Archetypen – Urbilder der Seele
Der Begriff leitet sich ab aus dem griechischen »Arche« – Anfang, Ursprung, Urgrund, Urprinzip und »Typos« – Schlag, das Geprägte, Form, Gestalt. Damit könnte man sagen, dass es sich um eine Art geprägte Urform, eine Art Einprägung handelt, die uns – wenn sie als Bild aktiviert wird – mit Energie versorgen kann.
Am Beispiel meines Freundes, der sich im Fasching gerne als Cowboy verkleidet hat, möchte ich dies veranschaulichen: Qualitäten wie Mut, Selbstbewusstsein und die Fähigkeit, sich zur Wehr zu setzen, verkörperten sich in der Zeit der frühen 60er- Jahre des 20. Jahrhunderts bei uns in der Gestalt des Cowboys (im alten Ägypten sicher in einer ganz anderen Form). Als der eher kleine und schmächtige Junge in diese Verkleidung schlüpfte, hat er auch ein Stück weit diese Qualitäten in sich aktiviert. Es war, als hätte ihn der Archetyp selbst mit Energie versorgt, sodass er sich plötzlich nicht mehr so klein und hilflos fühlte. Wenn ich heute kleine Mädchen beobachte, wie intensiv sie sich in die Rolle der Lillifee, der zauberhaften rosafarbenen Prinzessin vertiefen, sehe ich, dass es sich bei dem Bedürfnis, in solche kollektiven Bilder einzutauchen, um ein zeitloses Phänomen handelt. Es geht ja nicht nur um ein Nachstellen von Bildern, die vielleicht von der Werbung erfolgreich suggeriert werden, sondern um ein symbolisches Geschehen, das wirklich mit Energie aufgeladen ist. Wir können das als Kinder ganz offensichtlich spüren, auch wenn es uns nicht bewusst ist.
Mit Archetypen bezeichnete C.G. Jung die Inhalte, die Strukturelemente des kollektiven Unbewussten, nachdem er diese anfangs als »Urbilder« bezeichnet hatte. Da der Begriff auf intellektueller Ebene schwer zu fassen ist, fand er immer wieder neue Be- und Umschreibungen, zum Beispiel indem er den Archetyp als von Anfang an geprägte Urform mit dem Achsengitter eines Kristalls verglich. Auf diese Grundform bauend zeigen sich die vielfältigen Ausprägungen in der jeweiligen Zeit und Kultur als archetypische Bilder. Dabei ist der Archetyp zu unendlichen Differenzierungen und Entwicklungen fähig. Es geht darum, hinter dem aktuellen Bild das Grundmuster zu erkennen und die Möglichkeiten, die darin schlummern.
Ich erinnere mich sehr gut an einen kleinen Patienten, der unter Schulproblemen litt, von anderen gehänselt wurde und sich zu Hause von der Familie abkapselte. Schnell zeigte sich sein Talent, innere Bilder auftauchen zu lassen, und so waren wir schon in der ersten Stunde bei einem seiner Computer-Helden angelangt, der zu seinen erklärten Lieblingen gehörte. Er schilderte mir, dass dieser Held so stark ist, dass ihm keiner gewachsen sei, er müsse vor gar nichts Angst haben. Und wir fanden heraus, dass der Held nicht darauf angewiesen ist, was die anderen von ihm denken. Genau das, so stellte sich bald heraus, war nämlich eines der Probleme des Jungen. Es war spannend zu sehen, auf welchen Gebieten mein kleiner Held sich am sichersten fühlte, und mithilfe von Visualisierungen konnten wir sehen, wie er dieses Gefühl von Sicherheit auch auf andere Bereiche übertragen kann. Es war also wichtig, nicht bei der etwas merkwürdig scheinenden Computerfigur zu bleiben, sondern bei dem, was – wenn in diesem Fall auch etwas versteckt und von der Figur sogar verzerrt – der Archetyp Held symbolisiert.
Entscheidende Hinweise bekam C.G. Jung bei der Entdeckung des kollektiven Unbewussten durch die Träume und Imaginationen seiner Patienten. Dabei kamen Gestalten zum Vorschein, die sich in täuschend ähnlicher Form in Mythen wiederfanden, die den Patienten in keiner Form bekannt waren. Aus der Häufigkeit des entsprechenden Materials aus Träumen bzw. aktiv imaginierten Bildern schloss Jung, dass die Archetypen in unserem Leben jeweils dann in Erscheinung treten, wenn offensichtlich eine Art psychische Notwendigkeit besteht – und das eben sogar in einer völlig unbekannten Form.
