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E-Book

Nachgeboren - vorbelastet?

Die Zukunft des Judentums in Deutschland

AutorDieter Graumann
VerlagKösel
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl224 Seiten
ISBN9783641089672
FormatePUB
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis15,99 EUR
Dieter Graumann ist der erste Präsident des Zentralrats der Juden, der den NS-Terror nicht unmittelbar erlebt hat. Er möchte die jüdische Identität nicht allein von Formeln wie 'Schoa plus Antisemitismus' abgeleitet wissen. In seinem Buch gibt er Einblicke in sein Leben und plädiert leidenschaftlich für ein frisches, plurales und lebendiges Judentum in Deutschland: 'Es wird seine besonderen Fundamente kennen, sich aber nicht nur selbst bespiegeln, sondern sich kommunikativ, initiativ und kreativ an allen gesellschaftlichen Debatten beteiligen.'

Dieter Graumann vertritt gut 100.000 jüdische Gläubige. Gemeinsam mit dem Zentralrat und den jüdischen Gemeinden steht er vor enormen Herausforderungen. Das spornt seinen Gestaltungswillen umso mehr an: 'Wir wollen dem Judentum hier eine Zukunft mit starken Wurzeln verschaffen.'

Dr. Dieter Graumann, geb. 1950 in Ramat Gan (Israel), kam als Kleinkind mit seinen Eltern nach Deutschland. Studium in London und Frankfurt, dort in der jüdischen Gemeinde engagiert. Seit 2001 Präsidiumsmitglied des Zentralrats der Juden, ab 2006 Vize-Präsident und seit 2010 Präsident. Der verheiratete Vater zweier erwachsener Kinder betreibt eine Liegenschaftsverwaltung in Frankfurt.

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Leseprobe

Wege im Leben und im Zentralrat – Biografische Notizen

»Der erste Zentralrats-Präsident, der nicht in der Shoah war« – das wurde nach meiner Wahl immer wieder in vielen Medienberichten fast wie ein Mantra wiederholt. Diese kalendarische Tatsache ist nicht zu bestreiten. Aber: Ist sie denn wirklich derart verwunderlich, gar sensationell? Rund siebzig Jahre nach der Shoah ist das doch schon alleine zahlenmäßig nahezu zwangsläufig. Es ist keine Frage der Moral, sondern der Mathematik, es betrifft mehr die Arithmetik als die Ethik.

Nicht zu leugnen ist schließlich: Inzwischen sind leider wirklich immer weniger Zeitzeugen unter uns. Darauf hinzuweisen, vergisst kaum jemand, der sich in letzter Zeit geäußert hat, sei es aus Anlass der »Woche der Brüderlichkeit«, zum »Internationalen Holocaustgedenktag« am 27. Januar oder an einem 9. November. Ja, die Menschen, die selbst in den Konzentrations- und Arbeitslagern waren oder das »Glück« hatten, einen geheimen Unterschlupf zu finden, werden schon bald nicht mehr da sein, um uns ihre Leidens- und Überlebensgeschichte in dieser besonderen, intensiven und vor allem so authentischen Art und Weise zu erzählen.

Eines sollten wir jedoch nicht außer Acht lassen: dass so viele andere, die die Konzentrationslager gar nicht selbst erlebt haben, dennoch die Shoah in sich tragen. So ist es bei mir. Und wie Elie Wiesel zudem einmal sagte: »Wer einem Zeitzeugen zuhört, der wird selbst zu einem.« In Zukunft müssen wir also die Stimme für unsere Zeitzeugen sein. Wir müssen und werden ihre Geschichten, aber auch ihre Emotionen weitertragen. Deswegen laden wir auch gerade junge Menschen ein, heute ganz besonders gut zuzuhören und zu versuchen, zwischen dem Gesagten das Gefühlte zu verstehen. Dann werden die Geschichten und das Vermächtnis der Überlebenden für immer am Leben gehalten. Umso wichtiger wäre es, wenn Zeitzeugen, auch nunmehr der zweiten Generation, viel häufiger in Schulen eingeladen würden, um direkt mit den jungen Menschen von heute zu sprechen.

