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Mädchen und Gewalt

Bedeutungen physischer Gewaltausübung für weibliche Jugendliche

AutorRahel Heeg
VerlagVS Verlag für Sozialwissenschaften (GWV)
Erscheinungsjahr2009
Seitenanzahl320 Seiten
ISBN9783531918532
FormatPDF
KopierschutzDRM
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis46,99 EUR
Anhand ausführlicher Fallstudien arbeitet die Autorin unterschiedliche Bedeutungen physischer Gewaltausübung für weibliche Jugendliche heraus. Dabei werden zwei Gruppen unterschieden. Manche Mädchen üben Gewalt aus, um dadurch einen Gewinn zu erlangen. Sie erleben sich als stark, unabhängig und gerecht, wenn sie Gewalt anwenden. Zusätzlich erhalten sie in einer gewaltbereiten Bezugsgruppe Anerkennung für ihr Tun und schaffen ein Gefühl der Zugehörigkeit. Andere Mädchen sehen sich von einer feindseligen Umwelt bedroht. Durch Gewalt schützen sie sich. Da sie sich von ihren aggressiven Emotionen überwältigt fühlen, bestätigt und vertieft ihr Handeln ein negatives Selbstkonzept.
Die Autorin erläutert die unterschiedlichen Motive und subjektiven Gewinne von physischer Gewalt für weibliche Jugendliche und verdeutlicht deren Sinnhaftigkeit im Rahmen familiär gelernter Interaktionslogiken.


Rahel Heeg ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Hochschule für Soziale Arbeit, Fachhochschule Nordwestschweiz.

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Leseprobe
1 Theoretische Überlegungen zu Geschlecht und Gewalt (S. 11)

Das folgende Kapitel beschäftigt sich mit den grundlagentheoretischen Grundlagen der vorliegenden Arbeit. Kapitel 1.1 fragt nach der Bedeutung des sozialen Geschlechts für die vorliegende Arbeit. Im Kapitel 1.2 beleuchte ich das Thema Gewalt unter verschiedenen theoretischen Aspekten. In Kapitel 1.3 stelle ich verschiedene Gewaltdefinitionen vor und leite daraus ab, in welcher Form ich selber den Gewaltbegriff nutze.

1.1 Theoretische Perspektiven auf Geschlecht

Die vorliegende Studie thematisiert Mädchen als Untersuchungsgruppe. Implizit ist damit unterstellt, dass es sinnvoll ist, auf die Kategorie Geschlecht Bezug zu nehmen. Im Folgenden möchte ich diese Selbstverständlichkeit problematisieren. Die überwiegende Mehrzahl aller Menschen weltweit sind biologisch eindeutig in eine der zwei Geschlechterkategorien Mann und Frau einteilbar und haben eine diesem biologischen Geschlecht entsprechende Geschlechtsidentität.

Die inhaltliche Ausformung der zwei Kategorien Mann und Frau unterscheidet sich jedoch von Kultur zu Kultur, insbesondere in ihren Rollenzuschreibungen in Bezug auf Gewalt (Mead 1983, 1961). Der soziale Unterschied zwischen den Geschlechtern ist immer grösser als der biologische (Kersten 1997b: 106).

Der soziale Unterschied in Bezug auf Geschlecht ist augenfällig: Physische Gewaltausübung gilt gesellschaftlich als Ausweis von Männlichkeit (Kersten 1997a, 1999). Das vorherrschende Weiblichkeitsbild in unserer Kultur definiert Frauen als nett, nicht aggressiv, empathisch, um andere bemüht und auf andere bezogen. Frauen, welche nicht aus Verzweiflung und zur Verteidigung Gewalt anwenden, verstoßen nicht nur gegen die Rechts- sondern auch gegen die Geschlechterordnung (Meuser 2003: 49).

