13.5.
Jugendträume und ein Fiasko
Es war eine heiße Nacht. Leider im wahrsten Sinne des Wortes. Also nicht die Sorte, die man sich davon wünscht. Viel geschlafen habe ich aufgrund der Temperaturen nicht. Obwohl es dringend nötig gewesen wäre. Fest steht für mich, dass ich hier so schnell wie möglich verschwinden werde. Meine Eltern und engsten Freunde haben mich darum gebeten, sie einigermaßen auf dem Laufenden zu halten. Der kleine Timo ist mit seinen vierundzwanzig Jahren zwar schon groß, aber sie wollen natürlich wissen, ob es mir gutgeht, knapp zwölftausend Kilometer fern der Heimat. Also stapfe ich mit meinem Gepäck noch schnell ins nächste Internetcafé und mache kurz Meldung, dass ich zumindest wohlauf bin.
Anschließend heuere ich einen Fahrer an, der mich tiefer in den Süden der Insel bringen soll. Auf einem Moped, genannt Motorbike, dem Hauptverkehrsmittel der Balinesen. Die Dinger sieht man hier überall auf den holprigen Straßen, viel öfter als Autos. Und es bereitet mir ziemlichen Spaß, hintendrauf zu sitzen und dabei die Landschaft zu genießen, während mir der Fahrtwind ein wenig Kühlung verschafft. Nach einer guten Stunde erreiche ich mein Ziel. Die «Romeo Bungalows» in dem Örtchen Bingin. Ein Tipp meines guten Freundes. Die Betten sind so sauber, dass ich meinen Schlafsack eingepackt lasse. Es sollte so ziemlich das einzige Mal sein, dass ich ihn nicht benötige.
Geführt wird das Homestay von Susi und Made, zwei schüchternen, aber sehr lieben Balinesinnen. Susi ist winzig, geschätzte ein Meter vierzig. Neben ihr wirke selbst ich wie ein baumlanger Basketballer. Mein erster Weg führt mich in den offenen Essensraum zum verspäteten Mittagsmahl. Das Nasigoreng schmeckt phantastisch.
Danach geht es runter an den Strand von Bingin. Angetan haben es mir vor allem die einsamen Felsbrocken, die getrennt von den übrigen mitten im Wasser stehen und auf denen obendrauf stets ein kleines Bäumchen wächst. Wunderschön hier. Leider ist der Himmel von einer dicken Wolkendecke verhangen, Bräunen kann ich also heute vergessen. Dafür ist das Wasser so warm wie in der Badewanne. Ich bin reif für einen ersten beherzten Sprung ins herrlich angenehme Nass.
Wir waren bereit für den Sprung auf den EM-Zug. Er sollte uns mit Volldampf zur Endrunde fahren. Zur ersten und vielleicht auch einzigen Europameisterschaft unseres Lebens. Nachdem die Jungs ohne mich die erste Runde der Qualifikation überstanden hatten, ging es nun in der nächsten Gruppenphase um alles. Unsere Kontrahenten waren Italien, Belgien und Aserbaidschan. Lediglich der Erste löste das Ticket zur Endrunde in Portugal. Die Spiele fanden in Belgien statt, unweit der deutschen Grenze. Alle Teams wohnten in einem kleinen Bungalowdorf, völlig abgelegen in der hintersten Prärie. Es schien ein Erholungsgebiet für Urlauber zu sein, Minigolfanlage und Wanderwege inklusive. Eine ungewöhnliche Art zu hausen für einen Fußballer, so ganz anders als die üblichen noblen Hotels in den Städten.
Auf dem zentralen Platz der Anlage stand ein Fahrrad für den allgemeinen Gebrauch herum. Die Spieler aus Aserbaidschan scharten sich darum wie um einen seltenen Schatz. Ich beobachtete die Szenerie zufällig aus einiger Entfernung und war doch einigermaßen irritiert. Als einer sich dann ein Herz nahm, auf den Drahtesel stieg und nach mehreren Versuchen, noch immer relativ unbeholfen, aber unfallfrei, durch die Gegend eierte, jubelte die gesamte Mannschaft. Man bekam den Eindruck, sie hätten gerade das entscheidende Tor für die erfolgreiche Qualifikation geschossen. Erst jetzt begriff ich: Für die Jungs war dieses Fahrrad eine Riesenattraktion. Ich konnte mir ein Grinsen nicht verkneifen, es war schön, ihnen dabei zuzusehen, wie diebisch sie sich über ihre Entdeckung freuten. Gleichzeitig kam mir der Gedanke, wie selbstverständlich wir im Westen gewisse Dinge betrachten, ohne zu reflektieren, dass es in anderen Ländern ganz anders aussieht.
Gegen den begeisterten Radrennstall aus Aserbaidschan hatten wir, wie erwartet, wenig Mühe und gewannen ungefährdet unser Auftaktspiel. Als krasser Außenseiter stellten sie sich mit Mann und Maus hinten rein und machten die Räume dadurch eng. Doch nach unserem ersten Tor war die Sache gelaufen, und wir gewannen am Ende deutlich.
