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E-Book

Last Exit Schkeuditz West

Vom wahren Leben im Regionalexpress

AutorBettina Baltschev
VerlagVerlag Herder GmbH
Erscheinungsjahr2010
Seitenanzahl192 Seiten
ISBN9783451334740
FormatePUB
Kopierschutzkein Kopierschutz
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Voller Zuversicht wagt Bettina Baltschev den gefährlichsten Schritt ihres Lebens: Sie beginnt eine Existenz als Pendlerin, als Pendlerin in der Regionalbahn. Doch bald muss sie erkennen, dass die Abgründe zwischen Lützschena, Dieskau, und Schkeuditz West tief sind, dass die Pendlerwelt sich auf keiner Karte einzeichnen lässt und dass der Satz 'Survival of the fittest' zu den schlechtesten Thesen der Weltgeschichte gehört. Das mutige, nötige und vor allem witzig geschriebene Buch erzählt vom wahren Leben im Regionalexpress.

Bettina Baltschev, geb. 1973 in Berlin, studierte Kulturwissenschaften, Journalistik und Philosophie. Seit einigen Jahren ist sie Autorin und Redakteurin beim Hörfunk der ARD.

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Leseprobe

Die Welt der Pendler lässt sich nirgendwo einzeichnen. Für diese Erkenntnis brauchte ich ungefähr zwei Wochen. Nach meiner anfänglichen Euphorie in Sachen Heimatkunde hatte sich mein Verstand zurückgemeldet und mich daran erinnert, dass ich ein Gegner von jeglichem unüberlegtem Aktionismus war. Was zum Teufel wollte ich im Mansfelder Land oder im Harz? Wer wartete in Wahren, Lützschena und Schkeuditz West auf mich? Ich hatte weder Verwandte noch Freunde in Städten mit weniger als 200 000 Einwohnern. Ich wusste also gar nicht, wie man sich in Kleinstädten bewegte, ob man die Leute auf der Straße grüßen musste oder nicht, und einen Hund hatte ich auch nicht.

Man verstehe mich nicht falsch, ich habe nichts gegen Menschen, die es in diese Orte verschlagen hat, durch Geburt, durch Eheschließung oder durch ein anderes widriges Schicksal. Aber auch Solidarität hatte ihre Grenzen. Meine Solidarität bestand doch bereits darin, dass ich täglich ein bis zwei Mal durch einige dieser Orte hindurchfuhr und zur Kenntnis nahm, dass sie überhaupt existierten. Wer außer mir und meinen Mitpendlern konnte das schon von sich behaupten? Dennoch hatte ich das Gefühl, dass irgendetwas passiert war, dass mein Leben sich weitgreifend geändert hatte. Das lag am wenigsten an den Orten, die ich durchfuhr oder in die ich hätte fahren können, wenn ich nur gewollt hätte. Aber woran lag es dann? Irgendwo zwischen Dieskau und Halle Messe kam mir der entscheidende Gedanke. Ich begriff plötzlich, dass das Leben als Pendler überhaupt nichts mit Aussteigen zu tun hatte. Im Gegenteil, die Pendlerwelt fand nicht draußen, sondern drinnen statt, im Regionalexpress und im Pendler.

Noch am selben Abend stellte ich die Landkarte und den Globus zurück in den Schrank und fasste einen Plan:

Der Regionalexpress sollte mein Amerika werden. Wie Christoph Kolumbus hatte ich mich auf große Fahrt ins Unbekannte begeben. Und wie er wollte ich nicht mit leeren Händen zurückkehren. Ich schwor zu Gott und Herrn Koslowski, dass ich bei meiner Eroberung der Pendlerwelt der Wahrheit und der Aufklärung dienen wollte. Ich kaufte mir drei Bücher, „Basiswissen Psychologie“, „Basiswissen Statistik“, „Kleine Geschichte der Eisenbahn“, und legte einen Ordner an, in dem ich alle meine Erkenntnisse sorgfältig notieren wollte. Auf den Deckel des Ordners schrieb ich „Das geheime Leben des Pendlers. Gewidmet Christoph Kolumbus“.

