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E-Book

Der innere Sinn

Archäologie eines Gefühls

AutorDaniel Heller-Roazen
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl512 Seiten
ISBN9783104013770
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis14,99 EUR
Es war vermutlich Aristoteles, der als Erster einen dem Menschen eigentümlichen Sinn entdeckte: den Sinn wahrzunehmen, dass man wahrnimmt. Daniel Heller-Roazen unternimmt in seinem Buch nun dessen Archäologie: In 25 Kapiteln zeichnet er die verschlungenen Wege dieses besonderen Sinns bei Denkern vom antiken Griechenland bis zum 20. Jahrhundert und in Disziplinen von der Philosophie über Psychologie und Literatur bis zu medizinischen Abhandlungen nach. »Der innere Sinn« ist eine originelle, elegante und weitreichende philosophische Untersuchung der Frage, was es bedeutet, dass man sich lebendig fühlt. »Daniel Heller-Roazens Archäologie eines Gefühls wirft ein völlig neues Licht auf eine Reihe von wesentlichen Momenten in der Geschichte der Philosophie und der Humanwissenschaften. Doch noch wesentlicher für diese außergewöhnliche Arbeit ist, dass sie ein faszinierendes Forschungsfeld entdeckt, das von allergrößte Bedeutung für das zeitgenössische Denken ist: des Gefühls, durch das wir - vor oder jenseits des Bewusstseins - fühlen, dass wir existieren.« Giorgio Agamben

Daniel Heller-Roazen, geboren 1974, ist Professor für Vergleichende Literaturwissenschaft an der Princeton University. Er studierte Philosophie und Literaturwissenschaft in Toronto, Baltimore, Venedig und Paris und hat zahlreiche Stipendien für seine Arbeit erhalten. Im Jahr 2010 wurde ihm die Medaille des Collège de France verliehen. Im S. Fischer Verlag ist zuletzt von ihm erschienen »Der fünfte Hammer - Pythagoras und die Disharmonie der Welt« (2015), »Der Feind aller. Der Pirat und das Recht« (2010) sowie die von der Kritik gefeierte Studie »Der innere Sinn. Archäologie eines Gefühls« (2012).

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Leseprobe

Erstes Kapitel Murriana


Eine Vorrede zu diesem Werk, in welcher Hegel und E. T. A. Hoffmanns schreibender Kater die Beziehungen zwischen Empfindung und Bewusstsein erörtern

Es ist Nacht, doch ein Kater ist hellwach, und wenn wir ihn beim Wort nehmen, war er niemals so munter wie jetzt. Im Dunkeln, allein, fühlt sich der Erzähler von E. T. A. Hoffmanns Lebensansichten des Katers Murr überwältigt von der mächtigsten aller Empfindungen: dem »Gefühl des Daseins«, wie er es zu Beginn der Darstellung seines Lebens und Trachtens kühn benennt. »Es ist doch«, ruft der Kater aus, »etwas Schönes, Herrliches, Erhabenes um das Leben!« Und es tritt ihm der Held von Goethes Egmont vor Augen, der in dem »schmerzlichen Augenblick«, in dem er sich anschickt, dem Leben zu entsagen, an die »süße Gewohnheit des Daseins« zurückdenkt. Doch anders als jene tragische Gestalt fühlt sich der Kater springlebendig wohl und von dieser »süßen Gewohnheit« gänzlich durchströmt; ja, schon die Vorstellung, je von ihr abzulassen, dünkt ihm ganz unmöglich. Überall um sich herum spürt der Kater »die geistige Kraft, die unbekannte Macht, oder wie man sonst das über uns waltende Prinzip nennen mag, welches«, wie er hinzufügt, »mir besagte Gewohnheit ohne meine Zustimmung gewissermaßen aufgedrungen hat«. Seine Begeisterung hat ihn zu einem so »hohen Standpunkt« erhoben, wie sie ein Dichter, wenn überhaupt, nur selten erreicht. Kraft seiner Gefühle und der Flinkheit seiner vier Beine hat er sich behände zu den Dächern der Stadt, in der er lebt, emporgeschwungen – »hinaufgeklettert wäre richtiger«, berichtigt er sich selbst –, um sie in ihrem nächtlichen Glanz besser betrachten zu können. Seine Prosa verrät den unverkennbaren Ton eines Wesens, das sich der Vorteile erfreut, die ihm seine natürlichen Fähigkeiten ermöglicht haben: »Über mir wölbt sich der weite Sternenhimmel, der Vollmond wirft seine funkelnden Strahlen herab, und in feurigem Silberglanz stehen Dächer und Türme um mich her!«[1]

