VORGESCHICHTE
Mein Amt als US-Außenministerin trat ich im Alter von 59 Jahren an. Damals war ich überzeugt, dass ich alles Wissenswerte über meine Vergangenheit bereits wüsste – dass ich »mein Volk« und die Geschichte meiner Heimat kannte. Ich war mir so sicher, dass ich es nicht für notwendig hielt, Fragen zu stellen. Andere mochten wegen ihrer Identität Zweifel haben, ich hatte keine. Noch nie. Ich wusste Bescheid.
Dabei wusste ich gar nichts. Ich hatte keine Ahnung, dass ich aus einer jüdischen Familie stammte, geschweige denn dass über zwanzig Verwandte von mir den Holocaust nicht überlebt hatten. Ich war in dem Glauben an eine Geschichte meiner tschechoslowakischen Heimat aufgewachsen, die geradlinig und längst nicht so verworren wie die Realität war. Ich musste noch viel über die komplexen ethischen Entscheidungen lernen, die meine Eltern und andere in ihrer Generation notgedrungen treffen mussten – Entscheidungen, die noch heute mein Leben und das internationale Geschehen prägen.
Ich bin als Katholikin aufgewachsen und trat nach der Heirat in die Episkopalkirche ein. Ich hatte – da war ich mir sicher – eine slawische Seele. Meine Großeltern waren gestorben, bevor ich groß genug war, um mich an ihre Gesichter oder Namen zu erinnern. In Prag lebte eine Cousine von mir. Unlängst setzte ich mich wieder mit ihr in Verbindung. Als Kinder hatten wir uns sehr nahe gestanden, aber inzwischen kannte ich sie nicht mehr allzu gut. Der Eiserne Vorhang hatte uns getrennt.
Meine Eltern hinterließen mir ein unschätzbares Vermächtnis: eine Reihe tiefer Überzeugungen, was Freiheit, Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit angeht. Darüber hinaus erbte ich eine Liebe zu zwei Ländern. Die Vereinigten Staaten hatten meine Familie aufgenommen und es mir ermöglicht, in Freiheit aufzuwachsen. Ich nenne mich voller Stolz eine Amerikanerin. Die Tschechoslowakische Republik war ein Musterbeispiel für einen humanen Staat, bis sie von Adolf Hitler zerschlagen und dann (nach einer kurzen Phase des Wiederaufblühens nach dem Krieg) von Josef Stalins Helfershelfern wiederum vernichtet wurde. 1989 weckte die Samtene Revolution unter der Führung Václav Havels, meines Helden und später teuren Freundes, neue Hoffnung. Mein Leben lang glaubte ich an die Tugenden einer demokratischen Regierung, an die Notwendigkeit, sich gegen das Böse zu stellen, und an den jahrhundertealten Wahlspruch der Tschechen: »Pravda vítězí« oder »Die Wahrheit wird siegen«.
Von 1993 bis 1997 hatte ich die Ehre, die Vereinigten Staaten als Botschafterin bei den Vereinten Nationen zu repräsentieren. Aufgrund meiner prominenten Stellung und durch die Befreiung Mitteleuropas nach dem Fall der Mauer bekam ich Post die Geschichte meiner Familie betreffend. Einige Briefeschreiber irrten sich im Hinblick auf die Fakten, manche Briefe waren kaum zu entziffern, andere baten um Geld und etliche erreichten mich überhaupt nicht, weil die Assistenten (die die Sprache nicht kannten) nicht zwischen persönlicher Korrespondenz und öffentlichen Angelegenheiten unterscheiden konnten. Gegen Ende der ersten Amtszeit Bill Clintons erhielt ich mehrere Schreiben von Menschen, die meine Eltern gekannt hatten und die Namen und Daten mehr oder weniger exakt wiedergaben. Überdies deuteten sie an, dass meine Vorfahren Juden gewesen seien. Der Brief einer 75-jährigen Frau erreichte mich Anfang Dezember 1996: Sie schrieb, ihre Familie habe geschäftlich mit meinen Großeltern mütterlicherseits zu tun gehabt, die der Judenverfolgung im Krieg zum Opfer gefallen seien. Meine Schwester Kathy, mein Bruder John und ich glichen unsere Erinnerungen ab, und ich berichtete auch meinen Töchtern Anne, Alice und Katie von den Neuigkeiten. Da ich zu der Zeit wegen meiner Kandidatur für das Amt der Außenministerin eine Sicherheitsüberprüfung durchlief, informierte ich auch Präsident Clinton und seine engen Berater. Im Januar 1997, bevor wir Zeit hatten, der Sache nachzugehen, enthüllte ein emsiger Reporter der Washington Post, Michael Dobbs, Informationen, die uns alle verblüfften: Nach seinen Recherchen waren drei meiner Großeltern und viele andere Angehörige im Holocaust umgekommen.
Im Februar 1997 reisten Kathy, John und Johns Frau Pamela nach Tschechien. Sie bestätigten einen großen Teil von dem, was in dem Post-Artikel gestanden hatte, fanden aber auch ein paar Fehler. Im selben Sommer gelang es mir, zwei ähnliche, allerdings kürzere Reisen zu unternehmen. Der emotionalste Moment war für mich der Besuch der Prager Pinkas-Synagoge, wo unter den 80 000 Namen, die man dort zur Erinnerung an die Opfer der Shoah auf die Wände geschrieben hatte, auch jene meiner Familienangehörigen stehen. Ich war zuvor bereits in der Synagoge gewesen, war aber (da ich keinen Anlass dazu gehabt hatte) nicht auf die Idee gekommen, hier nach Namen von Angehörigen zu suchen.