 

Schon nach vier Wochen konnte ich erste Ergebnisse verzeichnen. Ich begann, die groben Strukturen des Pendelns zu durchschauen, zum Beispiel die psycho-logistischen. So konnte der Pendel-Laie bei einem Regionalexpress mit drei Waggons leicht glauben, dass es ganz egal war, in welchen er einstieg. Ein fataler Irrtum! Ich unterzog die morgendlichen Menschenströme einer messerscharfen Analyse und stellte Gesetzmäßigkeiten fest, die ein Pendel-Laie leicht übersah, ein Profi-Pendler sich aber leicht zunutze machen konnte.

Zunächst musste er seine Bedürfnisse erkennen und sich fragen: Will ich a) Zeit sparen oder b) Platz haben? Im Falle von a) musste er sich fragen: Wann will ich Zeit sparen, vor der Fahrt oder nach der Fahrt mit dem Regionalexpress? Für Kandidaten, die vorher Zeit sparen wollten, kam nur der letzte Waggon in Frage. Denn den erreichte man, Achtung, Leipzig hat einen Kopfbahnhof, auch dann noch, wenn man kurz vor knapp kam und im äußersten Fall sogar ein aufmerksamer Mitreisender die Tür des Waggons aufhielt, selbst wenn der dabei sein Leben riskierte.

Da es kurz vor acht Uhr morgens sehr viele Menschen gab, die vor der Fahrt Zeit sparen wollten, war der letzte Waggon entsprechend voll. Das heißt, man war zwar drin, Luft bekam man aber eher nicht. Stattdessen saß oder stand man eingeklemmt zwischen Menschen, die noch Bettwärme ausstrahlten. Alle, die das mochten, konnten auch die besondere Stimmung im letzten Waggon genießen, die der in einem Stadion nach dem Sieg der eigenen Mannschaft glich. Diese Stimmung entstand vor allem dadurch, dass die, die es schon geschafft hatten, die, die noch rannten, anfeuerten. Ein beliebter Schlachtgesang lautete zum Beispiel: „Pendler ho und Pendler ha, gleich ist auch der Stefan da!“ Schulterklopfen und Umarmungen in der Zielgeraden inklusive. Am Anfang hatte ich mich noch über dieses seltsame Ritual gewundert und mich gefragt, wer wohl Stefan sein mochte. Bis ich herausfand, dass Stefan der Name war, der im Regionalexpress auf häufigsten vorkam, weshalb man ihn einfach jedem männlichen Pendler verpasste, den es anzufeuern galt. War es eine Frau, die rannte, nannte man sie Petra.

Wollten Stefan, Petra oder ich dagegen nach der Fahrt Zeit sparen, weil in Halle der Anschlussbus oder der Chef wartete, mussten Stefan, Petra oder ich vor der Fahrt Zeit investieren, um es bis zum ersten Waggon zu schaffen. Der hielt, knick knack, in der Universitätsstadt Halle direkt an der Treppe zum Ausgang, jedenfalls meistens. Manchmal hielt er auch hinter der Treppe. Dann hatte man gar nichts gewonnen außer der Erkenntnis, dass das Leben verdammt ungerecht ist. Voll war der erste Waggon auch. Jedoch strahlten die Menschen dort weniger Wärme aus, weil sie sehr früh zu Hause losgegangen und bereits ausgekühlt waren.

Entsprechend eisig war die Atmosphäre. Denn Menschen, die rechtzeitig zu Hause losgehen, sind in der Regel sehr korrekte, fast möchte ich sagen: pedantische Menschen. Manche der Pendler im ersten Waggon trugen statt eines Herzens eine Taschenuhr in der Brust. Deshalb glaubten sie übrigens auch von den Pendlern im letzten Waggon, dass, wer nicht einmal pünktlich am Bahnsteig sein konnte, auch andere Defizite aufwies.