Als Zeitzeuge der zweiten Generation weiß ich aus eigener Erfahrung, wie unerlässlich die Kontinuität der Erzählung ist. Ich kam 1950 auf die Welt und bin somit wirklich in diesem Sinne auch »nachgeboren«. Viele sehen die Shoah tatsächlich als Referenzpunkt in der Geschichte des jüdischen Volkes, ab dem jüdisches Leben wieder fast neu oder zumindest ganz anders begann. Als hätte man sozusagen abrupt eine imaginäre »Reset«-Taste gedrückt, so als würde die Zeitrechnung für das jüdische Volk nochmals fast ganz von vorn beginnen. Sicherlich bedeutet dies nicht, dass man etwa die Bedeutung der jahrtausendealten Geschichte schmälert. Aber schaut man sich alleine die heutzutage sehr häufig in unseren Gemeinden gefeierten Jubiläen an, so wird einem schnell klar, dass selbst ein vermeintlich »junger« Jahrestag, wenn etwa das fünfzigjährige Jubiläum einer wieder aufgebauten Synagoge gefeiert wird, etwas ganz Besonderes ist und mit größter Freude zelebriert wird. Denn hierzulande hat das gefühlte jüdische Leben tatsächlich doch wieder fast von null begonnen zu wachsen. Auf den Ruinen der Shoah wurde eine neue jüdische Zukunft gebaut. Deswegen ist jedes noch so kleine Jubiläum ein Grund zum Feiern. Man kann fast sagen: Seit dem Holocaust tickt die Zeit viel intensiver und vor allem bedeutungsvoller für uns. Jedes neue Jahr, in dem wieder neues jüdisches Leben in Deutschland gefeiert wird, bedeutet nämlich wirklich ein Jahr mehr, als man es sich nach dem Zweiten Weltkrieg jemals hätte vorstellen und erträumen können.

Es stimmt also im wörtlichen Sinne, dass ich nach dem Holocaust geboren wurde. Und doch stimmt es auch so gar nicht. Denn wir Kinder der Überlebenden waren zwar nicht in der Shoah, aber die Shoah ist doch immer in uns. Auch ich zähle zu den Nachkommen der Holocaust-Überlebenden, auch wir sind Zeitzeugen und auch wir können und sollen dazu beitragen, dass die Erinnerung an die Shoah nicht zwischen Buchdeckeln vergilbt. Nicht weil ich meine private Geschichte für besonders mitteilenswert halte, sondern weil sie stellvertretend für so viele andere meiner, der zweiten Generation steht, will ich sie hier erzählen.

»Ab heute heißt du Dieter«

Um zu illustrieren, wie es jemanden prägt, als Kind von Holocaust-Überlebenden aufzuwachsen, will ich berichten, was es mit meinem Vornamen »Dieter« auf sich hat. Bis zum sechsten Lebensjahr hieß ich »David« – ich wurde in Israel geboren und kam mit 18 Monaten nach Deutschland. Nach Israel waren meine Eltern nach dem Krieg emigriert, sie wollten nicht im »Land der Täter« leben. Doch mein Vater, gesundheitlich schwer angeschlagen durch die verschiedenen Konzentrationslager, die er erleiden musste, vertrug das heiße, schwüle Klima in Israel überhaupt nicht.

Also zogen meine Eltern weiter, immer noch auf der Suche nach dem neuen Zuhause für ihr wieder zurückgewonnenes Leben. Auf ihrem israelischen Pass stand »Prat Germania« – überall gültig, außer in Deutschland. So kamen wir zuerst nach Frankreich, und später erhielten meine Eltern auch die begehrte Greencard für die Vereinigten Staaten. Doch wie so oft im Leben sorgt das Zusammenspiel von Zufällen und Gegebenheiten dafür, dass man von seinem »Plan« abweichen, ihn verschieben oder am Ende sogar verwerfen muss. Meine Eltern wandten sich dann doch Deutschland zu. Sie dachten, es sei nur kurz, vorerst und vorläufig. Hier besuchten sie ihre Freunde aus dem Displaced Persons-Camp in Zeilsheim, westlich von Frankfurt – irgendwie die einzige gefühlte Familie angesichts der Vernichtung aller Angehörigen. Sie teilten die gleichen Albträume, die gleichen Sehnsüchte, die gleiche Traurigkeit, die gleiche Mischung aus Mut und Schwermut – die gemeinsame Leidensgeschichte machte die Menschen zu Brüdern und Schwestern. So sind meine Eltern und ich am Ende also in Deutschland »hängen geblieben«. Immer saßen meine Eltern hier auf den inzwischen sprichwörtlich gewordenen »gepackten Koffern«, für sie war es ein immerzu gefühltes »Provisorium«. Doch aus unserer langen jüdischen Geschichte wissen wir: Selten gibt es etwas Dauerhafteres im Leben als ein Provisorium. Wir waren in Deutschland. Und meine Eltern und ihre Freunde lebten hier fortwährend mit zerrissenen Herzen und mit verwundeten Seelen.

