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E-Book

Brasilien

Ein Land der Zukunft

AutorStefan Zweig
VerlagS. Fischer Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2009
ReiheGesammelte Werke in Einzelbänden 
Seitenanzahl331 Seiten
ISBN9783104001821
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis3,99 EUR
Mit einem Nachwort von Knut Beck. Mit dem Autorenporträt aus dem Metzler Lexikon Weltliteratur. Mit Daten zu Leben und Werk, exklusiv verfasst von der Redaktion der Zeitschrift für Literatur TEXT + KRITIK. Bei seinem ersten Besuch 1936 war Stefan Zweig sofort begeistert: »heller scheint dem Gast hier das Leben mit der helleren Sonne«. Seinen Dank an das »wundervolle Land Brasilien«, in das er 1940 emigrierte, goss er in die Form dieser Monographie, die sich allerdings mehr der exotischen und pittoresken Eigenart des Landes widmet als seiner damals gerade aufstrebenden, den Brasilianern so wichtigen technischen Entwicklung. Nach schwierigen Jahrzehnten scheint sich Stefan Zweigs Verdikt nun zu bestätigen: »Brasilien wird immer eine Zukunft vor sich haben«.

Stefan Zweig wurde am 28. November 1881 in Wien geboren und lebte ab 1919 in Salzburg, bevor er 1938 nach England, später in die USA und schließlich 1941 nach Brasilien emigrierte. Mit seinen Erzählungen und historischen Darstellungen erreichte er weltweit in Millionenpublikum. Zuletzt vollendete er seine Autobiographie ?Die Welt von Gestern? und die ?Schachnovelle?. Am 23. Februar 1942 schied er zusammen mit seiner Frau »aus freiem Willen und mit klaren Sinnen« aus dem Leben.

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Leseprobe

Einleitung


In früheren Zeiten pflegten die Schriftsteller, ehe sie ein Buch an die Öffentlichkeit gaben, eine kleine Vorrede vorauszuschicken, in der sie redlich mitteilten, aus welchen Gründen, von welchen Gesichtspunkten aus und in welcher Absicht sie ihr Buch geschrieben. Es war eine gute Gewohnheit. Denn sie schuf durch den Freimut und die direkte Ansprache von vornherein ein richtiges Einverständnis zwischen dem Schreibenden und denen, für die es geschrieben war. Und so möchte auch ich in möglichster Redlichkeit sagen, was mich bewog, ein von meinem sonstigen Arbeitskreis scheinbar weitabgelegenes Thema mir vorzunehmen.

Als ich im Jahre 1936 zum PEN-Club-Kongreß in Buenos Aires nach Argentinien fahren sollte, fügte sich dem die Einladung bei, gleichzeitig Brasilien zu besuchen. Meine Erwartungen waren nicht sonderlich groß. Ich hatte die durchschnittliche hochmütige Vorstellung des Europäers oder Nordamerikaners von Brasilien und bemühe mich jetzt, sie zurückzukonstruieren: irgend eine der südamerikanischen Republiken, die man nicht genau von einander unterscheidet, mit heißem, ungesundem Klima, mit unruhigen politischen Verhältnissen und desolaten Finanzen, unordentlich verwaltet und nur in den Küstenstädten halbwegs zivilisiert, aber landschaftlich schön und mit vielen ungenützten Möglichkeiten – ein Land also für verzweifelte Auswanderer oder Siedler und keinesfalls eines, von dem man geistige Anregung erwarten konnte. Zehn Tage daran zu wagen, schien mir genug für jemanden, der seinem Beruf nach weder fachmäßiger Geograph, Schmetterlingssammler, Jäger, Sportsmann oder Kaufmann war. Acht Tage, zehn Tage und dann rasch wieder zurück, so dachte ich, und ich schäme mich nicht, diese meine törichte Einstellung zu verzeichnen. Ich halte es sogar für wichtig, denn sie ist ungefähr dieselbe, die noch heute in unseren europäischen und nordamerikanischen Kreisen im Umlauf ist. Brasilien ist heute im kulturellen Sinne noch ebenso eine terra incognita, wie sie es den ersten Seefahrern im geographischen gewesen. Immer wieder bin ich von neuem überrascht, welche verworrenen und unzulänglichen Vorstellungen selbst gebildete und politisch interessierte Menschen von diesem Lande haben, das doch unzweifelhaft bestimmt ist, einer der bedeutsamsten Faktoren in der künftigen Entwicklung unserer Welt zu werden. Als zum Beispiel auf dem Schiff ein Bostoner Kaufmann ziemlich abfällig von den kleinen südamerikanischen Staaten sprach und ich ihn zu erinnern versuchte, daß Brasilien für sich allein größeres Territorium umfaßt, als die Vereinigten Staaten, glaubte er, daß ich spaße, und ließ sich erst durch einen Blick auf die Landkarte überzeugen. Oder ich fand in dem Roman eines sehr bekannten englischen Autors das amüsante Detail, daß er seinen Helden nach Rio de Janeiro gehen läßt, um dort Spanisch zu erlernen. Aber er ist nur einer von Unzähligen, die nicht wissen, daß man in Brasilien Portugiesisch spricht. Jedoch es steht mir, wie gesagt, nicht zu, anderen hochmütige Vorhaltungen wegen ihrer geringen Kenntnisse zu machen; ich habe selbst, als ich das erstemal von Europa abfuhr, nichts oder wenigstens nichts Zuverlässiges von Brasilien gewußt.

