Auf den Spuren des eigenen Lebens
Ein Vorwort von Alice Schwarzer
Mai 2010. Ich sitze mit Margarete Mitscherlich in ihrer Wohnung im Frankfurter Westend, mit Blick in blühende Kastanien und flammende Rotbuchen. Wir reden seit Stunden: über sie, über mich, über das Leben. Ich kenne Margarete seit nun 35 Jahren und muss sagen: Der 92-Jährigen ist nicht die geringste Einschränkung anzumerken. Sie ist temperamentvoll, hellsichtig und chaotisch wie immer. Nur wenn sie aufsteht und ihre Wohnung durchquert, zahlt sie einen Tribut ans Alter: Die lebenslang schier Bewegungssüchtige ist seit ein paar Jahren wegen einer Rückgratverletzung eingeschränkt im Gehen und muss seit einigen Monaten einen Rollator benutzen. Das kränkt die so ewig junge Margarete. Doch sie scheint sich damit abgefunden zu haben.
Eben haben wir über eine Neuentdeckung gesprochen: die Briefe ihres Vaters an ihre Mutter vor der Ehe, als er noch um ihr Jawort warb. Die blassgelben Umschläge mit den gefalteten DIN-A5-Bogen sehen aus, als seien sie gestern abgeschickt worden. Und auch Schriftbild und Diktion des Witwers mit drei Kindern an das »Fräulein Leopold« wirken so überhaupt nicht gestrig. Monatelang hat der Landarzt hartnäckig um die Lehrerin geworben. Was nicht nur daran lag, dass die einem längst verstorbenen Verlobten nachtrauerte. Es hatte vor allem den Grund, dass er ein nationalbewusster Däne war – und sie eine deutschnational Gesinnte. Und frauenbewegt noch dazu.
»Deine Briefe waren stets so nett und friedlich und du so lieb und süß«, schreibt Nis Peter der angebeteten Grete vor einem von ihr geplanten Treffen mit Frauenrechtlerinnen. Aber: »Was willst du in aller Welt dort? Doch wohl nicht so was Sektiererisches einleiten wie die verrückten Frauen in England?« Seine Mahnung scheint nicht ganz erfolglos gewesen zu sein. Immerhin beklagte sich eine der vielen ledigen »Tanten« von Margarete, alle Lehrerinnen wie die Mutter und Aktivistinnen der Ersten Frauenbewegung, noch im Alter von 91 bei der Tochter: »Deine Mutter war nicht kämpferisch genug!« Was die Tochter sich wiederum so zu Herzen genommen zu haben scheint, dass sie mit Aufbruch der Neuen Frauenbewegung recht kämpferisch wurde.
Doch kehren wir zurück zum Hauptkonflikt der Eltern, dem Nationalstolz. Grete Leopold hatte an Nis Peter Nielsen geschrieben, sie fürchte, ihr »Schmerz« könne zugleich seine »Freude« werden – wenn zum Beispiel der nördliche Teil von Schleswig-Holstein, in dem die Nielsens lebten, dänisch würde (was dann auch im Jahr 1920 geschah). Darauf antwortete er in seinem so selbstironischen wie einfühlsamen Ton, er sei da ganz unbesorgt. Man würde sich innerhalb der Familie doch gewiss so sehr respektieren, dass man Rücksicht auf die Gefühle des jeweils anderen nehme. Und sollte sie, die Frau, die drei Kinder aus erster Ehe in ihrem Sinne erziehen wollen und gar überzeugen – ja, dann seien diese deutschnationalen Kinder auch für ihn akzeptabel.
Fast hundert Jahre später wendet Margarete Mitscherlich die Briefe ihres verliebten Vaters nachdenklich hin und her und spricht, eher zu sich selbst: »Vielleicht habe ich meinen Vater ja lebenslang unterschätzt.«
In der Tat: Auf den Spuren der Prägungen dieser Psychoanalytikerin, die über Jahrzehnte an der Seite von Alexander Mitscherlich mit so kühnen Schritten weit über die Grenzen ihrer Disziplin hinausgeschritten ist, war bisher immer eher von der Mutter die Rede gewesen, dieser starken Frau, die es bis zur Schuldirektorin gebracht, die Familie bestimmt und ihre einzige Tochter, einen Wildfang, in den ersten Schuljahren zu Hause unterrichtet hatte. Margarete hat offensichtlich keinen Mutterkonflikt. Und auch wenn sie lange nachdenkt, fallen ihr zur Mutter nur Akte der Fürsorge und Förderung ihr gegenüber ein.
Und sie scheint auch wenig Anlass zu einem Vaterkonflikt gehabt zu haben. Bei näherem Hinsehen entpuppt Nis Peter Nielsen sich als der Einfühlsamere und Tolerantere in der Familie. Vor allem von ihm, dem Vater, scheint dieses deutsch-dänische Mädchen die Fähigkeit zu Toleranz und Haltung zugleich gelernt zu haben – diese Eigenschaften, mit denen sie fünfzig Jahre später, zusammen mit Alexander, der deutschen Seele mit dem gemeinsamen Schlüsselwerk Die Unfähigkeit zu trauern einen Spiegel vorhalten wird.
»Aber wirklich politisiert wurde ich erst durch Hitler«, sagt Margarete Mitscherlich heute. Von der Mutter auf eine deutsche Schule geschickt und dort von einer geliebten Lehrerin für Literatur und Philosophie begeistert, muss die Dänin dennoch zum nationalsozialistischen »Arbeitsdienst« und studiert sodann in München Medizin. Sie gehört zu einer Gruppe von StudentInnen, die die Nazis hassen – doch gleichzeitig nicht ihr Leben riskieren wollen. »Habe ich genug gegen die Nazis getan in dieser Zeit?«, wird sie sich später immer wieder fragen – und dann sehr viel tun mit ihrer Aufarbeitung dieses dunklen Kapitels in der Nachkriegszeit.
