielraum – also mit Korruptionspotenzial.[22]. So beißt sich die Katze in den Schwanz.
Konsequent zu Ende gedacht, wäre dieser Teufelskreis der Korruption nicht nur die Götterdämmerung des Rechtsstaats und der Marktwirtschaft, sondern sogar jeglicher Zivilisation. Denn spätestens seit Thomas Hobbes wissen wir, dass »der Mensch dem Menschen ein Wolf«[23] und folglich das ungeregelte und gesetzlose Zusammenleben ein »Krieg jeder gegen jeden« sein kann. In seinem Hauptwerk Leviathan schreibt Hobbes, »dass, solange Menschen ohne eine gemeinsame Macht leben, die sie alle in Bann hält, sie sich in dem Zustand befinden, den man Krieg nennt; und dabei handelt es sich um einen Krieg aller Menschen gegen alle Menschen«.[24]
Auch Reichskanzler Otto von Bismarck sah dieses Problem, das sich als Krieg Arm gegen Reich anbahnte. Nur diese Angst, nicht etwa irgendein christlich-moralischer Gedanke, war das Motiv seiner Sozialreformen.[25]
Mein Gedanke war, die arbeitenden Klassen zu gewinnen, oder soll ich sagen zu bestechen, den Staat als soziale Einrichtung anzusehen, die ihretwegen besteht und für ihr Wohl sorgen möchte.
Otto von Bismarck[26]
Aufschlussreich, dass selbst der bedeutendste Politiker des Deutschen Reichs die Gesellschaft offenbar vorwiegend in Bestechende und Bestochene aufteilt und dies augenscheinlich für normal hielt. Dies entspricht der von Immanuel Kant angedachten[27] These des deutsch-österreichischen Staatsrechtlers Georg Jellinek (1851–1911) von der normativen Kraft des Faktischen:[28] Wenn zu viele Leute ständig Gesetze, Vorschriften oder gesellschaftliche Spielregeln missachten und meistens ohne Strafe oder Blamage davonkommen, gilt dieses Verhalten irgendwann als normal. Das gilt für Bierdosenberge nach Freilichtkonzerten, Spickzettel bei Examensklausuren und »Souvenirs« in Form von Kneipengläsern genauso wie für Versicherungsbetrug, Steuerschummelei und eben Korruption. Für einen Zwanziger ist plötzlich doch noch ein Hotelzimmer frei, und für eine Gratis-Flatrate in Papas Restaurant wird aus der Fünf in Mathe die versetzungsrettende Vier.
Dass Korruption überhaupt entsteht und zum Normalzustand wird,[29] ist freilich nur möglich durch den völlig tabulosen Eigennutz, den viele Neoliberale für genetisch bedingt halten, ähnlich wie Rassisten die Intelligenz ganzer Völker. Bestechung und Bestechlichkeit, also strafbare, vertragswidrige oder schlicht unmoralische und asoziale Handlungen im großen Maßstab setzen dieser kruden Theorie nach voraus, dass dem Menschen der skrupellose Egoismus quasi in die Wiege gelegt sei, dass also Regeln wie »Geld regiert die Welt« und »Jeder hat seinen Preis« Naturgesetze seien wie Schwerkraft und Thermodynamik. Die windige Hypothese vom homo oeconomicus – zu Deutsch etwa: Raffke oder Gierschlund – ist aber tatsächlich ein Kernstück der neoliberalen »Lehre« und ihrer Unterabteilung »Neue Politische Ökonomie«. Deren Begründer Antony Downs gibt zu Protokoll: »Wenn wir von rationalem Verhalten sprechen, meinen wir stets rationales Verhalten, dem primär eigennützige Absichten zugrunde liegen.«[30] Folglich erscheinen Solidarität, Rücksichtnahme und erst recht Altruismus als »irrational«, und wenn Wissenschaftler »irrational« sagen oder schreiben, dann meinen sie meist »nicht ganz dicht«, »Sprung in der Schüssel« oder »therapiebedürftig«: Ehrlich währt am längsten – diese Volksweisheit bedeutet entgegen einem verbreiteten Irrtum ja nicht, dass Ehrlichkeit sich langfristig auszahlt, sondern dass man damit am längsten braucht, es zu etwas zu bringen.
