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Studieren? Wie geht das?
Desillusionierung:
die ersten Tage an der Uni
Den ersten Tag an der Uni? Na, dann mal auf zum großen Rätselraten. Was heißt wohl »O 09.34«? Oder »Straße JK 29/124«? Oder »Keksdose, MD 162«? Das alles sind Raumbezeichnungen deutscher Universitäten – ganz so, als ob man die Hochschulneulinge ganz zu Beginn erst einmal auf ihre generelle Studiertauglichkeit prüfen müsste, indem man ihnen Ortsbezeichnungen um die Ohren haut, die nach einer möglichst undurchschaubaren Systematik entwickelt wurden. Dazu noch ein paar skurrile Namen für Gebäude, und die Verwirrung ist komplett: Rost- und Silberlauben, ein Baumhaus, prickelnd-innovative Gebäudebezeichnungen wie »M« oder »S« oder eben die schon genannten »Keksdosen«.
Dazu kommt eine Sprache, deren hervorstechende Eigenschaft mit »Abkürzungswahn« nur unzureichend beschrieben ist. PS und HS und OS, PO und SO, SS und WS, BA und MA, Erstis und FBR, Stupa und Stura, RCDS und JUSO-HSG, SFB und ExIni, ABS und HRZ, AVMZ und HDZ, ZEDAT und USB, AA oder IO, Thoska und SSZ, ECTS und SWS 1 – die Liste der Abkürzungen, die für neu an die Uni Gekommene kaum zu entschlüsseln sind, scheint schier endlos zu sein. Und längst nicht alles davon ist für den Studienalltag wichtig. Nur: Wer erklärt einem 18- oder 19-jährigen Abiturienten diesen Wahnsinn? Wer sagt ihm, was wichtig ist und was nicht?
Die Antwort lautet leider: niemand. Studienanfänger werden in ein hochkomplexes System hineinkatapultiert, dessen Wirkzusammenhänge sie zu Beginn allenfalls erahnen können und das sie dennoch sofort beherrschen müssen. Jedenfalls wird von ihnen erwartet, innerhalb kürzester Zeit Entscheidungen mit enormer Tragweite zu treffen, die im schlimmsten Fall Auswirkungen auf ihre gesamte weitere Bildungskarriere haben – wohlgemerkt: alles ohne eine echte vorherige Einführung in dieses System »Studium«. Kein Arbeitnehmer würde in einem Wirtschaftsunternehmen ohne ordentliche Einweisung an seinen Arbeitsplatz gelassen, schon gar nicht, wenn er auf diesem Arbeitsplatz Entscheidungen treffen muss, die mittel- und langfristige Auswirkungen auf sein Leben haben könnten. Anders dagegen an den Hochschulen: Hier geben die Verantwortlichen die Parole aus, dass Selbstorganisation ein wichtiger Lerninhalt sei und es von den Studierenden durchaus erwartet werden könne, sich in einer für sie rätselhaften neuen Umgebung mit ihren fragwürdigen bis skurrilen Ritualen schnell und sicher zurechtzufinden. Das klingt nach »survival of the fittest« für Akademiker, doch was hier als fortschrittliche Pädagogik verbrämt wird, kaschiert in Wirklichkeit nur das Unvermögen der Hochschulen zu einer durchschaubaren, nachvollziehbar gestalteten Studienorganisation. Wenn etwas schlecht strukturiert ist und schiefläuft, wird die Bewältigung der dadurch entstehenden Probleme dem akademischen Nachwuchs als didaktische Herausforderung überantwortet; wenn alles klappt, liegt das jedoch, ist ja klar, an der Fürsorge der Hochschule für ihre Kunden, die Studenten. Eine Haltung, die man durchaus auch als Doppelmoral bezeichnen kann.
Dabei ist diese gewisse systemische Arroganz, gepaart mit hartnäckiger Missachtung, gegenüber den Neulingen an der Uni nur die eine Seite der Medaille. Denn auf der anderen Seite zeichnet sich das Hochschulsystem in vielen Bereichen durch eine nahezu exzessive Regelungswut aus. Man stößt also auf beides: das pure Chaos und krankhaft anmutende Verregelung. Zusammengenommen nährt das den Verdacht, dass die Aufforderung an die Erstsemester zum selbstständigen Zurechtfinden im undurchdringlichen Unidschungel nur dem Kaschieren dessen dient, was durch überbordende Regelungswut überhaupt erst schiefläuft.
Dabei ist es nicht etwa so, dass Veränderung an den Universitäten und Fachhochschulen nicht möglich wäre – nein, im Gegenteil: Wenn schon etwas verändert wird, dann aber bitte schön mit deutscher Perfektion. Und so, wie die Einführung des LKW-Mautsystems auf den Autobahnen vor ein paar Jahren zum Paradebeispiel für ein perfektionistisches Desaster wurde, genauso scheint die Bologna-Reform manchen Aktiven scheinbar zum administrativen und strukturellen Amoklauf angestachelt zu haben – Einzelheiten dazu finden sich in Kapitel 7.
