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E-Book

Wer hat Angst vorm bösen Mann?

Warum uns Täter faszinieren

AutorBorwin Bandelow
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl352 Seiten
ISBN9783644026711
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis9,99 EUR
Unsere Medien sind immer wieder voll von Berichten über schier unfassbare Verbrechen. Und wir fragen uns, was sich abspielt im Gehirn von Menschen, die andere Menschen entführen, foltern, vergewaltigen oder ermorden. Die Geiseln nehmen, um politische Ziele durchzusetzen. Oder die ihre Kinder jahrzehntelang einsperren, um sie zu missbrauchen und zu quälen. Wie entsteht «das Böse», und wodurch könnte man es vielleicht verhindern? In diesem Buch geht es um eine besondere Dimension solcher Verbrechen - nämlich um die erstaunliche Faszination, die das Böse hervorruft. Denn obwohl die Taten schrecklich sind, üben sie oft eine faszinierende Wirkung auf andere Menschen aus. Sogar die Opfer selbst werden nicht selten davon erfasst. Welche bizarren Kapriolen vollzieht das Gehirn, wenn sich eine Allianz zwischen Tätern und Opfern bildet? Wie lässt es sich erklären, dass normale Menschen zu brutalen Vergewaltigern, Mördern, Entführern oder Hochstaplern eine positive Bindung entwickeln? Borwin Bandelow, der seit Jahrzehnten als Psychiater tätig ist und sich auskennt mit den Abgründen der menschlichen Seele, untersucht an zahlreichen Beispielen die merkwürdige Faszination des Bösen. Er beschreibt Fälle, die er selbst behandelt hat, und berichtet über Täter, Opfer und Zeitzeugen, die er interviewt hat, darunter - eine frühere Geliebte des Serienmörders Jack Unterweger, - den Vergewaltiger und Mörder Frank Schmökel, der von zahlreichen Frauen im Hochsicherheitstrakt Besuch bekommt, - eine Frau, die acht Jahre lang von einem Sexgangster gefangen gehalten wurde, - eine Frau, die monatelang in der Dschungelhölle Nicaraguas gefangen war und über die Beziehungen zu ihren Entführern spricht, - ein überlebendes Opfer des Kannibalen Jeffrey Dahmer, - einen ehemaligen Mitstreiter des Terroristen Andreas Baader, - Deutschlands berühmtesten Hochstapler Gert Postel, - die Frau, nach der das Stockholm-Syndrom benannt wurde, - eine Krankenschwester, die fünf ihrer Patienten tötete.

Prof. Dr. med. Dipl.-Psych. Borwin Bandelow arbeitet an der Psychiatrischen Klinik der Universität Göttingen. Er behandelt seit vielen Jahren Angstpatienten und ist einer der weltweit führenden Angstforscher. Von ihm stammen zahlreiche fachwissenschaftliche Bücher und Aufsätze. Darüber hinaus veröffentlichte er bei Rowohlt für ein breites Publikum «Das Angstbuch» (rororo 61946), «Celebrities» (rororo 62275) und «Das Buch für Schüchterne» (rororo 62254).

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Leseprobe

Vom Totmacher zum Talkshowgast


Eine neue Packung Rasierklingen liegt bereit.
Auch eine lange, starke Lederschnur.
Ich habe vorgesorgt für die Minute
der letzten Entscheidung.

Jack Unterweger, Fegefeuer

Während im Jahr 1991 in den Lichtspieltheatern Das Schweigen der Lämmer läuft, geht im Wienerwald ein Prostituiertenmörder um. Die Frauen, die nervös auf dem Straßenstrich in Wien ihrem Geschäft nachgehen, werden von einem Reporter des österreichischen Rundfunks ORF gefragt, was sie dabei empfinden, wenn immer wieder eine ihrer Kolleginnen ermordet aufgefunden wird. Dem kleinen, aber gutaussehenden Jack Unterweger vertrauen sie ihre Ängste an. Er spricht ihre Sprache und hat Verständnis für sie, denn seine Tante war ebenfalls eine Hure gewesen, die von einem Freier getötet worden war. Auch interviewt er den Leiter der Kriminalpolizei, der mit der Ermittlung dieser Prostituiertenmorde beauftragt ist, zu den neuesten Erkenntnissen der Spurensicherung.

Er weiß tatsächlich, wovon er redet. Vor einem Jahr war er aus dem Gefängnis entlassen worden, wo er wegen Mordes gesessen hatte.