Dieser wackeligen These, die ich der Vollständigkeit halber in meinem Ordner notierte, konnte ich natürlich sofort eine konstruktive Antithese gegenüberstellen. Waren die Menschen im letzten Waggon nicht gerade besonders gut für unsere moderne, schnelllebige Gesellschaft geeignet? Lebten sie nicht den olympischen Gedanken, der immer wieder propagiert wurde, und stellten gleichzeitig Rekorde auf? Schließlich legten sie in kürzester Zeit einen Weg zurück, für den die Pedanten im ersten Waggon extra früher aufstanden, um am Ende trotzdem nur zur gleichen Zeit ans selbe Ziel zu gelangen. Müsste ich mich als Chef für einen pendelnden Bewerber entscheiden, es wäre ganz sicher einer aus dem letzten Waggon.

Ich stellte fest, dass mich die gesellschaftliche Rolle des Pendlers immer mehr umtrieb, und nahm mir vor, meine Forschungen auf diesem Gebiet auszubauen.

Zunächst aber b). Wer zur b)-Gruppe gehörte, also am Morgen eher Platz haben als Zeit sparen wollte, wählte ganz entspannt den Waggon in der Mitte des Regionalexpress und hatte damit das große Los gezogen, zumindest im Rahmen einer Pendlerexistenz. Denn während sich die unterkühlten Zu-früh-Gekommenen im ersten Waggon und die überhitzten Zu-spät-Gekommenen im letzten Waggon stauten, fand man im mittleren Waggon tatsächlich noch das eine oder andere luftige Plätzchen.

Mir und meinem Forschergeist wurde schnell klar, wer sich im zweiten Waggon tummelte: Journalisten, Studenten, Sozialarbeiter, Diplomschauspieler und ähnliches fröhliches Volk. Menschen also, deren Wertetabelle sich nicht nach dem Stand der Sonne, sondern nach der Lebensqualität ausrichtete. Bei einer ersten Undercover-Recherche stellte ich fest:

  1. Zweitwaggonpendler stehen weder zu früh auf noch zu spät.

  2. Zweitwaggonpendler haben genug Zeit zum Duschen. Sie laufen zügig, müssen aber nicht rennen und auch nicht angefeuert werden.

  3. Zweitwaggonpendler riechen wie normale Menschen am Morgen eben riechen, nicht zu stark, aber auch nicht zu schwach.

 

Ausgefallenen Gesprächen konnte man im mittleren Waggon genauso folgen wie im letzten oder im ersten. Sie drehten sich allerdings weniger um körperliche als um geistige Konstellationen. Da wurden linguistische Paradigmenwechsel in Frage gestellt und mathematische Denkmodelle hinterfragt. Da stritten sich die Gegner und Befürworter der Sterbehilfe bis aufs Messer und das morgens kurz nach acht. Dennoch fühlte ich mich im zweiten Waggon besser aufgehoben als im ersten oder letzten, schließlich erforderte auch meine Mission im Namen von Christoph Kolumbus eine gewisse intellektuelle Anstrengung. Ich dachte mir, wenn schon pendeln, dann wenigstens mit Niveau.

Doch egal, ob man mitten im Leben stand oder bloß darüber philosophierte, es gab einen Ort im Regionalexpress, der war für jeden von uns ein Sehnsuchtsort. Am Anfang hatte ich den gelben Streifen noch für ein Schmuckelement gehalten, um die rot-weiße Ummantelung der Pendlerwelt ein wenig aufzulockern. Aber nachdem ich mich mehrfach in die erste Klasse verirrt hatte, wusste ich irgendwann Bescheid. Wer hinter diesem gelben Streifen saß, der dachte in ganz anderen Kategorien als Hinten oder Vorn, der hatte nicht nur Zeit und Platz, sondern auch Geld, ein Faktor, den ich in meinem Koordinatensystem des Pendelns noch gar nicht berücksichtigt hatte. Ich nahm mir vor, das schnellstens nachzuholen.

 

Doch bevor ich die Klassenunterschiede im Regionalverkehr genauer erforschen konnte, musste ich einige dringendere Frage klären. Denn hatte ich die Struktur der morgendlichen Menschenströme noch relativ schnell erfasst, so gab es ein Problem, das ich trotz intensiver...

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