Das beste Beispiel für den Perfektionismuswahn, der alles noch viel schlimmer macht, ist die computergestützte Anmeldung zu Seminaren und Vorlesungen. Die meisten Hochschulen haben entsprechende Online-Tools aufgebaut und ihnen mehr oder weniger wohlklingende Namen verpasst: Stud.IP (Studienbegleitender Internetsupport von Präsenzlehre, Carl-von-Ossietzky-Universität Oldenburg), StINe (Studieninfonetz, Uni Hamburg) oder sogar JOGU-StINe (Studien- und Informationsnetz, Johannes-Gutenberg-Universität Mainz), PULS (Potsdamer Universitätslehr- und Studienorganisationsportal), uk-online (Universität zu Köln) WUSEL (Wuppertaler UniversitätsStudierenden Online-Portal zur Unterstützung der Lehr- und Lernorganisation) oder FlexNow, das an den Unis in Bamberg und Bayreuth, Gießen, Göttingen und Regensburg eingesetzt wird. Doch Studierende wissen spätestens nach den ersten Wochen an der neuen Hochschule: Der Computereinsatz alleine sorgt noch längst nicht für einen reibungslosen Ablauf der Studienorganisation, auch wenn die Funktionsbeschreibungen dieser Programme fast schon nach Studienparadies klingen. Eine effektive Seminar- und Studienplanung wird da versprochen, ein digital basiertes und effektives Management der Anforderungen einer Hochschulausbildung – doch die Realität sind Programmabstürze, überlastete Server, im Datennirwana verschwundene Seminaranmeldungen und anhaltende Ignoranz durch etliche Professoren. Wenn Studenten aus den Niederungen der Online-Anmelde-Prozeduren berichten, dann klingt das eher nach Horrorkabinett als nach zukunftsfähiger Hochschulorganisation.
Auf der Website www.seminarrauswurf.de haben Studentenvertretungen verschiedener Universitäten Geschichten von fehlgeschlagenen Anmeldungen gesammelt. Die im Internet veröffentlichte Liste ist lang und schockierend – schockierend vor allem angesichts der offensichtlichen Unfähigkeit etlicher Hochschulverwaltungen und zahlreicher Dozentinnen und Dozenten, mit dem Problem der großen Nachfrage nach akademischer Bildung umzugehen.
Die folgenden Auszüge – es sind nur fünf von insgesamt mehreren Hundert Einträgen – stammen aus der seminarrauswurf-Liste, in der die Meldungen von betroffenen Studenten gesammelt werden. Um solche Zustände zu ertragen, hilft nur noch Zynismus.
• »Man konnte sich für das Seminar bei Prof. X über FlexNow und die Psychologieseite anmelden. Da es bei FlexNow keine Anmeldebeschränkung gab und das Seminar nur für 60 Personen angemeldet war und natürlich doppelt so viele gekommen sind, die sich fast alle über FlexNow angemeldet haben, hat jeder auf seinen Platz im Seminar bestanden. Prof. X hat alle Namen aufschreiben lassen, von unangemeldeten und angemeldeten, die Liste an FlexNow geschickt, die dann durch ein Auswahlverfahren die Leute ausgelost haben. Man konnte sich dann bei FlexNow über seinen Rauswurf informieren. Natürlich kann X nichts für die Zustände an der Uni und hat selbst seinen Unwillen darüber gezeigt, aber man fragt sich, warum ein ach so angepriesenes System wie FlexNow keine Anmeldebeschränkung einführt, sodass man sich rechtzeitig für andere Seminare anmelden kann. Denn, so schwer kann das ja nicht sein, oder?« Offensichtlich doch.
• »Der Kurs lief über die FlexNow-Anmeldung, wo ich mich auch angemeldet hatte. Jedoch durften nur die in dem Kurs bleiben, die sich zusätzlich noch per E-Mail bei Mr. X persönlich angemeldet hatten (was nirgendwo stand und keiner wusste). Wie unfair ist das denn bitte??!!« Nur so unfair wie der gesamte sonstige Hochschulbetrieb auch.
• »Die Hauptseminare von Frau XY sind ständig überbelegt. Daher werden Teilnehmer mittels uk-online reduziert: Dies geschieht durch ein nicht überprüfbares Losverfahren. Schon seit fünf Semestern bewerbe ich mich hier vergeblich um einen HS-Platz. Am Seminareingang gibt es zu Beginn eine Absperrungskette. Wer keine uk-online-Anmeldung vorweisen kann, gelangt nicht in den Seminarraum.« Das immerhin ist eine ziemlich kreative Art, die Überfüllung des Hörsaals zu vermeiden.
• »Fr. Y hat anhand der Liste derjenigen, die sich über FlexNow angemeldet hatten, ausgelost. Allerdings hat sie die Liste am Tag zuvor ausgedruckt und man hatte noch unmittelbar vor dem Seminar die Möglichkeit sich anzumelden (was ich getan habe).« Offensichtlich ist es schon zu viel verlangt, dass die Dozenten die Anmeldeprozeduren des Systems beherrschen.
• »Warum haben wir so ein ›tolles‹ Computersystem wie FlexNow, das seinen Zweck erstens nicht erfüllt und zweitens jeden anmeldet, und man hinterher doch wieder rausfliegt oder schon vorher eine Abmeldung durch den Dozenten/die Dozentin bekommt? Als ob man es nicht schon mit genügend anderen unnützen Dingen zu tun hätte …« Zynisch könnte man argumentieren: Die lange und ausgiebige Beschäftigung mit unnützen Dingen ist eine der akademischen Haupttätigkeiten – insofern sollten Studenten früh damit...