Gegen die Italiener sah das schon ein wenig anders aus. Bis zum Schluss blieb es beim Unentschieden, obwohl wir in der Schlussphase anrannten und auf den Sieg drängten. Doch die jungen Italiener agierten bereits wie ihre Landsmänner im Profibereich: taktisch äußerst diszipliniert, ja fast schon unterkühlt. Es war offensichtlich, dass sie uns spielerisch nicht das Wasser reichen konnten. Also wollten sie den einen Punkt über die Zeit retten. Und zwar mit allen Mitteln. Zum einen eben mit einer destruktiven, aber äußerst ausgefeilten Defensivtaktik, Stichwort Catenaccio. Zum anderen aber auch mit einer Menge Schauspielerei und Theatralik. Da wurde sich schon mal grundlos am Boden gewälzt, obwohl niemand wirklich berührt wurde, oder mit dem Schiedsrichter diskutiert, wo es nichts zu diskutieren gab. Manche mögen es Cleverness nennen, ich sehe das ab einem gewissen Grad anders. Und sei es in der Zeit vor oder nach diesem Spiel, gegen italienische Mannschaften hatte ich selten Spaß am Fußball.
Beim U17-EM-Qualifikationsspiel gegen Italien.
In der letzten Begegnung gegen Belgien brauchten wir einen Sieg für die Qualifikation zur Europameisterschaft. Wir gingen als Favorit in das Spiel, und keiner von uns konnte sich vorstellen, dass wir diese einmalige Chance vergeigen würden. Doch genau das taten wir. Es war eines der Spiele, in denen du machen kannst, was du willst, es läuft einfach nichts. Wir spielten zwar unter unseren Möglichkeiten, aber das hätte trotzdem reichen können. Doch in den entscheidenden Situationen, in wichtigen Zweikämpfen oder bei glasklaren Torchancen, zogen wir den Kürzeren. So oft waren wir zur Stelle gewesen gegen starke Mannschaften, wenn es darauf ankam – Brasilien, Argentinien, England, Holland, sie alle hatten wir geschlagen. An diesem Tag ging nichts. Wir verloren unsere Linie und taktische Ordnung und fanden sie auch nicht wieder. Die Belgier hingegen agierten beflügelt, angetrieben vom heimischen Publikum, und steigerten sich im Laufe der Partie mehr und mehr. Am Ende hieß es zwei zu eins für unser Nachbarland, und das nicht einmal unverdient. Unser EM-Zug hielt also nicht wie geplant in Portugal, sondern bereits in Belgien. Endstation.
Die Gastgeber ließen sich nach dem Abpfiff von ihren Fans euphorisch feiern, während wir zusammengekauert auf dem Rasen saßen und ins Leere blickten. Der Traum von der Europameisterschaft war geplatzt, und ich wischte mir heimlich eine kleine Träne mit dem weiß-schwarzen Trikot aus dem Augenwinkel. Die anschließende Busfahrt in unser Bungalow-Domizil war die mit Abstand geräuschloseste meines bisherigen Lebens. Und hätten es doch wenigstens die Belgier zur Endrunde geschafft nach ihrer leidenschaftlichen Leistung. Aber nein, zu allem Überfluss war dies den Italienern vorbehalten, die dort später im Viertelfinale ausscheiden sollten.
Die Heimreise war erst für den nächsten Tag angesetzt, und so mussten wir noch eine Nacht in der Anlage bleiben. Am späten Abend rief Trainer Stöber die gesamte Mannschaft in eines der Holzhäuser zusammen. Die Stimmung war extrem gedrückt, als wir da so im großen Kreis mit hängenden Köpfen herumstanden. Auch dem Coach sah man deutlich an, dass er wahnsinnig enttäuscht war. Doch er versuchte uns aufzurichten und dankte uns für den großen Einsatz. Anschließend ging er von Spieler zu Spieler, gab jedem die Hand und richtete ein paar aufmunternde Worte an sein jeweiliges Gegenüber.
An Schlafen war erst einmal nicht zu denken, meinem Zimmerkollegen Florian Fromlowitz, unserem Torwart, ging es genauso. Flo und ich waren damals vom selben Schlag. Wir waren unheimlich stolz, den Adler auf der Brust tragen zu dürfen, und uns unserer Verantwortung gegenüber unserem Land bewusst, auch wenn es «nur» eine Jugendnationalmannschaft war. Heute muss ich manchmal schmunzeln, wenn ich ihn Interviews geben sehe oder seine teils übertriebene Gestik auf dem Platz nach einer gelungenen Parade im Fernsehen verfolge, auch wenn diese emotionalen Ausbrüche seltener geworden sind. Aber manchmal scheint er das noch immer zu brauchen, um sich zu pushen. Schon damals war Flo auf dem Platz sehr emotional und ehrgeizig. Im Laufe der Spiele wurde es zu einer Art Ritual, dass wir beide nach einem Tor aufeinander zuliefen und uns noch kurz persönlich zujubelten, bevor der Anstoß für den Gegner erfolgte. Später wurde er in unserer Mannschaft von einem gewissen Manuel Neuer im Tor als Nummer eins verdrängt, aber Flo stieg später dennoch zum Bundesligatorhüter auf.
Damals, an diesem späten Abend in unserem Bungalow, fühlten wir uns beide einfach leer, doch auch das einte uns in diesem Moment. Wir ließen die schmerzhafte Niederlage noch einmal Revue passieren und schauten dann bis tief in die Nacht fern. Rocky IV flimmerte auf der Mattscheibe, und wir gingen bei den Boxkämpfen leidenschaftlich mit wie begeisterte Kampfsportfans, um uns irgendwie von der Enttäuschung abzulenken.
Ich sitze auf einer kleinen Steinmauer ganz am Ende der Anlage. Direkt vor der kleinen Wand fällt eine bewachsene Böschung ab, die zum Strand führt. Von hier oben habe ich einen wundervollen Ausblick auf den Ozean. Eine Gruppe einheimischer Jungs begibt sich gerade ins Wasser. Wobei, das sind noch eher Kinder als Jungs, die auf ihren schmalen Miniatur-Brettern hinauspaddeln. Wenn es hochkommt,...