In gewisser Weise stimmt das sogar: Da bekanntlich jede Gemeinschaft ihre Menschen »erzieht«, setzt sich eben in einer ausschließlich auf Selbstbereicherung orientierten neoliberalen Gesellschaft der vor nichts zurückschreckende Profitjäger am besten durch, und »Der Ehrliche ist der Dumme«.[31]
Mit Vorsicht zu genießen ist allerdings auch das pauschale Jammern über eine »gefühlskalte Egoistengesellschaft«. Macht man den Leuten nämlich weis, sie hielten sich so ziemlich als Einzige an Recht und Gesetz, an die Regeln von Anstand und Moral, dann fühlen sie sich irgendwann tatsächlich als ausgenutzte »arme Irre« und beteiligen sich fortan lieber am Hauen und Stechen aller gegen alle: Jeder ist sich selbst der Nächste. Und diese Haltung kann leicht um sich greifen wie eine Seuche. Ein einziger Drängler an der Bushaltestelle kann eine geordnete Warteschlange in eine schubsende Horde verwandeln, und ein einziger hupender Autofahrer im Berufsverkehrsstau initiiert oft ein ganzes Hupkonzert.
Aber sind wir als Kinder dieses Wirtschaftssystems nicht alle so? Der Herdentrieb funktioniert jedenfalls auch in die andere Richtung: »Oder-Hochwasser erzeugt eine Welle der Hilfsbereitschaft in ganz Deutschland«[32] – so oder ähnlich lauteten 1997 zahllose Schlagzeilen. Überhaupt ist die Spendenbereitschaft der Deutschen bei Katastrophen in aller Welt geradezu sprichwörtlich; und auch Gastfreundschaft, Nachbarschaftshilfe, ja sogar großzügige Trinkgelder[33] und die Freude am Schenken (auch wenn man nicht damit angeben kann) sind so gar nicht vereinbar mit dem Leitbild des homo oeconomicus, nach dessen Logik die Normalbürger samt und sonders Bekloppte und die schamlosen Raffzähne die »Rationalen« wären.
Denn tatsächlich sind die Raffgierigen nach wie vor in der Minderheit. Glaubt man einer Forsa-Studie, dann dreht sich bei den Deutschen keineswegs alles um den Mammon. Für 98 Prozent ist Gesundheit am wichtigsten, für 97 Prozent hat das Lebensumfeld die zweitgrößte Bedeutung. Danach folgen mit 88 Prozent das Einkommen, mit 78 Prozent die Partnerbeziehung und mit 67 Prozent der Beruf.[34]
Und schließlich: Selbst die übelsten Profitgeier vererben ihr wie auch immer angeeignetes Vermögen ihren Nachkommen. Müssten sie es nicht vielmehr in neoliberaler Egoistenmanier zum großen Teil verprassen nach dem Motto: »Nach mir die Sintflut«? Spätestens hier erweist sich das Modell des homo oeconomicus als reine Propagandaphrase. Insofern gleicht ein Neoliberaler einem katholischen Pfarrer, der die Keuschheit vor der Ehe predigt, es aber selbst mit der Haushälterin treibt. Wenn nun verbissene Verteidiger des homo oeconomicus nach dem Motto »War doch gar nicht so gemeint« zu retten versuchen, was nicht mehr zu retten ist, und sich darauf herausreden wollen, diese Karikatur sei ausschließlich als wirtschaftliches Verhaltensmodell gedacht,[35] dann erinnert das an die makabre Bemerkung, privat wäre Joseph Goebbels doch ein treusorgender Familienvater gewesen.[36]
Derlei kindischer Rechtfertigung erteilt der Greifswalder BWL-Professor und Ethikforscher Steffen Fleßa eine klare Absage: »Für die Unternehmen wird der homo oeconomicus noch weiter verkürzt auf die Gewinnmaximierung … [er] ist nur noch ein Zerrbild seiner selbst. Das Verhalten des homo oeconomicus wird immer mehr zum Maßstab für alle Aspekte menschlicher Existenz … Das Modell, das ursprünglich nur helfen sollte, das...