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E-Book

Vermächtnis

Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können

AutorJared Diamond
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl592 Seiten
ISBN9783104020143
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Noch heute leben zahlreiche Stämme als Jäger und Sammler in unzugänglichen Teilen der Welt. Jared Diamond, Professor für Geographie und international erfolgreicher Bestsellerautor, kennt sie aus vielen Expeditionen, die er in den letzten Jahrzehnten geleitet hat. In seinem neuen Buch entfaltet er den ganzen Reichtum ihrer verblüffend anderen Lebensweise und zeigt anschaulich, was wir heute von ihnen lernen können. Eine überraschende und unterhaltsame Lektion über die Vielfalt der Kulturen - und eine Kritik unseres modernen Selbstverständnisses. »Jared Diamond schreibt mit Witz, Esprit und großem Sachverstand.« Die Welt »Die Zivilisation hat uns reich, satt und bequem gemacht, aber nicht rundum zufrieden. Jared Diamond hilft uns zu erkennen, woran das liegt. Und nicht nur das: Er sagt uns auch, was wir besser machen können. Vorbilder gibt es genug, von Afrika bis Neuguinea.« Stern »Eine Fundgrube und ein Gedankenanreger ohnegleichen.« Financial Times Deutschland »Auf Diamond passt das überstrapazierte Wort vom Universalgelehrten genau, dazu gehört auch, dass er Autodidakt geblieben ist, um Wissenslücken bald zu schließen, wenn die sich neu öffneten. Er ist die Lernfähigkeit selbst.« Die Zeit »Wichtige Einsichten in unser traditionelles wie modernes Menschsein.« Der Tagesspiegel

Jared Diamond, 1937 in Boston geboren, ist Professor für Geographie an der University of California, Los Angeles. Sein Hauptforschungsgebiet ist die Evolutionsbiologie. In den letzten 25 Jahren hat er rund ein Dutzend Expeditionen in entlegene Gebiete von Neuguinea geleitet. Für seine Arbeit auf den Gebieten der Anthropologie und Genetik ist er mehrfach ausgezeichnet worden, u.a. mit dem Pulitzer-Preis. Nach ?Der dritte Schimpanse?, ?Arm und Reich?, ?Warum macht Sex Spaß??, seinem internationalen Bestseller ?Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen? und ?Vermächtnis. Was wir von traditionellen Gesellschaften lernen können? erschien zuletzt bei S. Fischer ?Krise. Wie Nationen sich erneuern können? (2019).Literaturpreise:Britain's Rhône-Poulenc Prize for Science Books 1998,Pulitzer-Preis 1998,Lannan Literary Award 1999,Dickson Prize für Wissenschaft 2006,Wolf-Preis für Agrarwissenschaft 2013

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Leseprobe

Prolog Auf dem Flughafen


Eine Szene am Flughafen


30. April 2006, sieben Uhr morgens. Ich stehe in der Abflughalle eines Flughafens, habe den Griff meines Gepäckwagens gepackt und werde von einer Menge anderer Menschen, die ebenfalls für die ersten Flüge des Tages einchecken wollen, hin und her geschubst. Es ist eine vertraute Szene: Hunderte von Reisenden mit Koffern, Kisten, Rucksäcken und Babys stehen in parallelen Schlangen vor einer langen Reihe mit Schaltern, und dahinter arbeiten uniformierte Mitarbeiterinnen der Fluggesellschaften an ihren Computern. Andere Uniformierte verteilen sich in der Menge: Piloten und Stewardessen, Gepäckprüfer und zwei Polizisten, die zwischen den Menschen stehen und nichts anderes zu tun haben, als sichtbar zu sein. Die Prüfer röntgen die Gepäckstücke, die Mitarbeiterinnen der Fluggesellschaften hängen Etiketten an die Koffer, und Gepäckträger heben die Koffer auf ein Förderband, das sie fortbringt, damit sie hoffentlich in die richtigen Flugzeuge geladen werden. An der Wand gegenüber den Check-in-Schaltern sind Läden, die Zeitungen und Fastfood verkaufen. Weitere Gegenstände in meiner Umgebung sind die üblichen Wanduhren, Telefone, Geldautomaten, Rolltreppen zur oberen Etage und natürlich die Flugzeuge, die man durch die Fenster des Terminals sehen kann.