Was empfindet Murr auf seinem nächtlichen Thron hoch über der Stadt? Trotz seiner anfänglichen Anspielung auf den berühmten Ausbruch jenes »niederländische[n] Held[en] in der Tragödie« scheint es, als wolle der Kater dem Menschen die Fähigkeit bestreiten, seine existentiellen Gefühle in ihrer ganzen Kraft zu erfassen. Jedenfalls hegt Murr generell Zweifel an den Vermögen des zweifüßigen Spezies und ist keinesfalls bereit, das Herrschaftsrecht der Menschen über die anderen Tiere, mit denen sie den Erdball teilen, als selbstverständlich anzuerkennen. »Ist denn das auf zwei Füßen aufrecht Einhergehen etwas so Großes«, fragt Murr mit deutlicher Verachtung, »dass das Geschlecht, welches sich Mensch nennt, sich die Herrschaft über uns alle, die wir mit sichererem Gleichgewicht auf vieren daherwandeln, anmaßen darf?« Der Kater spielt jedoch nicht den Naiven und weiß wohl, dass die Menschen es verstanden haben, ihren Anspruch auf Überlegenheit trotz ihrer relativ lahmen Glieder zu rechtfertigen. »Aber ich weiß es«, fährt Murr fort, »sie bilden sich was Großes ein auf etwas, was in ihrem Kopfe sitzen soll und das sie Vernunft nennen.« Murr aber bleibt skeptisch. »Ich weiß mir keine rechte Vorstellung zu machen, was sie darunter verstehen«, bemerkt er, »aber so viel ist gewiss, dass, wenn, wie ich aus gewissen Reden meines Herrn und Gönners schließen darf, Vernunft nichts anderes heißt, als die Fähigkeit, mit Bewusstsein zu handeln und keine dummen Streiche zu machen, ich mit keinem Menschen tausche.«[2]

Wenig spricht dafür, dass Murr an der Existenz jenes Etwas, »was im Kopfe der Menschen sitzen soll und das sie Vernunft nennen«, Zweifel hegte. Und aus eigener Erfahrung scheint er durchaus imstande, die äußeren Anzeichen ihres Zentralorgans, des Bewusstseins, zu erkennen. Allerdings scheint der Kater der Meinung, dass dieses vielgerühmte Vermögen mancherlei Behauptung zum Trotz erheblich weniger bedeutend sei und dass sein Auftreten im Bereich des menschlichen Denkens und Handelns nicht der Natur, sondern der Gewohnheit entspringe. »Ich glaube überhaupt«, erklärt der Kater, »dass man sich das Bewusstsein nur angewöhnt.« Ganz anders verhält es sich mit dem, was alle Tiere, die menschlichen wie die nichtmenschlichen, miteinander teilen und was der Kater als eine ganz eigene Wonne empfindet: das Leben. »[D]urch das Leben und zum Leben«, erklärt Murr programmatisch, »kommt man doch, man weiß selbst nicht wie. Wenigstens ist es mir so gegangen, und wie ich vernehme, weiß auch kein einziger Mensch auf Erden das Wie und Wo seiner Geburt aus eigner Erfahrung, sondern nur durch Tradition, die noch dazu öfters sehr unsicher ist.«[3]

Für den sprechenden Kater hat Bewusstsein daher nur bescheidenen Wert, ist bestenfalls etwas Zweitrangiges. Es fällt jedoch schwer, Murrs Einstellung zu dieser Fähigkeit, die er so oft bei den Wesen seiner Umgebung beobachtet hat, genau zu bestimmen. Betrachtet er ihr Vorliegen bei den Menschen als nützlich, wenn auch unwesentlich? Als unnötig? Schädlich? Hat Murr, könnte man sich fragen, jemals die Möglichkeit erwogen, dieses Vermögen selbst zu erwerben? Gewiss mag in seinen Augen wie in denen vieler seiner Leser das Bewusstsein jenseits des Bereichs der animalischen Natur liegen. Vorstellbar ist aber auch, dass der Kater annimmt, den Feliden sei das Vernunftvermögen durchaus zugänglich. Vielleicht würde er einräumen, alle Tiere könnten – mindestens ebenso erfolgreich wie menschliche Wesen – Bewusstsein entwickeln, sollten sie danach verlangen oder es benötigen. Dies scheint die Position zu sein, die etwa von Kafkas Rotpeter vertreten wird, der in seinem »Bericht für eine Akademie« genau beschreibt, wie er in Gefangenschaft und durch Übung vom Affen zum Menschen wurde: »Und ich lernte, meine Herren. Ach, man lernt, wenn man muss; man lernt, wenn man einen Ausweg will; man lernt rücksichtslos.«[4] Dem Kater wäre die Frage in jedem Falle als akademisch erschienen. Hoffmanns feliner Erzähler hat niemals die Nöte von Kafkas eingesperrtem Affen auf verzweifelter Suche nach einem »Ausweg« aus seiner Knechtschaft kennengelernt, und der Kater scheint niemals den Zwang verspürt zu haben, sich die Gewohnheiten des animal rationale anzueignen. Offenbar war er auch niemals versucht, sich aus irgendeinem inneren Grund das Bewusstsein »anzugewöhnen«. Allem Anschein nach ist Murr zufrieden damit, sich dem Gefühl des Lebens und dessen »süßer Gewohnheit« vollends zu überlassen.