1974 wird die achtzehnjährige Prostituierte Margaret Schäfer in Hessen tot aufgefunden. Der Österreicher Johann «Jack» Unterweger hatte das Mädchen in einer frostigen Winternacht in einen Wald gelockt und gezwungen, sich trotz Schneefalls und eisiger Kälte nackt auszuziehen. Dann schlug er über Stunden vierzigmal mit einer Teleskop-Stahlrute auf Margaret Schäfer ein, um sie schließlich mit ihrem Büstenhalter zu erdrosseln. Motiv? Das Opfer habe ihn an seine Mutter erinnert. Psychiatrische Gerichtsgutachter hielten ihn für einen «unverbesserlichen Gewohnheitsverbrecher, bei dem mit Sicherheit Rückfälle zu erwarten sind», bei dem eine «enorme Aggressivität» sowie eine «sexuelle Perversion mit einer sadistischen Komponente» bestehe.[1]

Unterweger wird zu lebenslanger Haft verurteilt, die er 1976 antritt. Ein Jahr vor dem Mord an der Deutschen war Unterweger zudem verdächtigt worden, eine Salzburgerin getötet zu haben. Nachdem die polizeilichen Untersucher von dem Fall abgezogen wurden, weil er ja ohnehin schon lebenslang bekommen hatte, konnte ihm die Tat nicht mehr nachgewiesen werden.

Unterweger fängt im Gefängnis an, Bücher zu schreiben. Seine Autobiographie Fegefeuer oder die Reise ins Zuchthaus[2] wird ein Bestseller, der auf seine Weise durchaus literarische Qualitäten hat und den Leser betroffen macht, auch wenn man den Autor nach der Lektüre nicht gerade als Sympathieträger empfindet.

In diesem Buch kommt seine traurige Kindheit zur Sprache: Die Mutter war eine kriminelle Prostituierte, und von seinem Vater weiß man nur, dass er ein amerikanischer Soldat war. Jack hatte ihn nie kennengelernt. Die Mutter gibt ihr «Hurenbankerl» weg, an den Großvater, einen versoffenen, ordinären, sexbesessenen ehemaligen Zuchthäusler. Dann wird das Kind zwischen verschiedenen Personen hin und her geschoben, in Heimen für schwererziehbare Kinder aufbewahrt oder von Prostituierten aufgezogen. Mit zehn Jahren sieht er seine Mutter zum ersten Mal für kurze Zeit – danach nicht wieder.

Jack Unterweger

Der Knastpoet

Seiner Autobiographie folgend, ist Jack bereits als Heranwachsender von einem übermächtigen Sextrieb befallen. Er begeht Autodiebstähle und Einbrüche, wird amphetaminsüchtig und schickt eine Freundin auf den Strich. Mit sechzehn wird er zum ersten Mal wegen eines Angriffs auf eine Prostituierte verhaftet. Seine zahlreichen Straftaten kumulieren schließlich in dem Mord an Margaret Schäfer.

Seine Bücher, die er im Zuchthaus schreibt, machen in der literarischen Welt und bei der Wiener Schickeria Furore. Prominente suchen die Nähe des Knastpoeten. Fegefeuer wird verfilmt. Er verfasst Drehbücher für Tatort-Krimis und 150 Gute-Nacht-Kindergeschichten fürs Radio («Das Traummännlein kommt»). Auch in Literatursoireen und Talkshows ist er ein gerngesehener Gast. Unterweger wirkt außergewöhnlich, gebildet, interessant und unterhaltsam, er kann sich gut ausdrücken und sieht blendend aus; sein IQ beträgt 124.[3] Er erhält den «Ingeborg-Drewitz-Literaturpreis für Gefangene» für Endstation Zuchthaus. Ein Musterbeispiel, wie eine künstlerische Betätigung einen Straffälligen zum Besseren wenden kann. Alle erliegen dem Charme des «Häf’nliteraten», des «Knastpoeten»: eine Nonne, die Ehefrau eines Politikers und eben viele Künstler. Eine Petition, die von zahlreichen prominenten Intellektuellen wie Ernst Jandl, Elfriede Jelinek und Erika Pluhar unterschrieben wird, führt schließlich dazu, dass er vom österreichischen Bundespräsidenten begnadigt und 1990, nach sechzehn Jahren Haft, frühzeitig auf Bewährung entlassen wird. Eine Psychologin mit drei Monaten Erfahrung im forensischen Bereich hatte nach einem einstündigen Gespräch mit dem Häftling eine Stellungnahme verfasst, in der sie von der brutalen Kindheit Unterwegers über seine Straftaten zur Läuterung durch die erfüllende Autorentätigkeit eine plausible Logik entwickelte und die schließlich in einer günstigen Prognose für eine bedingte Entlassung endete. In dem Gutachten waren mehrere Texte aus Fegefeuer wörtlich übernommen worden.

