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E-Book

Republik und Sozialdemokratie in Frankreich

Vollständige Ausgabe

AutorKarl Kautsky
VerlagJazzybee Verlag
Erscheinungsjahr2012
Seitenanzahl134 Seiten
ISBN9783849628987
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis0,99 EUR
In diesem Werk befasst sich Kautsky mit der historischen Entwicklung der französischen Demokratieform. Inhalt: 1. Die Begrenzung der Streitfrage 2. Die amerikanische Republik 3. Die erste Republik in Frankreich 4. Die zweite Republik und die Sozialisten 5. Das zweite Kaiserreich und die Pariser Kommune 6. Die Verfassung der dritten Republik 7. Die bürgerlichen Republikaner an der Arbeit 8. Der Sozialismus unter der dritten Republik

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Leseprobe

a. Opportunismus und Kapitalismus

 

Die Verfassung der dritten Republik beruht auf den staatlichen Grundlagen, die das erste Kaiserreich geschaffen; sie erhielt ihre besondere Form durch die, wie die bürgerlichen Republikaner selbst sagten, reaktionärste Kammer, die Frankreich je gehabt. Man hätte glauben sollen, sobald diese monarchisch-klerikale Kammer durch eine andere ersetzt war, in der die antiklerikal-demokratischen Republikaner dominierten, würde sofort diese Verfassung im demokratischen Sinne revidiert werden. Nichts von alledem. Im wesentlichen ist die Verfassung Frankreichs heute noch die von Napoleon I. und den Krautjunkern gegebene. Ein Teil der bürgerlichen Republikaner, die Radikalen, forderte noch eine Zeitlang, daß die äußerlich der Demokratie am meisten widerstreitenden Institutionen, der Senat und die Präsidentschaft, aufgehoben würden. An den Militarismus und die Bureaukratie wagten auch sie nicht zu rühren. An der letzteren hielten sie fest, weil sie selbst nach Posten angelten, der Bevölkerung aber suchten sie weis zu machen, daß gerade diese Zentralisation das beste Mittel bilde, aufs rascheste alle jene segensreichen Reformen durchzuführen, mit denen die Republik schwanger sei. Man brauche nichts zu ändern, als an Stelle der bestehenden Minister sie, die Radikalen, zu Ministern zu machen, und alles werde glänzend gehen. Eine andere Mitwirkung des Volkes dabei als die Erwählung einer genügenden Anzahl Radikaler in die Kammer sei überflüssig. Unter Demokratisierung der Verwaltung verstehen diese Herren heute nicht mehr die Ersetzung der bureaukratischen Bevormundung durch die Selbstverwaltung, sondern die Ersetzung von Protektionskindern der rechten durch solche der linken Seite der Kammer.

 

Freilich, der Senat und der vom Senat miterwählte Präsident standen dem Personenwechsel anfangs stark im Wege. Aber da sich die Radikalen sonst sehr harmlos erwiesen, haben sich ihnen auch die Tore des Senats eröffnet. Andererseits zeigte sich der Senat auch für die Deputiertenkammer sehr nützlich. Bei dem ungleichen Wahlrecht, aus dem er hervorgeht, und der neunjährigen Mandatsdauer seiner Mitglieder bedarf er nicht der Popularität der Volksmassen. Er kann die Unpopularität leichter ertragen als die Abgeordneten der Kammer. So dürfen diese um so volksfreundlicher sich gebärden, um so mehr ihren Wählern versprechen, um so radikaler stimmen, da sie ja wissen, daß der Senat schon dafür sorgt, daß alle schönen Beschlüsse nur auf dem Papier bleiben, wenn sie die Herrschaft oder Ausbeutung des Kapitalismus wirklich ernsthaft einengen würden. Dank dem Senat können die bürgerlichen Radikalen alle Vorteile ihres Radikalismus bei den kleinbürgerlichen und proletarischen Wählern einheimsen, ohne je befürchten zu müssen, dadurch das kapitalistische Regime zu gefährden. Auf diese Weise wird der nicht auf den „Arbeiterfang“ angewiesene Senat zur notwendigen Ergänzung für die auf den „Arbeiterfang“ ausgehende bürgerliche Demagogie.

 

Endlich wurde eine Verfassungsrevision immer gefährlicher, je mehr die extremen Parteien von rechts und links erstarkten, die nicht eine Konservierung des bestehenden Zustandes, sondern seinen Umsturz wollten. So haben die Radikalen seit geraumer Zeit jede Agitation auch gegen Präsidentschaft und Senat fallen gelassen; die monarchische Spitze und das ungleiche Stimmrecht gelten ihnen heute als die festesten Stützen der Republik und des allgemeinen Stimmrechtes. Was heute als „Republik“ in Frankreich verteidigt wird, das ist immer noch die Schöpfung der Krautjunkerkammer, welche die Kommune mordete.

 

Aber ein großer Teil der bürgerlichen Republikaner bedurfte nicht dieses Umwegs, um zur Anerkennung, ja Verehrung der von den Krautjunkern geschaffenen Verfassung zu kommen. Sie erkannten sofort, wie sehr sie den Herrschaftsbedürfnissen der Bourgeoisie entsprach, und so warfen sie leichten Herzens die demokratischen Allüren über Bord, die in ihnen doch nicht eine lebende Macht, sondern bloße Erinnerungen an die große Revolution waren, arbeiteten fröhlich an der neuen Verfassung mit und paßten sich ihr an. Das waren die Opportunisten. Sie gaben ihr radikales Programm den Massen gegenüber nicht auf, wußten aber seine Verleugnung in seine Vollendung umzureden. Durch die Macht der Rede schwarz in weiß verwandeln, ist eine Grundbedingung der politischen Existenz des Opportunismus ebenso wie der „Kooperation der Klassen“. Die Kunst, sich und vor allem die Hörer in Worten zu berauschen, war bei Gambetta ebenso hoch entwickelt wie bei Louis Blanc.