Gewiss, der Kater selbst macht wenig Aufhebens von seinen Gefühlsregungen und lehnt es ab, sie im Einzelnen mit denen der Menschen zu vergleichen, vielleicht weil er dem Bewusstsein misstraut. Doch Murrs Gefühle haben mit menschlichen Wahrnehmungen vielleicht mehr zu tun, als er zum Ausdruck bringt, und vielleicht eröffnen sie ihm sogar den Zutritt zu einer Seinsregion, die von dem Geschlecht der »auf zwei Füßen aufrecht Einhergehenden« mehr als einmal gesucht wurde. Es ist bemerkenswert, dass die Bedingungen, unter denen der Kater das Leben als »etwas [so] Schönes, Herrliches, Erhabenes« wahrnimmt, genau die gleichen sind, die einer seiner bekannteren Zeitgenossen, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, einmal zur Definition der Prinzipien verwandte, von denen die Philosophie der Natur und des Geistes auszugehen habe. Fünfzehn Jahre vor der Veröffentlichung der Lebensansichten des Katers Murr ging es Hegel darum, jene ungeschiedene »Einfachheit« zu charakterisieren, die jeder komplexen Tätigkeit des »subjektiven Geistes« vorausgeht und diese ermöglicht. Dazu beschrieb er einen Zustand, den er selbst als »furchtbar« bezeichnete, der aber offenbar dem sehr nahe kommt, den der Kater so freudig begrüßt. In seiner Jenaer Vorlesung von 1805 bis 1806 erläuterte Hegel, das »reine Selbst« sei ursprünglich nichts anderes als eine »leere […] Nacht«, in der das Vorstellungsbild völlig »bewusstlos« sei, »das heißt ohne als Gegenstand vor die Vorstellung herausgestellt zu sein«.[5] Und in seiner Abhandlung über die Differenz des Fichteschen und des Schellingschen Systems der Philosophie von 1801 übertrug der junge Philosoph dem gleichen Bild die Aufgabe, etwas noch Grundlegenderes darzustellen, das man durchaus als das eigentliche Prinzip der Prinzipien betrachten könnte. »Das Absolute«, schrieb Hegel in jenem bedeutenden Werk, »ist die Nacht, und das Licht jünger als sie […] – das Nichts das Erste, woraus alles Sein, alle Mannigfaltigkeit des Endlichen hervorgegangen ist.«[6]

Die Reflexionen von Hoffmanns Kater lassen sich vielleicht am ehesten im Lichte dieser »leeren […] Nacht« betrachten. Unschwer ist zu erkennen, dass Murr, wenn er über den Türmen und Dächern seiner Stadt balanciert, einem Prinzip ausgesetzt ist, das man als »Absolutes« bezeichnen könnte, einer ungeschiedenen und unüberwindlichen Kraft, die er wie jedes lebende Wesen über sich »waltend« fühlt, die ihm »ohne [s]eine Zustimmung gewissermaßen aufgedrungen« wurde und der er, philosophisch scheinbar naiv, einen alten und vertrauten Namen gibt: »Leben«. Zwar vermag die feline Kreatur nicht zu erkennen, was Hegel als definitionsgemäß »bewusstlos, das heißt ohne als Gegenstand vor die Vorstellung herausgestellt worden zu sein«, beschrieb. In der Nacht zumindest erkennt Murr gar nichts; in der augenscheinlichen Abwesenheit von Vorstellung und Denken bleibt die dunkle...

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