Dann kam die Landung in Rio, einer der mächtigsten Eindrücke, den ich zeitlebens empfangen. Ich war fasziniert und gleichzeitig erschüttert. Denn hier trat mir nicht nur eine der herrlichsten Landschaften der Erde entgegen, diese einzigartige Kombination von Meer und Gebirge, Stadt und tropischer Natur, sondern auch eine ganz neue Art der Zivilisation. Da war ganz gegen meine Erwartung mit Ordnung und Sauberkeit in Architektur und städtischer Anlage ein durchaus persönliches Bild, da war Kühnheit und Großartigkeit in allen neuen Dingen und gleichzeitig eine alte, durch die Distanz noch besonders glücklich bewahrte geistige Kultur. Da war Farbe und Bewegung, das erregte Auge wurde nicht müde zu schauen, und wohin es blickte, war es beglückt. Ein Rausch von Schönheit und Glück überkam mich, der die Sinne erregte, die Nerven spannte, das Herz erweiterte, den Geist beschäftigte, und soviel ich sah, es war nie genug. In den letzten Tagen fuhr ich ins Innere oder vielmehr – ich glaubte ins Innere zu fahren. Ich fuhr zwölf Stunden, vierzehn Stunden weit nach São Paulo, nach Campinas, in der Meinung, dem Herzen dieses Landes damit näherzukommen. Aber als ich zurückgekehrt dann auf die Karte blickte, entdeckte ich, daß ich mit diesen zwölf oder vierzehn Stunden Eisenbahnfahrt nur knapp unter die Haut gekommen; zum erstenmal begann ich die unfaßbare Größe dieses Landes zu ahnen, das man eigentlich kaum mehr ein Land nennen sollte, sondern eher einen Erdteil, eine Welt mit Raum für dreihundert, vierhundert, fünfhundert Millionen und einem unermeßlichen, noch kaum zum tausendsten Teile ausgenützten Reichtum unter dieser üppigen und unberührten Erde. Ein Land in rapider und trotz aller werkenden, bauenden, schaffenden, organisierenden Tätigkeit erst beginnender Entwicklung. Ein Land, dessen Wichtigkeit für die kommenden Generationen auch mit den kühnsten Kombinationen nicht auszudenken ist. Und mit einer erstaunlichen Geschwindigkeit schmolz der europäische Hochmut dahin, den ich höchst überflüssigerweise als Gepäck auf diese Reise mitgenommen. Ich wußte, ich hatte einen Blick in die Zukunft unserer Welt getan.