 

Man höre mir zum Beispiel, wie Gambetta sich über die Tatsache aussprach, daß die Senatoren nicht direkt, sondern von Wahlkörpern erwählt wurden, zu denen ursprüglich jede Gemeinde, die kleinste wie die größte, ob sie 50 Einwohner oder 2 Millionen umfaßte, einen Wahlmann entsandte. Ein reaktionäreres Wahlrecht, ein schlimmeres Attentat auf das allgemeine gleiche und direkte Stimmrecht war nicht gut denkbar. Zu welch herrlicher demokratischen Errungenschaft wußte aber Gambetta diese Erbärmlichkeit umzureden!

 

„Lange habe ich mich gesträubt,“ sagte er am 23. April 1875 seinen Wählern, den Arbeitern von Belleville, „zu glauben, daß diese Versammlung (die Nationalversammlung), die sicherlich die am meisten monarchisch und – wie soll ich doch sagen – am wenigsten unkirchlich gesinnte ist, die Frankreich je gehabt hat, gesättigt wie sie ist mit den Vorurteilen des oligarchischen Regimentes, bei der Aufgabe, eine erste Kammer zu errichten, dahin kommen würde, ihr als Grundlage zu geben, was das am meisten Demokratische ist, was Frankreich besitzt: den Gemeindegeist nämlich, die 36.000 Kommunen Frankreichs. Sehen Sie jetzt, in welchem Maße der Geist der Demokratie alle Köpfe eingenommen und selbst unsere erklärtesten Gegner durchdrungen haben muß, damit die Gesetzgeber von 1871 dem Senat, den sie schaffen wollten, die 36.000 Kommunen Frankreichs als Quelle anweisen konnten? Bewundern Sie in der Tat die Folgen und die Bedeutung eines solchen Gesetzes!“

 

Und nun entwarf Gambetta ein glänzendes Bild all der Herrlichkeiten, die für Frankreich aus diesem Wahlrecht hervorgehen werden, das nicht einen Senat, sondern„den großen Rat der Kommunen Frankreichs“ erzeugen müsse. So wurde die Aufhebung des gleichen Stimmrechtes für die Pariser Arbeiter in einen Sieg des Prinzips der Kommune umgeschwindelt.

 

Dem reaktionären Wechselbalg wird eine demokratische Etikette aufgeklebt, und die Demokratie hat über die Reaktion gesiegt! – eine Methode, die sicher an Friedlichkeit und Sicherheit mit keiner anderen vergleichbar ist. Man kann nur noch Siege erfechten, wenn man bereit ist, jede Niederlage einen Sieg zu nennen.

 

Indes waren es nur die Proletarier und Kleinbürger, die Gambetta mit dieser Methode betrog, nicht die Bourgeoisie; nicht jene Klasse, deren Interessen er tatsächlich vertrat, sondern jene, deren Stimmen er zu fangen suchte, um sie den kapitalistischen Interessen dienstbar zu machen. Die Illusion war nicht bei ihm, sondern bei seinen Wählern. Den bürgerlichen Interessen entspricht der Senat vollkommen.

 

Die Verfassung von 1875 erstand unter den Nachwirkungen des Aufstandes der Pariser Kommune. Daher war ihr leitender Gesichtspunkt der, die Republik so zu gestalten, daß sie eine Herrschaft des Proletariats ausschloß. Aber das Proletariat ist heute die einzige Macht, die der Kapitalistenklasse wirksam entgegentreten kann, weil sie die einzige ist, die eine höhere Produktionsweise als die kapitalistische repräsentiert. Unter den Einschränkungen der Kapitalistenklasse sind die vom Proletariat errungenen oder seinen dauernden Klasseninteressen dienenden die einzigen, die einen Kulturfortschritt bedeuten und die Gesellschaft auf eine höhere Stufe heben. Alle anderen Einschränkungen des Kapitalismus bewirken eine Hemmung der sozialen Entwicklung, eine Unterbindung der höchsten bisher erreichten Form des ökonomischen Lebens zugunsten niedrigerer, rückständiger, überlebter, führen zu unerträglichen Zuständen.

 

So muß schließlich immer wieder der Kapitalismus heute zur Herrschaft kommen, unter jeder Verfassung, die nicht das Proletariat zur Herrschaft führt; mag sie so antiliberal als möglich sein, durch ihre politischen Formen Kleinbürger, Bauern, Junker, Soldaten, Pfaffen, absolutistische Bureaukraten oder welche nichtkapitalistischen oder antikapitalistischen Klassen immer bevorzugen, das Kapital wird unter jeder dieser Verfassungen herrschen. Es bemächtigt sich am Ende auch der demokratischen Republik dort, wo das Volk, der„Demos“, mehr aus Kleinbürgern und Bauern als aus Proletariern besteht; das „Kaiserreich ohne Kaiser“, wie man die dritte Republik treffend nannte, bot aber für seine Herrschaft vornherein den günstigsten Boden. Es hatte im Kaiserreich mit dem Kaiser durch den Kaiser geherrscht, der immerhin noch eigene dynastische Zwecke neben den kapitalistischen verfolgte; im Kaiserreich ohne den Kaiser wird es direkt der Kaiser selbst, der die Minister einsetzt, den Senat und die Deputiertenkammer zusammensetzt und dirigiert. So wird die republikanische Politik noch leichter zu kapitalistischer Politik als die monarchische.

 

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