Die Episode wird in meinen Memoiren Madam Secretary ausführlich beschrieben und soll hier nicht näher geschildert werden. Die Haupterkenntnis ist jedoch von zentraler Bedeutung, weil sie den Anstoß zu diesem Buch gab. Regelrecht schockiert und, ehrlich gesagt, peinlich berührt stellte ich fest, dass ich über meine Familiengeschichte nicht besser Bescheid wusste. Meiner Schwester und meinem Bruder ging es genauso. Und die vielen Menschen, die mir erzählten oder schrieben, dass sie mit den Geheimnissen, die ihre eigenen Eltern gehütet hatten, ganz ähnliche Erfahrungen gemacht hätten, waren mir auch kein großer Trost. Ich konnte akzeptieren, ohne dass mich das wirklich zufrieden stellte, dass die bestehende Kluft zwischen meiner Erinnerung und der Realität weder unerklärlich noch einzigartig war, dennoch bedauerte ich es, nicht die richtigen Fragen gestellt zu haben. Darüber hinaus spürte ich den Drang, mehr über die Großeltern zu erfahren, die ich nicht kennengelernt hatte, weil ich zu klein war – insbesondere, weil ich inzwischen selbst Großmutter geworden war.
Nachdem ich beschlossen hatte, mich in meine Familiengeschichte zu vertiefen, erkannte ich schon bald, dass ich das nicht tun konnte, ohne meine Eltern in den Kontext zu stellen, in dem sie gelebt hatten, insbesondere in die Jahre 1937 bis 1948, die Ära um den Zweiten Weltkrieg – und zugleich die ersten zwölf Jahre meines Lebens.
Ende der dreißiger Jahre rückte die Tschechoslowakei in den Mittelpunkt der Weltpolitik, ein abgelegenes Land, das die wenigsten Menschen in Hauptstädten wie London und Washington jemals besucht hatten. Sie wussten nicht einmal, wie man den Namen ausspricht. Wenn überhaupt, so kannten die meisten es als Böhmen, das Land der Magie, der Marionetten, Franz Kafkas und des tapferen Königs Wenzel. Aber wer etwas über Mitteleuropa wusste, hatte mit Blick auf die tausendjährige Geschichte Respekt vor dieser Nation und schätzte sie wegen ihrer Lage an einer Kreuzung zwischen West und Ost. Außerdem war das Land der Schauplatz einer langen und mitunter erbitterten Rivalität zwischen Tschechen und Deutschen. In dem dramatischen Höhepunkt dieses Konflikts verlangte Adolf Hitler, dass die tschechoslowakische Regierung ihre Souveränität aufgab, indem sie den deutschen Truppen die Grenze öffnete. Hitler beschwor damit für ganz Europa eine Krise herauf, in der die Politiker knallhart rechnen mussten. Da die Tschechoslowakei den Großmächten im Westen nicht wert schien, für sie zu kämpfen, wurde das Land dem Streben nach Frieden geopfert.
Aber der Krieg kam dennoch – und mit ihm die fast völlige Vernichtung des europäischen Judentums sowie eine Neuordnung der internationalen Politik.
Meine Familie verbrachte den Zweiten Weltkrieg in England. Sie kam genau in der Phase in das Land, als die Bevölkerung des Inselstaates aus zwei Jahrzehnten der Selbstgefälligkeit erwachte. Wir waren dort, als Winston Churchill an seine Landsleute appelierte, sich gegen die nationalsozialistische Finsternis zu vereinen, den »Blitz« durchzustehen, den Flüchtlingskindern vom Kontinent eine Zuflucht zu geben und die tschechoslowakische Exilregierung aufzunehmen, in deren Diensten mein Vater stand. Meine ersten Erinnerungen gelten London und der britischen Landschaft, Luftschutzbunkern und Verdunkelungsvorhängen. Ich erinnere mich auch an einen Ausflug mit meinen Eltern zum Meer, obwohl man dort massive Stahlbarrieren aufgestellt hatte, um feindliche Invasionsversuche zu vereiteln.
Von dem Tag an, als die Vereinigten Staaten in den Krieg eintraten, waren meine Eltern und ihre Freunde sicher, dass die Alliierten siegen würden. Als Demokraten aus Mitteleuropa beteten sie, dass die Vereinigten Staaten – nicht die Sowjetunion – in unserer Region die maßgebliche Einflusszone besetzen würden. Es sollte anders kommen. Nach dem Sieg über die Nationalsozialisten wurde die Tschechoslowakei einmal mehr zu einem zentralen Schlachtfeld, auf dem sich der Totalitarismus durchsetzte. Meine Familie musste erneut ins Exil und fand diesmal in den Vereinigten Staaten eine dauerhafte Zuflucht.
Kaum eine Entscheidung dürfte einem Erwachsenen schwerer fallen als jene, die Menschen in diesen turbulenten Zeiten treffen mussten, doch die damit verbundenen Themen kennt wohl jedes Kind: Wie bekomme ich Sicherheit? Wem kann ich trauen? Was kann ich glauben? Und (mit den Worten der tschechischen Nationalhymne): »Wo ist meine Heimat?«
Ein in Prag geborenes Kind meiner Generation kannte ganz selbstverständlich den 1855 geschriebenen Roman Großmutter. Das Buch zählte zu den ersten Werken der ernsten Literatur, das in tschechischer Sprache erschien. Wegen des Namens der Romanheldin habe ich die Geschichte besonders ins Herz geschlossen: »Magdalena«. Unter...