Das war auch im Fall meiner Klientin so. Sie kam nach einer schweren Operation, von der sie sich nur mühsam erholte. Ihr Anliegen war natürlich, wieder gesund zu werden. Daneben wollte sie aber vor allem ihre Lebensenergie und Lebensfreude wieder spüren, die sie schon so lange vor der Krankheit vermisst hatte. In der Musikreise tauchte eine weibliche Gestalt mit einer besonderen Form der Kopfbedeckung auf. Die Klientin gab eine ziemlich genaue Beschreibung, bevor sie mit dieser Gestalt in einen inneren Dialog trat. Sie hatte das Gefühl, es handle sich um eine sehr vertraute Frau. Als ich sie fragte, ob sie sich dadurch an jemanden erinnert fühle, verneinte sie. Nein, sie kenne diese Frau nicht, obwohl sie das tiefe Gefühl des Verbundenseins spüre. Die Frau, deren Kopfbedeckung sie immer wieder erwähnte, sprach mit ihr und erinnerte sie an verschiedene Lebenssituationen, die sie eigentlich schon vergessen oder besser gesagt verdrängt hatte. »Du musst das anschauen, damit du es los wirst«, sagte ihr die fremde Frau, und: »Du darfst endlich zu dir stehen, auch wenn du immer das Gegenteil gehört hast.« Während der folgenden Musikreisen tauchte die Frau immer wieder auf und gab entscheidende Hinweise und Ratschläge. Meine Klientin versuchte schon nach der ersten Stunde diese merkwürdige hohe Kopfbedeckung detailgetreu aufs Papier zu bringen. Für mich sah es nach einer ägyptischen Kopfbedeckung aus. Die Klientin hatte sich noch nie mit ägyptischer Kunst beschäftigt und nahm meinen Hinweis lediglich zur Kenntnis. Wochen später berichtete sie, in welch innigem Kontakt sie mit dieser Frauenfigur stehe und wie sehr sie fühle, dass ihre Lebensenergie wieder zurückkommen werde. Fast etwas verschämt äußerte sie, dass sie allerdings niemanden davon erzählen würde, damit man sie nicht für verrückt halte. Ein Jahr später rief sie mich aufgeregt an und erzählte mir, dass sie mit ihrem Mann in Paris gewesen sei und im Louvre in der Ägyptischen Sammlung ihre »innere Beraterin« gesehen hätte. Sie hatte die Kopfbedeckung wiedererkannt, die sie in ihrem inneren Bild so beeindruckt hatte.
Große Menschheitsführer wie Moses, starke Frauen wie Sarah oder die Königin von Saba, Prinzessinnen, Helden, Clowns oder das Waisenkind, das im Wald ausgesetzt wird – sie alle gehören zu den unzähligen archetypischen Bildern, die in der jeweiligen Zeit und damit in immer anderen Formen das ausdrücken, was bereits in einer Urform an Erlebens- und Verhaltensmustern in uns vorliegt. Sie sind innere Lehrer, die uns seit Anbeginn der Zeiten begleiten. Hinweise auf die Vorstellung von Archetypen fand C.G. Jung zum Beispiel bei Plato, der in allem Erkennen ein Wiedererinnern an etwas sah, was bereits im Kern in jedem Menschen – wenn auch sehr verborgen – schlummert.
Diese Vorstellung möchte ich an einem einfachen Beispiel näher beleuchten: Den Flug der Vögel zu beobachten hat Menschen wohl schon immer fasziniert. Lange hat der Mensch versucht, dieses Fliegen auch selbst zu verwirklichen. Aber erst als der Mensch die Gesetze der Aerodynamik entdeckte, war es ihm möglich, Flugzeuge zu bauen. Im Sinne Platos hat er die Gesetze der Aerodynamik nicht gemacht, sondern nur entdeckt, weil sie als Kräfte in der Welt bereits vorhanden waren.
Licht- und Schattenseiten
Jeder Archetyp und jedes archetypische Geschehen hat auch eine schattenhafte Seite, das heißt, die archetypische Erfahrung umfasst immer Glück und Leid, Paradies und Hölle. Am Beispiel der Macht ist das vielleicht am einfachsten zu erkennen: Sie kann positiv wie negativ enorm Großes bewirken. Deshalb sprechen die mythologischen Geschichten davon und warnen vor der Gefahr, die Schattenseite der Macht nicht zu sehen, denn dann ist man verdammt, ihr am Ende zu verfallen. Deshalb ist es wichtig, sich zum Beispiel – wie im Fall meines kleinen Patienten – die Qualitäten des Helden bewusst zu machen und in die eigene Person zu integrieren. Würde sich der Junge mit seiner Figur aus dem Computerspiel vollkommen identifizieren, bestünde die Gefahr, dass er sich selbst für die omnipotente Gestalt aus dem Computerspiel hielte.
Es ist wichtig, dass das bewusste beobachtende Ich die Führung behält, um zu vermeiden, dass wir jenseits der Vernunft in den Bann der Bilder geraten. Wir nutzen lediglich deren Kraft, ohne uns von dem archetypischen Bild überfluten zu lassen und uns vollständig mit ihnen zu identifizieren.
Die Möglichkeit, den Schatten zu wandeln, finde ich sehr verlockend und lohnenswert, ist er doch einer der großen Störer in unserem Leben. Ich möchte das an einem Beispiel erklären.
Da gibt es zum Beispiel den Archetyp des »Eremiten«. Begegnet er uns in seiner Schattenseite, so fühlen wir uns einsam, verlassen und verloren. Wir glauben, dass sich keiner mehr für uns interessiert, und dabei ziehen wir uns selbst immer mehr in unsere »Klause« zurück. Rufen wir in einer solchen depressiven Phase den Archetyp Eremit in seiner Lichtseite in uns auf, kann er uns helfen, die positive Seite des Alleinseins zu entdecken. Vielleicht können wir jetzt endlich einmal die Bücher lesen, die immer schon neben dem Bett liegen, oder die Musik hören, die schon lange auf der inneren Wunschliste steht. Der Eremit kann uns zeigen, dass diese Phase – wenn wir sie wirklich für uns nutzen – nicht nur vorübergeht, sondern wertvolle Schätze verborgen hält.
Aus dem enttäuschten Sich-von-der-Welt-Zurückziehen wird dann ein Sich-selbst-Zuwenden. Die Voraussetzung für diese Wandlung ist allerdings, dass wir den Schatten-Zustand erst einmal akzeptieren und dann bereit sind, den hilfreichen Archetypen in uns aufzurufen. Durch ihn wird die Verbindung zur eigenen Intuition...