Die Schaltermitarbeiterinnen der Fluggesellschaft bewegen ihre Finger über Computertastaturen, blicken auf Bildschirme und drucken zwischendurch an den Kreditkartenterminals die Zahlungsbelege aus. In der Menschenmenge herrscht die übliche Mischung aus Humor, Geduld, Empörung, respektvollem Anstehen und der Begrüßung von Bekannten. Als ich in meiner Schlange ganz vorn stehe, zeige ich ein Stück Papier (meinen Buchungsbeleg) einem Menschen, den ich noch nie gesehen habe und vermutlich nie wieder sehen werde (der Check-in-Mitarbeiterin). Im Gegenzug drückt sie mir ein Stück Papier in die Hand, das mich berechtigt, über Hunderte von Kilometern an einen Ort zu fliegen, an dem ich nie zuvor gewesen bin und dessen Bewohner mich nicht kennen, meine Ankunft aber dennoch hinnehmen.

Reisenden aus den USA, Europa oder Asien würde an dieser ansonsten vertrauten Szene zuerst eine Besonderheit auffallen: Bei allen Menschen in der Halle außer mir und einigen anderen Touristen handelt es sich um Neuguineer. Als weiterer Unterschied würde dem Reisenden aus Übersee auffallen, dass als Nationalflagge die schwarzrotgoldene Flagge des Staates Papua-Neuguinea über dem Schalter hängt, die einen Paradiesvogel und das Kreuz des Südens – ein Sternbild – zeigt; auf den Schildern über den Schaltern steht nicht »American Airlines« oder »British Airways«, sondern »Air Niugini«; und die Namen der Flugziele auf den Monitoren klingen exotisch: Wapenamanda, Goroka, Kikori, Kundiawa und Wewak.

Der Flughafen, auf dem ich an jenem Morgen eincheckte, liegt in Port Moresby, der Hauptstadt von Papua-Neuguinea. Für jemanden mit einem Gespür für die Geschichte Neuguineas – auch für mich, der ich 1964 zum ersten Mal in das Land kam, das damals noch unter australischer Verwaltung stand – war die Szene vertraut, erstaunlich und bewegend zugleich. Im Geist verglich ich sie mit den Fotos der ersten Australier, die 1931 in das Hochland Neuguineas vorgedrungen waren und es »entdeckt« hatten, eine Region, in der eine Million Dorfbewohner noch Steinwerkzeuge benutzten. Auf den Fotos starren die Hochlandbewohner, die seit Jahrtausenden relativ abgeschieden gelebt hatten und nur begrenzte Kenntnisse über die Außenwelt besaßen, voller Entsetzen auf die ersten Europäer, die ihnen begegneten (Abb. 30, 31). Als ich 2006 auf dem Flughafen von Port Moresby in die Gesichter der neuguineischen Passagiere, Schaltermitarbeiterinnen und Piloten blickte, sah ich in ihnen die Gesichter der Neuguineer, die man 1931 fotografiert hatte. Die Menschen, die auf dem Flughafen um mich herumstanden, waren natürlich nicht dieselben wie auf den Fotos von 1931, aber ihre Gesichter waren ähnlich, und manche von ihnen könnten die Kinder oder Enkel der Hochlandbewohner von damals gewesen sein.

Zwischen der Szene vom Check-in 2006, die sich in mein Gedächtnis eingebrannt hat, und den Fotos vom »Erstkontakt« aus dem Jahr 1931 besteht natürlich ein besonders augenfälliger Unterschied: Die Hochlandbewohner von 1931 waren nur spärlich mit Grasröcken bekleidet, trugen Netzbeutel auf den Schultern und hatten einen Kopfschmuck aus Vogelfedern; 2006 trugen sie die internationale Einheitskluft aus Hemden, Hosen, Röcken, Shorts und Baseballkappen. Innerhalb von ein bis zwei Generationen und innerhalb der Lebenszeit vieler einzelner Menschen in der Abflughalle hatten die Hochlandbewohner Neuguineas gelernt, zu schreiben, Computer zu bedienen und Flugzeuge zu steuern. Manche Menschen in der Halle waren vielleicht die ersten aus ihrem Stamm, die Lesen und Schreiben gelernt hatten. Ein Symbol für die Kluft zwischen den Generationen war für mich das Bild zweier Männer in der Menschenmenge: Der Jüngere, in Pilotenuniform, ging vor dem Älteren her und erklärte mir, er bringe seinen Großvater zu seiner ersten Flugreise; und der grauhaarige Großvater sah fast ebenso verwirrt und überwältigt aus wie die Menschen auf den alten Fotos.