Als dann das Schiff abfuhr – es war eine Sternennacht, und doch glänzte diese einzige Stadt mit ihren Perlenschnüren elektrischen Lichts schöner und geheimnisvoller als die Funken des Firmaments – war ich gewiß, daß ich diese Stadt, dieses Land nicht zum letztenmal gesehen, und völlig im klaren auch, daß ich eigentlich nichts gesehen oder keinesfalls genug. Ich nahm mir vor, gleich im nächsten Jahr wiederzukommen, besser vorbereitet und um länger zu bleiben, um noch einmal und noch stärker dieses Gefühl zu empfinden, im Werdenden, Kommenden, Zukünftigen zu leben und die Sicherheit des Friedens, die gute gastliche Atmosphäre nun noch bewußter zu genießen. Aber ich konnte mein Versprechen nicht halten. Im nächsten Jahr war der Krieg in Spanien, und man sagte sich: warte ab bis zu einer ruhigeren Zeit. 1938 fiel Österreich, und wieder harrte man auf einen ruhigeren Augenblick. Dann, 1939, war es die Tschechoslowakei und dann der Krieg in Polen und dann der Krieg aller gegen alle in unserem selbstmörderischen Europa. Immer leidenschaftlicher wurde mein Wunsch, mich aus einer Welt, die sich zerstört, für einige Zeit in eine zu retten, die friedlich und schöpferisch aufbaut; endlich kam ich wieder in dieses Land, besser und gründlicher vorbereitet als zuvor, um zu versuchen, davon ein kleines Bild zu geben.

Ich weiß, daß dieses Bild nicht vollständig ist und nicht vollständig sein kann. Es ist unmöglich, Brasilien, eine so weiträumige Welt, vollkommen zu kennen. Ich habe ungefähr ein halbes Jahr in diesem Lande verbracht und weiß gerade jetzt erst, wieviel trotz allen Lerneifers und Reisens mir zu einem wirklich vollständigen Überblick dieses gewaltigen Reiches noch fehlt, und daß ein ganzes Leben kaum ausreichte, um sagen zu dürfen: ich kenne Brasilien. Ich habe vor allem eine Reihe Provinzen überhaupt nicht gesehen, deren jede so groß oder größer ist als Frankreich oder Deutschland, ich habe die selbst von wissenschaftlichen Expeditionen nicht ganz durchdrungenen Gebiete von Mato Grosso, Goiás und die Wildnisse des Amazonenstroms nicht durchstreift. Ich bin also nicht vertraut mit dem primitiven Leben dieser in riesigen Räumen verstreuten Siedlungen und kann nicht die Existenz all dieser von der Kultur kaum berührten Berufsklassen anschaulich machen: nicht das Leben der »barqueiros« [Schiffer], die auf den Strömen schiffen, nicht das der »caboclos« [Halbindianer] im Amazonengebiet, nicht das der Diamantensucher, der »garimpeiros«, nicht das der Viehzüchter, der »vaqueiros« und »gaúchos«, nicht das der Gummiplantagenarbeiter im Urwald, der »seringueiros«, oder das der »barranqueiros« [Zeltbewohner] von Minas Gerais. Ich habe die deutschen Kolonien von Santa Catarina nicht besucht, wo in den alten Häusern noch das Bild Kaiser Wilhelms und in den neueren das Bild Adolf Hitlers hängen soll, nicht die japanischen Kolonien im Innern von São Paulo und kann niemandem verläßlich sagen, ob wirklich noch manche der indianischen Stämme in den undurchdringlichen Wäldern kannibalisch sind.

Auch von den landschaftlichen Sehenswürdigkeiten kenne ich manche der wesentlichen nur von Bildern und Büchern. Ich bin nicht die zwanzig Tage die grüne, in ihrer Monotonie großartige Wildnis des Amazonas hinaufgefahren, nicht bis an die Grenzen Perus und Boliviens gelangt, ich habe es durch die Schwierigkeiten der Schiffahrt innerhalb der ungünstigen Jahreszeit versäumen müssen, die zwölftägige Fahrt auf dem Rio São Francisco zu unternehmen, Brasiliens mächtigem und historisch so bedeutsamem Binnenfluß. Ich habe den Itatiaia nicht bestiegen, den dreitausend Meter hohen Berg, von dem man das brasilianische Hochplateau mit seinen Gipfeln bis weit nach Minas Gerais und Rio de Janeiro überschaut. Ich habe nicht das Weltwunder des Iguassú gesehen, der in schäumendem Katarakt die gewaltigsten Wassermassen niederschmettert, und dessen Grandiosität nach den Aussagen der Besucher den Niagara weit übertrifft. Ich bin nicht mit Hacke und Messer in das dumpfe und schillernde Dickicht des Urwalds eingedrungen. Trotz allen Reisens, Schauens, Lernens, Lesens und Suchens bin ich nicht weit über den Rand der Zivilisation in Brasilien hinausgekommen und muß mich trösten mit dem Gedanken, daß ich kaum zwei oder drei Brasilianer traf, die behaupten...

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