Als ich in die Schule kommen sollte, war es natürlich ein ganz besonderer Tag für mich. Ich freute mich auf neue Schulsachen, neue Freunde, neues Wissen. Dass ich allerdings bei dieser Gelegenheit auch einen neuen Namen erhalten sollte, das wusste ich noch nicht. Als mein erster Schultag dann endlich gekommen war, stellten meine Eltern mich vor den Spiegel im Schlafzimmer, nahmen mich in die Mitte und sagten feierlich: »David! Ab heute heißt du Dieter.« An diesen Moment kann ich mich ganz genau erinnern, an jedes Wort, an dieses Abbild im Spiegel. Schließlich geschieht es doch nicht alle Tage im Leben, dass man seinen Namen ändert. »David«, das klang meinen Eltern damals viel zu jüdisch – sie hatten Angst um mich, Angst davor, dass ich in der Schule zu rasch als jüdischer Junge identifiziert werden könnte. Denn damals war es noch keineswegs »modern«, so wie heute, sich biblischer Namen zu bedienen.

Genau andersherum war es zum Beispiel bei Aharon Appelfeld, wie er uns in seinem autobiografischen Roman »Der Mann, der nicht aufhörte zu schlafen« schildert. Der israelische Schriftsteller stammt aus der Nähe des auch für seine jüdischen Dichter und Künstler berühmten Städtchens Czernowitz, damals Rumänien, und hieß früher Erwin; seine Mutter wurde ermordet, sein Vater wurde in ein Lager verschleppt als er noch ein Kind war. Er selbst überlebte den Krieg in den Wäldern und auf Bauernhöfen. Als er nach dem Krieg dann nach Israel einwanderte, hat man ihm sehr stark dazu geraten, seinen Namen zu ändern, was er auch tat – aus Erwin wurde Aharon. In seinem Buch zitiert er seinen Vater: »Ein Mensch, der den Namen wechselt, den ihm seine Eltern gegeben haben, ist nichts wert.« Er hat es, im Gegensatz zu mir, selbst so entschieden und über den Kopf seiner Eltern hinweg getan, die in der Shoah ermordet worden waren. Für ihn war es dann allerdings ein Trauma.

Für mich in gewisser Weise auch, freilich nur im Nachhinein betrachtet: Denn ich habe einen wunderschönen Namen eingetauscht gegen einen, recht freundlich gesagt, wesentlich weniger schönen – meine »Mit-Dieter« mögen es mir nachsehen oder sogar nachempfinden. Und während Aharon Appelfeld seinen deutschen Namen »israelisierte«, auch um seinen »germanischen« Ursprung zu verdecken, war es bei mir genau umgekehrt: Der Namenswechsel sollte mein Judentum verbergen. Dass meine Eltern sich dazu obendrein noch einen so »urdeutschen« Namen aussuchten, ist besonders bemerkenswert, ja sogar skurril. Und für mich besonders schade obendrein: Denn den historischen König David bewundere ich selbst ganz besonders, zumal er ein so großer Dichter und Musiker gewesen sein soll. Immerhin: Diese unbändige Leidenschaft für Literatur und für Musik teile ich schon mein ganzes Leben lang mit meinem ursprünglichen und berühmten Namensgeber.

Ich kann mich erinnern, die Umbenennung als Kind zumindest als wenig befremdlich empfunden zu haben. Ich bin schließlich aufgewachsen mit den Shoah-Geschichten, so wie andere Kinder mit Grimms Märchen aufwachsen – nur waren meine leider wahr, viel grausamer und obendrein auch noch ohne Happy End. Man musste mir deshalb gar nicht erst groß erklären, was es mit meinem Namen auf sich hatte. Ich habe auch damals den Namen Dieter als gar nicht so »schrecklich« empfunden wie später, sondern mir gesagt: »Dann heißt du halt so.« Später habe ich...

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