Als die damals 30-jährige Ärztin 1948 in der Schweiz dem verheirateten Alexander Mitscherlich begegnet und beschließt, die nicht geplante Schwangerschaft dennoch auszutragen, da ist das für diese Zeit ein unerhörter Entschluss. Auch wenn es erleichternd ist, dass ihre dänische Familie weit davon entfernt ist, eine ledige Mutter zu verstoßen. Im Gegenteil: Die Mutter nimmt das Kind für zwei, drei Jahre auf, als Margarete mit ihrer Fortbildung beschäftigt ist.
Margarete und Alexander heiraten erst sechs Jahre nach der Geburt ihres Sohnes Matthias und sind in den ersten Jahren alles andere als privilegiert. Der Mediziner aus der berühmten Akademikerfamilie hatte sich bei seinem Berufsstand durch seine Veröffentlichung über die »Medizin ohne Menschlichkeit« in der Nazizeit gründlich unbeliebt gemacht. Und die Medizinerin aus Dänemark macht sich nun auf den Weg nach London, um von den dort im Exil lebenden Psychoanalytikern zu lernen.
Zurück in Deutschland, wird Margarete Mitscherlich in den fünfziger und sechziger Jahren in dem Land, aus dem die Nazis die Psychoanalyse verjagt hatten, rasch zur Schlüsselfigur bei der Ausbildung. Sie prägt mehrere Generationen von AnalytikerInnen in Deutschland. Zwanzig Jahre später legt die chronisch Unangepasste sich mit der inzwischen etablierten Psychoanalyse an: Sie fürchtet eine zu starke Verschulung und Bürokratisierung dieser nur frei so kreativen Methode zur Selbsterkenntnis.
Anfang der siebziger Jahre geht Margarete zusammen mit Alexander für ein Jahr nach Amerika und begegnet dort den starken Frauen vom »Women’s Lib«, den Feministinnen. Wieder in Deutschland, veröffentlicht sie ihr erstes Buch ohne Alexander: Müssen wir hassen? (1972), das rasch zum Geheimtipp nicht nur unter Feministinnen wird.
Wir begegneten uns zum ersten Mal im Herbst 1975. Da hatte sich das TV-Kulturmagazin TTT etwas ganz besonders Listiges ausgedacht: eine Konfrontation zwischen der renommierten Psychoanalytikerin und der skandalösen Feministin, die gerade den Kleinen Unterschied veröffentlicht hatte. Darin hatte ich mir nicht nur erlaubt, die Seelenvorgänge von Frauen zu analysieren, sondern auch ganz en passant unter anderem Sigmund Freud, Alexander Mitscherlich und Michael Balint (Margaretes Lehranalytiker in London) vors Schienbein zu treten. Also war für die anderen die Überraschung groß: Margarete und ich sympathisierten spontan. Seither sind wir Freundinnen und politische Weggefährtinnen.
Bereits in der ersten Emma-Ausgabe im Januar 1977 schrieb Margarete Mitscherlich unter dem provozierenden Titel: »Ich bin Feministin«. Der Skandal war komplett. Eine anerkannte Psychoanalytikerin, die sich selber als »Feministin« bezeichnet – was denn noch?!
Das plagte nicht nur ihren Ehemann, doch der war’s eigentlich schon gewohnt. Das schockierte vor allem ihre Branche und das Intellektuellenmilieu, zu dessen führenden Köpfen die Mitscherlichs seit den sechziger Jahren zählten. Und Margarete? Die amüsierte es.
Denn das ist von klein an ihr Liebstes: sich mit Schwung zwischen alle Stühle setzen! Auch mit den Feministinnen legte sich die von denselben so Geschätzte ziemlich rasch an. »Wir Frauen sollten uns davor hüten, uns Illusionen über uns selber hinzugeben«, schrieb die Analytikerin in der Hochzeit der Frauen-gemeinsam-sind-stark-Euphorie. Denn: »Es geht für uns zwar auch, aber nicht nur um die Befreiung von gesellschaftlichen Zwängen. Von nicht geringer – vielleicht noch größerer – Bedeutung ist die Auseinandersetzung mit den psychischen Zwängen, das heißt mit der bei den meisten Frauen noch immer ungebrochenen Verinnerlichung ihrer gesellschaftlichen Degradierung.«
Was ja nicht nur die Selbstverachtung, sondern auch die Verachtung anderer Frauen zur Folge hat. Emanzipation ist eben nicht nur Fun, sie kann auch wehtun.
Bliebe noch zu sagen, dass ich in all den Jahrzehnten noch nie erlebt habe, dass Margarete Mitscherlich ihre professionelle Kompetenz missbraucht hätte, um Macht auszuüben. Nie, niemals hat sie mich oder einen anderen Menschen in meiner Gegenwart psychoanalytisch »interpretiert«. Übrigens: Die beruflich so Ausgeglichene kann privat durchaus auch schon mal heftig und parteiisch sein – merkt das aber immer relativ schnell selber. Vor allem jetzt im Alter, wo Margarete Mitscherlich mehr Zeit für sich selber hat – und sich erneut neugierig auf die Spuren ihres eigenen Lebens begibt.
Ein Leben, das das Fühlen und Denken mehrerer...