Unterweger hatte sie alle getäuscht. Seine schwere Jugend hatte er sich selbst zusammengebastelt: Sein Großvater war in der Realität kein Lustgreis, seine Tante keine Prostituierte. Seine Mutter war zwar eine Betrügerin und hatte sich die Männer um die Ohren geschlagen, aber sie war nie auf den Strich gegangen. Doch Unterwegers Schauermärchen waren die Geschichten, die die Menschen hören wollten, die in ihm den Muster-Resozialisierten und das Opfer einer furchtbaren Kindheit sehen wollten.

Der Vierzigjährige fängt in Freiheit an, sich als Schriftsteller und Journalist zu betätigen. Weißer Siebziger-Jahre-Anzug, Seidenhemd oder kurzes Lederleiberl, rote Blüte im Knopfloch, Cartier-Uhr, Goldkette, Wolfshund und ein Straßenkreuzer mit der Autonummer «JACK1» sind seine Erkennungsmerkmale. Er bekommt umgerechnet etwa 30000 Euro aus dem Subventionsfonds des Unterrichtsministeriums.

In Graz und Bregenz werden in dieser Zeit die Leichen der Prostituierten Brunhilde Massener und Heidemarie Hammerer gefunden – mit ihrer eigenen Unterwäsche erdrosselt. Kurz darauf wird das Grazer Strichmädchen Elfriede Schrempf vermisst; erst Monate später wurde ihre skelettierte Leiche gefunden. Dann verschwanden weitere drei Frauen aus den Straßen von Wien. In Prag ereignet sich ein ähnlicher Mordfall – die Gelegenheitsprostituierte Blanka Bockova wird nackt aufgefunden, mit einem Paar grauer Nylonstrümpfe stranguliert.

Der Ehemann der ebenfalls in Österreich ermordet aufgefundenen Hure Regina Prem erhält einen makabren anonymen Anruf. Der Anrufer wusste genau, was die Ehefrau in der Mordnacht getragen hatte, und sprach auf das Band, er sei Reginas Henker gewesen und habe insgesamt elf Frauen die Strafe gegeben, die sie verdient hätten.

Jack Unterweger gerät in Verdacht und wird beschattet, aber zur Enttäuschung der Ermittler finden sie nur heraus, dass er seinem üblichen Tagwerk nachgeht: Frauen verführen in Wiener Szene-Beisln, Nightclubs und Champagnerbars. «Wenn er einmarschiert, fallen den Mädchen die Höschen auf den Boden», berichtet ein neidischer Reporter.

Nach den Vorgängen seiner Kreditkarte zu urteilen, war Unterweger allerdings immer zufällig in der Nähe der Tatorte, um Autorenlesungen abzuhalten. In seinen Tagebüchern fehlten ausgerechnet die Seiten der Mordtage.

Genug der Zufälle – die Ermittler zählen eins und eins zusammen und nehmen Unterweger ins Visier. In den ausgebauten Sitzen eines BMW von Unterweger findet sich ein Haar mit DNA-Spuren von Blanka Bockova aus Prag – eine winzige, aber entscheidende Spur.

Die Fahnder durchsuchen seine Wohnung und entdecken ein Foto, auf dem Unterweger mit weiblichen Mitarbeitern des Los Angeles Police Department posiert. Ermittler Dr. Ernst Geiger fragt in der kalifornischen Großstadt nach. Im Sommer 1991 war Unterweger nach L. A. geflogen, um dort für eine österreichische Zeitung zu recherchieren. In dieser Zeit ereignen sich dort drei Mordfälle, bei denen Prostituierte mit ihren Büstenhaltern erwürgt wurden – Shannon Exley, Irene Rodriguez und Peggy Booth. Bei mehreren der Morde in Europa wurde der gleiche ausgefallene Knoten verwendet, um die Opfer zu erdrosseln.

Jetzt stellt sich in Österreich heraus, dass Fasern des berühmten roten Schals von Unterweger, der in seiner Wohnung gefunden worden war, denen entsprachen, die man auf der Leiche von Heidemarie Hammerer ermittelt hatte. Die Schlinge zieht sich zu.

Als er merkt, dass nach ihm gesucht wird, flüchtet Unterweger mit seiner achtzehnjährigen Freundin Bianca Mrak, die er in einer Wiener Weinbar kennengelernt hatte, nach Florida. Er hat vor, Bianca zur Geldbeschaffung auf den Strich zu schicken. Dazu kommt es nicht; zusammen mit ihr wird er 1992 in Miami verhaftet. Angeblich war aus Aufzeichnungen Unterwegers klargeworden, dass die Ermordung Biancas schon beschlossene Sache war.

Beim Prozess in Graz erscheint Unterweger immer fesch gekleidet. Er ist fest davon überzeugt, dass sein Charme und sein gutes Aussehen von der Evidenz ablenken können. In Interviews tut er kund, dass er nie wieder auch nur...

Blick ins Buch

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