ARBEITSLEID ODER FREUDE AN DER ARBEIT?
Es ist eines der Menschenrechte – das Recht auf Arbeit. Als Erster hat das schon Charles Fourier im frühen 19. Jahrhundert gefordert. Dabei ging es allerdings um jene Armen, die hungerten und keine Unterkünfte hatten. Aber die Einstellung der Menschen scheint sich geändert zu haben, denn jetzt geht es um die möglichst frühe Vermeidung von Arbeit.
„Errungenschaft“ Frühpension?
Als Frühpension bezeichnet man die Möglichkeit, die Arbeit legal vor der Erreichung des gesetzlich festgelegten Pensionsantrittsalters zu beenden und – teilweise mit Abschlägen – eine Pension zu beziehen.
Noch immer gibt es Menschen, die unter ihrer Arbeit leiden. Eine Verhaltensänderung unter diesen Umständen wird schwierig werden, und diesbezügliche Maßnahmen können nur langfristig wirksam werden. Woher aber kommt diese Einstellung? „Im Schweiße deines Angesichts…“ – das steht schon in der Bibel. In der Antike war der Begriff „Arbeit“ mit Mühsal und Plage gleichgesetzt; die Römer sprachen sogar von labor, das bedeutet nicht nur Arbeit, sondern auch Leid. (Labor war ein Dämon, der die Strapaze, die Schinderei personifizierte.) Arbeit, das Geschäft (negotium – Nicht-Muße), war daher verpönt und meist nur für Sklaven gedacht. Der freie Bürger lebte die Muße (otium). Erst die Ideen der Aufklärung, alle Menschen seien von ihrem Schöpfer gleich geschaffen, sollen gleiche Rechte und Freiheiten genießen, im gleichen Maße nach Glück streben dürfen, verwandelten die Arbeit zu einem positiv besetzten Begriff: „Arbeit adelt“, schrieb dann Detlev von Liliencron. Mit Arbeit leistet jede einzelne Person ihren Beitrag zum Wohlergehen des Staats, dem sie als Gleiche unter Gleichen angehört.
Ab Mitte der 1980er-Jahre breitete sich rasch das Bewusstsein aus, dass es eine soziale Errungenschaft sei, früh in Pension zu gehen, auch aufgrund der Annahme, dass Österreich ein reiches Land sei. Langsam entwickelte sich darauf bei manchen die Haltung, dass Arbeit an und für sich Leid bedeute und die Politik dazu da sei, dieses zu lindern – koste es, was es wolle. Und das führte zur Vorliebe vieler Österreicher für die (Früh-)Pension. Das traf nicht auf alle zu. Die Zwangspensionierten in der Mur-Mürz-Furche in der Obersteiermark, die keine Chance auf einen anderen Arbeitsplatz hatten, fühlten sich überflüssig, nicht mehr gebraucht, und viele von ihnen waren unglücklich.
Aber auch noch 1993 war das faktische Pensionsantrittsalter höher als heute. Erst danach stieg die Zahl jener, die meinten, ein niedriges Pensionsalter sei ihr Recht, sprunghaft an. Zugleich machten sich alle Fraktionen der Gewerkschaft zu Fürsprechern eines möglichst frühen Pensionsantritts – nach dem Motto: „Das haben wir erreicht!“ Und daraus entstand jene Mentalität, dass jeder ein Trottel sei, der noch länger arbeite, wo er doch schon früher in Pension gehen könne. Und diese Sichtweise besteht heute noch, obwohl es bereits Forschungsergebnisse (auf die später noch eingegangen wird) gibt, die beweisen, dass eine Frühpension die Lebensdauer verkürzen kann. Es ist zur Kenntnis zu nehmen, dass ein beachtlicher Teil der älteren Arbeitnehmer, nämlich rund 20 Prozent, so schnell wie möglich in Pension gehen will. So schnell wie möglich und am ersten Tag und um jeden Preis. Das sind die Leute, die lautstark verkünden: „Und keinen Tag länger!“ Natürlich gibt es aber auch ganz andere Gründe für die Frühpension: Mancher Arbeitgeber drängt einen Arbeitnehmer so schnell wie möglich in die Pension, auch in die Frühpension, sobald es irgendwie geht, um mit billigeren Ersatzkräften seinen Gewinn zu vergrößern. Manchmal drängt der Staat seine Mitarbeiter in die Pension oder die dort Beschäftigten wünschen selbst ihre frühe Pensionierung: Im Jahr 2003 gingen Tausende von beamteten Personen frühzeitig in Pension, weil sie noch vor dem Auslaufen des Bundesbediensteten-Sozialplangesetzes (BB-SozPG) mit 55 in Pension gehen konnten – wenn auch mit Abschlägen. Warum war diese Frühpensionierung für so viele (Lehrer, Exekutive) so anziehend? Leider fehlen dazu bis dato Ergebnisse der Sozialforschung. Die Folgen davon sehen wir heute: Es droht ein Lehrermangel!
