1 Kleine Fluchten
Wenn unser geliebtes Hausmädchen Babett in der Küche Kupfer, Silber oder Messing putzte, sang sie mit voller Stimme unzählige Volkslieder und Balladen. Ich kleines Ding hockte auf einem kleinen Schemel ihr zu Füßen und fraß die Melodien mit offenen Augen und Ohren nur so in mich hinein. Damals gab es noch keine Aluminium- oder Edelstahltöpfe. Milch kochte man in Messingpfannen, für Braten und Kuchen gab es Kasserollen und Formen aus Kupfer. All dies wurde mühsam poliert und blinkte dann von den Regalen. Das kupferne Wasserschiff des Holzherdes, seine Messingknöpfe und der Wasserhahn funkelten stolz mit.
Mucksmäuschenstill saß ich da und ließ die schaurigschönen Balladen in mein Herz dringen. So auch das Lied von dem Mädchen, das ins Kloster geht und von seinem Liebsten gesucht wird. «Da kam sie hergeschritten,/schneeweiß war sie gekleid’t,/ihre Haar war’n kurz geschnitten,/zur Nonn’ war sie bereit.» Wie hoffte ich jedes Mal, dass die Geschichte doch ein gutes Ende nehmen möge, aber immer wieder blieb der arme Jüngling allein zurück, und ein trauriges Gefühl bemächtigte sich meiner.
Vor einem Lied aber fürchtete ich mich geradezu, und das eigentlich ohne Grund. Bei der vierten Strophe graute es mir so, dass ich Tränen vergoss: «Was trübt dich sehr? Ich kann nicht nach Hause, hab keine Heimat mehr.» Ich lief zu meiner Mutter und warf mich schluchzend in ihre Arme: «Keine Heimat mehr? Kein Zuhause! Gibt es das denn?»
«Ja», antwortete sie, «dann muss man sich eine neue Heimat im Herzen schaffen.»
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Meine Großmutter Clara Elsa, genannt Claire, wird am 11. August 1900 in dem kleinbürgerlichen Städtchen Sankt Gallen geboren. Nie zuvor hat jemand aus ihrer Familie außerhalb der Schweiz gelebt, man ist stolz auf seine Herkunft und verkehrt mit Ausländern eher verhalten oder als Arbeitgeber. Fast alle Hausmädchen, von denen meine Großmutter erzählt, sind arme Schwabenmädchen, so auch die erwähnte Babett aus Tuttlingen.
Auf ihrem Verlobungsbild tragen die Eltern meiner Großmutter hochgeschlossene, unbequem wirkende Kleidung. Zu dieser Zeit lächelt man nicht in die Kamera, und so sehen beide recht verkniffen aus, sie etwas dicklich, er ebenso klein wie seine Frau, mit abstehenden Ohren. Es soll eine Liebesheirat gewesen sein, Ende des 19. Jahrhunderts keine Selbstverständlichkeit.
Mein Urgroßvater ist Kaufmann und verkehrt am Abend in verschiedenen Männervereinigungen. So übernimmt er stets zuverlässig Vormundschaften für arme, verwaiste Mündel und lässt sich Ehrenamt um Ehrenamt aufbürden. Meine Urgroßmutter bleibt zu Hause, erzieht die Kinder und beaufsichtigt das Dienstmädchen. Die beiden interessieren sich nicht besonders für die Politik, geschweige denn für Kultur. Wichtig sind allein Geschäft und Haushalt. Doch vielleicht lesen sie im St. Galler Tagblatt, dass es am Tag der Geburt ihrer Tochter in Paris einen Kongress über «koloniale Soziologie» gibt. Und möglicherweise erfahren sie einen Tag später, dass der Boxeraufstand in China vom internationalen Heer der Kolonialmächte niedergeschlagen worden ist. Fünfundzwanzig Prozent der Weltbevölkerung leben in Kolonien. Während die Herrscher der Reiche damit beschäftigt sind, den Rest der Welt unter sich aufzuteilen, wiegen sich die Bürger Europas in Sicherheit und blicken erwartungsvoll in die Zukunft. Nie kämen meine Urgroßeltern auf den Gedanken, dass ihre Tochter als gebürtige Schweizerin eines Tages zwischen die Fronten der Kolonialmächte geraten könnte.
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Mein Eintritt in diese Welt bereitete meinen Lieben mehr Enttäuschung als Freude. Mein Vater befand sich zu dieser Zeit als Reservist zu einem Wiederholungskurs beim Militär. Er war nicht entzückt von der Nachricht, dass ihm eine Tochter geboren war, hatte er sich doch so sehr einen Sohn gewünscht: Vor vier Monaten war ihm sein vergötterter Junge an einer damals kaum heilbaren Hirnhautentzündung gestorben. Wie hatte meine Mutter um das Leben ihres Ältesten gekämpft, war wochenlang Tag und Nacht nicht von seinem Krankenbett gewichen. Dem neuen Leben unter ihrem Herzen konnte sie nur wenig Aufmerksamkeit schenken. Aller aufopfernden Pflege zum Trotz verloren sie den aufgeweckten vierjährigen Sohn. Vater war untröstlich und beachtete die dreijährige Tochter Louise überhaupt nicht mehr.
Meine Schwester hatte sich unter dem neuen Geschwisterchen etwas vorgestellt, mit dem sie spielen konnte wie mit dem entschwundenen Bruder. Und nun lag da im Korbwagen etwas Winziges, Schreiendes. Meine Mutter stillte nicht selbst, dies galt als unmodern, geradezu peinlich. Es wurde eine Pflegerin engagiert, mit der man allerdings großes Pech hatte. Sie gab mir gleich unverdünnte Kuhmilch zu trinken und verdarb mir damit den Magen für das ganze Leben. Die Krämpfe, die mich als Säugling überfielen, ließen alle das Schlimmste befürchten. Der Arzt riet zu einer Amme, aber schon den Gedanken daran fanden Mutter und die Familie schockierend.