Aggressive Mädchen im Alter von 1 bis 2 Jahren werden dementsprechend ignoriert, aggressive Jungen im gleichen Alter bekommen Aufmerksamkeit durch Erzieherinnen und Erzieher (Campbell 1995: 60). Mädchen lernen deshalb, Gewalterfahrungen passiv auszuhalten und eigene aggressive Empfindungen zu unterdrücken (Chodorow 1985, Hagemann-White 1984).

Junge, statusniedere Männer markieren durch Risikobereitschaft, eine aggressive Grundhaltung und die Zurschaustellung von Luxusgütern, dass sie den Nachwuchs, den sie potentiell zu zeugen fähig sind, beschützen und versorgen können (Kersten 1997b: 107). Auch wenn solche risikobehafteten und gewaltförmigen Entwürfe von Männlichkeit offiziell geächtet sind, sind sie doch im Prinzip legitimations- und konsensfähig (Kersten 1997b: 110).

Eine gewaltorientierte Konstruktion von Weiblichkeit wird hingegen sanktioniert, da sie nicht dem kulturell verbindlichen Gegenstück zur hegemonialen Männlichkeit, der betonten Weiblichkeit, entspricht (Kersten 1997b). Trotzdem oder gerade deswegen ist die öffentliche Form des ‚bösen Mädchens’ eine Ressource, sie bietet die Möglichkeit, Status und Identität zu erhalten (Laidler & Hunt 2001).

So scheint es folgerichtig, das soziale Geschlecht als bestimmende Erklärungsdimension anzusehen. Zweierlei muss allerdings beachtet werden: Erstens besteht die Gefahr, Unterschiede innerhalb einer Kategorie zu nivellieren und Unterschiede zwischen den Kategorien zu betonen. Beispielsweise machen Schriften, welche die Benachteiligung von Frauen sichtbar machen wollen, generelle Aussagen wie „Frauen sind…“ oder „Mädchen lernen…“.

Damit werden Frauen genau jene stereotypen Eigenschaften zugeschrieben, deren Entstehung erklärt werden sollte (Hagemann-White 2004: 149). Durch die Darstellung von Geschlechtsunterschieden werden diese neu hergestellt und betont. Zum Zweiten besteht die Gefahr, die Geschlechtszugehörigkeit zur ungeprüften Hauptkategorie zu nehmen.