Maßnahmen zur Veränderung der Einstellung zur möglichst frühen Pensionierung wären der Abbau des „Arbeitsleids“ – durch die Verbesserung der Motivation bei der Arbeit: eine Aufgabe des Staates, der Betroffenen selbst, aber auch der Firmen! Bei der Einstellung zur Arbeit spielen übrigens die Medien eine wesentliche Rolle. Wir Seniorenvertreter treten auch für eine Abflachung der Lebensverdienstkurve ein: Mehr Gehalt für die Jungen, weniger für die Alten, das macht in Summe gleich viel – dann fiele der Druck auf die Alten, aus Kostengründen in die Pension geschickt zu werden, weg!
Freude an der Arbeit – oder doch nicht?
Viele Menschen, die es sich leisten könnten, nicht zu arbeiten, arbeiten dennoch oft umso mehr – wohl nicht nur aus Gier, ihren Reichtum zu vermehren, sondern auch aufgrund der Lust, die ihnen die Arbeit bereitet. Sie wollen nicht zu einem möglichst frühen Zeitpunkt in Pension gehen; sie fürchten (bei zu frühzeitiger Pensionierung) viel eher den Pensionsschock. Denn sie wollen den Rest ihres Lebens nicht im Schrebergarten, auf dem Golfplatz oder im Rentnerghetto in einem warmen Land verbringen. Das betrifft nicht nur Gebildete, sondern auch solche, die Freude an ihrer Arbeit, an dem Produkt, das sie herstellen, haben. Das sind nicht notwendigerweise nur krankhaft Arbeitswütige. Für andere wiederum bedeutet eine (Zwangs-)Pensionierung den Verlust von gewissen Privilegien (Sekretariat, Dienstwagen etc.) und daher einen schwer verkraftbaren Ansehensverlust, der in Ausnahmefällen sogar zum Tod führen kann. Wenn aber jemand gerne länger arbeitet, kann das auch zu Missgunst unter den Kollegen führen, die einfach nicht länger arbeiten wollen und die länger Arbeitenden in die Pension drängen.
Dennoch will jeder Arbeitende sich Freiräume gönnen, damit er den Arbeitstrott abstreifen und dem Müßiggänger nacheifern kann: im Urlaub, an Feiertagen, an den so beliebten Fenstertagen und selbstverständlich in der Pension. Aber es scheint, dass es vielen nicht vergönnt ist, in ihrer Arbeit nicht bloß einen Beitrag zum Wohl des Landes, sondern eine Bereicherung des eigenen Selbst zu erkennen – so sehr, dass man gar nicht mehr davon lassen will.
Entscheidend ist allerdings nicht nur die Haltung des Einzelnen. Auch die Umgebung hat ihren Anteil an diesem österreichischen „Pensionismus“: Manche Arbeitnehmer haben das Ziel, so früh wie möglich in Pension zu gehen, um nicht anderen gegenüber „benachteiligt“ zu sein. Ab einem Alter von 50 ist man häufig mit immer derselben Frage konfrontiert: „Wie lang musst du noch?“ Ist das Arbeiten nach 50 wirklich nur noch eine leidvolle Hacklerei? Bei einem Teil der Endfünfziger scheint es eine Art Fluchtbewegung aus der Arbeitswelt zu geben: Sie rechnen und reden nur mehr vom frühzeitigen Ruhestand und den befürchteten Abschlägen.
Aber viele müssen auch gehen. Und „gehen“ hat dann mit zunehmendem Alter eine mehrfache Bedeutung: „Ich kann gehen“ kann auf der einen Seite heißen: „Ich stehe auf eigenen Füßen, gehe meine eigenen Wege, komme zu mir selbst.“ Aber „Ich kann gehen“ kann auch als „Ich werde nicht mehr gebraucht, ich bin nutzlos, ich bin überflüssig“ verstanden werden. Dieser Aspekt entspricht der Situation und den Erfahrungen von Menschen, die z. B. gegen ihren Willen vorzeitig aus dem Arbeitsprozess ausgegliedert und in den Ruhestand „entsorgt“ werden. „Ich kann gehen“ kann aber auch „Ich kann loslassen, kann mich verabschieden – auch endgültig“ bedeuten. Aber immer umfasst es die stets neu zu erwerbende Fähigkeit, das Leben in die eigenen Hände zu nehmen und selbstbestimmt zu leben. Gehenkönnen heißt, zielorientiert und unter Berücksichtigung von Grenzen, die es immer gibt, zwischen verschiedenen Möglichkeiten zu entscheiden und bestimmte Wege einzuschlagen. Ein solches Gehenkönnen ist eine existenzielle Grunderfahrung – durch alle Lebensstufen hindurch. Auch wenn für viele in den oberen Führungsebenen der Grundsatz gilt: „Solange ich gehen kann, gehe ich nicht“ – dies ist sowohl mehrdeutig als auch wahr. Viele versäumen den richtigen Zeitpunkt für den Abschied: „Schade, dass er geht“ ist allemal besser als „Wann geht er denn endlich?“.
Jetzt wurde genug gearbeitet!
Manche um die 50 leiden unter einer Midlife-Crisis, der Sinnkrise zur Mitte des Lebens, es beginnen sich vielleicht Gedächtnislücken zu zeigen...