So blieb ich bis zu meinem vierzehnten Lebensjahr ein zartes, mageres Ding. Vater begann erst, Freude an seinen Töchtern zu haben, als wir Backfische wurden, die Jungen sich nach uns umdrehten und seine Freunde ihm Komplimente machten. Aber wir gingen ihm immer etwas aus dem Weg und fanden nie ein wirklich herzliches, vertrautes Verhältnis zu ihm.
Unser Vater führte das Möbel- und Aussteuergeschäft von Sankt Gallen: Wenk & Wildhaber. Direkt über den Verkaufsräumen in der Brühlgasse 35 wuchsen wir in einer geräumigen Wohnung auf. Sie bestand aus der Winterstube mit dem großen Kachelofen, der das angrenzende Elternschlafzimmer mit warm hielt, der Sommerstube und dem Kinderzimmer. Unter dem Dach schlief unser jeweiliges Hausmädchen in seiner kleinen Kammer. Heizbar waren unsere Schlafzimmer nicht, und im Winter prangten am Fenster die schönsten Kristallblumen. Eine Stunde vor dem Zubettgehen wärmte man unsere Betten mit Kirschkernsäcken an, die tagsüber auf dem Kachelofen Wärme speicherten.
Aber Frühling, Sommer und Herbst machten alle Unannehmlichkeiten des Winters wieder gut. Der erste Sonnenstrahl fiel in unsere Fenster, der erste Vogelgesang entzückte unsere Ohren, und der Blick in die Gärten und Bäume des nahen Parks ließ unsere Mädchenherzen mit jedem Jahr erwartungsvoller schlagen.
An den Fenstern zur Gassenseite drückten wir uns an den Scheiben die Nasen platt, denn es war mehr als vergnüglich, auf die belebte Gasse hinunterzuschauen. Vor unserem Geschäftshaus wurden mehrmals in der Woche Brautfuder aufgeschlagen und zurechtgemacht, besonders an Samstagen konnten wir ein reges Treiben beobachten. Da fuhren vormittags die Brautpaare vom Land, die in unserem Geschäft ihre Aussteuer bestellt hatten, mit zwei bis drei leeren Tischwagen vor, die von je zwei Pferden gezogen wurden. Die Pferde wurden ausgespannt und in einem nahen Gasthaus, in dem die Brautleute zu Mittag aßen, untergestellt. Um die Wagen vor dem Haus begann nun eine große Geschäftigkeit. Vaters Arbeiter, Schreiner und Tapezierer luden die Möbel auf und zurrten sie fest. Der erste Wagen, der vom Brautpaar kutschiert wurde, trug das vollständig aufgestellte Wohnzimmer mit Buffet oder Vertiko, Sofa oder Kanapee, Tisch und Stühlen. Auf dem zweiten kam die Küche, und der dritte trug das Schlafzimmer mit den zwei Betten, Matratzen, Federdecken, Kissen, alles weiß bezogen und hoch aufgebettet, daneben die Nachtkästchen, der Spiegelschrank und die Kommode. Ganz hinten stand die Wiege. Zur vereinbarten Zeit erschienen dann Brautleute und Fuhrknechte mit den Pferden. Aufs genaueste besah man die Möbel und rüttelte daran, um zu prüfen, ob auch alles stabil stand. Dann zogen Braut und Bräutigam mit unserem Papa in die gegenüberliegende Wirtschaft, um bei einem Wein die Rechnung zu begleichen. Unterdessen wurden die Pferde eingespannt, das Brautpaar stieg mit auf den Kutschersitz des vordersten Wagens, und unter lautem Peitschengeknall, Adieu-Rufen und Jauchzen ging es stadtauswärts, ihrem Dorf oder Städtchen zu, wo das Brautgut dann stolz durch Gassen und Straßen gefahren und bewundert wurde.
An der Hand meiner großen Schwester eroberte ich mir die Welt, erst den Garten mit der hohen Schaukel, dann den dahinter gelegenen Gymnasiumspark, und schließlich Stück für Stück die kleine Innenstadt. Im Gegensatz zu meiner Schwester saß mir der Schalk im Nacken, ich gab mir alle Mühe, meinen verstorbenen älteren Bruder durch Wildheit zu ersetzen. Großvater Wenk schlachtete manche seiner Tauben für mich, damit ich endlich dicker würde, aber bei meiner Lebhaftigkeit war dies gar nicht möglich: Meine Beine mussten hüpfen und springen, Lachen und Singen mit meinen Freundinnen gehörten einfach zu mir. Meine Mutter sagte manchmal kopfschüttelnd zu uns: «Kinder, wenn ihr im Leben so viel weinen müsst, wie ihr jetzt lacht, dann könnt ihr mir heute schon leidtun.» Über diesen Ausspruch kicherten wir von neuem los. Das Leben war ja so schön und lustig, warum sollte man denn weinen?
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Claire wird eine gute Schülerin, sie liebt ihre Lehrer, besonders diejenigen, die lebendig und anschaulich unterrichten. Trotz hervorragender Noten besucht sie nur die Realschule. Es ist undenkbar, dass die Tochter eine höhere Schulbildung erlangt als die Eltern. Geradezu allergisch reagiert Claire auf den Religionsunterricht. Ihre innere Gewissheit vom Aufgehobensein und Leben im Jenseits verträgt sich nicht mit der Vorstellung vom zornigen und strafenden Gott der reformierten Kirche. Claires Revolution gegen den zuständigen Pfarrer mündet in völliger...