Das Handeln und Sein von Frauen und Männern scheint sich durch ihr Frau-Sein und Mann-Sein selbsttätig zu erklären. Ist aber (das biologische oder soziale) Geschlecht die entscheidende Kategorie? Nach Meinung einer wachsenden Zahl von Forschenden genügt der Genderaspekt bei weitem nicht, um die Lebenssituation von Menschen zu verstehen und deren Handlungen nachzuvollziehen. Die Lebenslage und daraus hervorgehend die Handlungen von Menschen lassen sich nicht auf ihr Geschlecht reduzieren.
Inhaltsverzeichnis
Inhaltsverzeichnis5
Dank8
Einleitung9
1 Theoretische Überlegungen zu Geschlecht und Gewalt11
1.1 Theoretische Perspektiven auf Geschlecht11
1.2 Theoretische Annäherung an Gewalt14
1.3 Gewaltdefinitionen16
2 Mädchen und Gewalt: empirische Ergebnisse20
2.1 Wie viele Mädchen schlagen zu? Oder: Statistiken und ihre Grenzen20
2.2 Zahlen zu Mädchengewalt in der Schweiz und Deutschland23
2.3 Jugendgewalt gleich Jungengewalt26
2.4 Lebenswelten gewalttätiger weiblicher Jugendlicher31
2.4.1 Zur Perspektive Gesellschaft33
2.4.2 Zur Perspektive Sozialisationsfaktoren: Beziehungen in Familie und Peergroup und deren wechselseitige Einflüsse aufeinander40
2.4.3 Zur Perspektive Persönlichkeit49
2.5 Kumulation von Risikofaktoren51
3 Methodologische Grundlagen54
3.1 Erkenntnistheoretische Positionen qualitativer Forschung55
3.2 Grundprinzipien qualitativer Forschung56
3.2.1 Offenheit56
3.2.2 Kommunikation57
3.2.3 Prozesshaftigkeit60
4 Durchführung der Studie61
4.1 Einbettung der Studie61
4.2 Fragestellung62
4.3 Methodische Überlegungen zur Zusammensetzung einer Stichprobe63
4.4 Stichprobenzusammensetzung in der Studie65
4.5 Aufbau und Themen des Interviews67
4.6 Transkriptionsregeln und Zitationsweise70
4.7 Zur Auswertung nach der Grounded Theory Methode ( GTM)71
4.7.1 Zentrale Elemente der Grounded Theory Methode72
4.7.2 Zum Umgang mit Vorwissen und Literatur74
4.7.3 Zum Analyseprozess75
4.7.4 Kritikpunkte an der GTM und methodische Weiterentwicklungen77
4.8 Gütekriterien für GTM-Studien79
5 Empirischer Teil: Einstieg81
5.1 Ausgangspunkt meiner Reise82
5.2 Mein Umgang mit der Systemebene86
6 Dimension Selbstwahrnehmung in der Gewaltinteraktion90
6.1 Bedeutung von Gewalt für eine positive Selbstwahrnehmung: Lakisha und Ariana93
6.1.1 Lakisha94
6.1.2 Ariana101
6.1.3 Gewaltphänomene und Interaktion mit Gleichaltrigen im Lichte familiärer Sozialisation113
6.1.4 Gewalt als Mittel zur positiven Selbstwahrnehmung als familiär erlerntes Verhaltensmuster: Zwischenfazit und Verknüpfung mit theoretischen Ansätzen125
6.2 Gewalt als Quelle ambivalenter Selbstwahrnehmung: Lara, Carole, Saliha, Arzu135
6.2.1 Lara135
6.2.2 Carole143
6.2.3 Saliha145
6.2.4 Arzu152
6.3 Kürzestzusammenfassung: ambivalente Selbstwahrnehmung durch Gewalt162
6.4 Selbstwahrnehmung als Opfer162
6.5 Gewalt als Quelle negativer Selbstwahrnehmung durch Verlust der Selbstkontrolle167
6.6 Zusammenfassung: beeinflussende Faktoren auf Selbstwahrnehmung im Gewalthandeln171
7 Dimension Gruppe176
7.1 Zugehörigkeit schaffen durch Abgrenzung179
7.2 Gewaltausübung als Mittel, eine einflussreiche Position in der Gruppe zu erlangen189
7.3 Verwebung der Dimensionen Gruppe und Selbstwahrnehmung195
7.4 Zusammenfassung206
8 Dimension familiäre Desintegration208
8.1 Joanna212
8.2 Melanie218
8.3 Einblick in weitere Fallbeispiele familiärer Desintegration223
8.4 Zusammenfassung und theoretische Einordnung familiärer Desintegration233
8.5 ‚Lightversion’ familiärer Desintegration240
8.5.1 Alissa241
8.5.2 Latoya252
8.5.3 Natascha265
8.6 Charakterisierung der ‚Lightversion’ und Abgrenzung zu familiäre Desintegration271
9 Zusammenfassung274
9.1 Überblick über verschiedene Ebenen von Gewalt und theoretische Erörterungen276
9.2 Gewalt bei Mädchen, welche in ihre Familien integriert sind285
9.3 Gewalt durch familiär desintegrierte Mädchen289
9.4 Gewaltausübung weiblicher Jugendlicher im gesellschaftlichen Kontext294
9.5 Schlussfolgerungen für pädagogische und therapeutische Arbeit299
9.5.1 Pädagogisch/therapeutisches Handeln im Kontext Gesellschaft302
9.5.2 Pädagogisch/therapeutisches Handeln im Kontext Familie304
9.5.3 Pädagogisch/therapeutisches Handeln im Kontext Identitätsarbeit306
9.5.4 Pädagogisch/therapeutisches Handeln im Kontext Gruppe308
Literaturverzeichnis309

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