Ein Beobachter, der sich in der Geschichte Neuguineas auskennt, hätte aber neben der Tatsache, dass die Menschen damals Grasröcke und 2006 westliche Kleidung trugen, noch größere Unterschiede zwischen den Szenen von 1931 und 2006 erkannt. Der Hochlandgesellschaft von 1931 fehlte nicht nur fabrikmäßig hergestellte Kleidung, sondern auch moderne Technologie in jeglicher Form, von Uhren, Telefonen und Kreditkarten bis zu Computern, Rolltreppen und Flugzeugen. Und auch grundlegende Dinge wie Schrift, Metall, Geld, Schulen und eine Zentralregierung gab es im Hochland Neuguineas 1931 nicht. Hätten wir nicht die Realität der neueren Geschichte hinter uns, so müssten wir uns fragen: Kann eine des Lesens und Schreibens unkundige Gesellschaft einen solchen Wandel wirklich innerhalb einer Generation bewältigen?

Mit ein wenig Aufmerksamkeit und Kenntnissen über die Geschichte Neuguineas hätte man in der Szene von 2006 noch weitere Aspekte entdeckt, die ähnlich auch auf anderen Flughäfen zu sehen wären, aber ganz anders waren als in den Szenen von 1931 auf den Fotos aus dem Hochland. In der Szene von 2006 kommt ein größerer Anteil grauhaariger alter Menschen vor, von denen in der traditionellen Gesellschaft im Hochland nur relativ wenige überlebten. Die Menschenmenge auf dem Flughafen kommt einem Besucher aus dem Westen, der noch keine Erfahrung mit Neuguinea hat, vielleicht »einheitlich« vor – alle Menschen ähneln sich mit ihrer dunklen Haut und den krausen Haaren (Abb. 13, 26, 30, 31, 32) –, in anderen Aspekten ihres Erscheinungsbildes ist sie jedoch heterogen: große Flachlandbewohner von der Südküste mit spärlichem Bart und schmalem Gesicht; kleinere Bartträger aus dem Hochland mit breitem Gesicht; und Bewohner der Inseln und des Flachlandes an der Nordküste, deren Gesichtszüge ein wenig asiatisch wirken. Im Jahr 1931 wäre es völlig unmöglich gewesen, Hochlandbewohnern sowie Flachlandbewohnern von der Süd- und Nordküste gleichzeitig zu begegnen; jede Menschenansammlung wäre in Neuguinea weitaus homogener gewesen als die Menschenmenge auf dem Flughafen im Jahr 2006. Ein Sprachforscher, der den Menschen zuhörte, hätte Dutzende von Sprachen unterscheiden können, die zu ganz unterschiedlichen Gruppen gehören: tonale Sprachen, deren Wörter sich wie im Chinesischen durch die Tonhöhe unterscheiden, austronesische Sprachen mit relativ einfachen Silben und Konsonanten, und die nichttonalen Papua-Sprachen. Auch 1931 hätte man zwar Menschen, die sich unterschiedlicher Sprachen bedienten, gemeinsam begegnen können, aber eine Versammlung, in der Dutzende von Sprachen gesprochen werden, hätte es nicht gegeben. An den Check-in-Schaltern und auch in vielen Unterhaltungen zwischen den Passagieren wurden 2006 zwei weit verbreitete Sprachen gesprochen, nämlich Englisch und Tok Pisin (auch Neomelanesisch oder Pidgin-Englisch genannt), 1931 dagegen hätten alle Gespräche im Hochland Neuguineas in lokalen Sprachen stattgefunden, die jeweils auf ein kleines Gebiet beschränkt waren.

Ein anderer kleiner Unterschied zwischen den Szenen von 1931 und 2006 bestand darin, dass zur Menschenmenge von 2006 auch einige Neuguineer mit einem unglückselig-verbreiteten amerikanischen Körperbau gehörten: übergewichtige Menschen, bei denen der »Bierbauch« über den Gürtel hing. Die Fotos aus der Zeit vor 75 Jahren zeigen nicht einen einzigen übergewichtigen Neuguineer: Alle waren schlank und muskulös (Abb. 30). Hätte man die Ärzte der Passagiere am Flughafen befragt, so hätte man (was man auch aus den modernen Gesundheitsstatistiken Neuguineas ablesen kann) von einer Vermehrung der Diabetesfälle erfahren, die mit dem Übergewicht gekoppelt sind, außerdem von Bluthochdruck, Herzkrankheiten, Schlaganfällen und Krebserkrankungen, die noch vor einer Generation unbekannt waren.

Ein weiterer Unterschied betrifft ein Merkmal, das wir in der modernen Welt für...

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