Einleitung – Drei Kinder stellvertretend für fast drei Millionen
Ein Jahr mit Vanessa, Melanie und Kevin. Drei Kinder in einer großen deutschen Stadt, stellvertretend für alle, die in diesem Land von Hartz IV leben. Ich habe die Kinder ein Jahr begleitet. In der Schule, auf dem Weg nach Hause, im Tanzkurs und vor allem im BOOT, einem Mittagstisch für Kinder, die zu Hause kein warmes Essen bekommen. Ich habe ihre Namen verändert, sie so beschrieben, dass sie nicht wiedererkannt werden können. Aber alles, was diese drei Kinder in dieser Geschichte erleben, ist tatsächlich passiert. Die drei sind keine Einzelschicksale. Nein – über drei Millionen Kindern geht es wie ihnen. Drei Millionen von rund 10,5 Millionen Kindern unter 14 Jahren in Deutschland.
Das hat wenig damit zu tun, dass die Welt von einer Wirtschaftskrise ohnegleichen geschüttelt wird. Nein, die Zahl der Kinder, die von Hartz IV lebt, steigt an, seit 2005 die Zusammenlegung von Arbeitslosengeld und Sozialhilfe eingeführt wurde. Schon damals warnte der Deutsche Kinderschutzbund vor einem Ansteigen der Kinderarmut. Zu Recht. Seitdem ist jedes sechste Kind in diesem Land von Sozialleistungen abhängig.
Ihnen stehen rund 200 Euro monatlich zu. Ein allein lebender Mensch erhält laut Tabelle 856 Euro monatlich, eine Familie mit zwei Kindern bekommt 1798 Euro. Aber weder der Single noch das Elternpaar sind der Normalfall, wenn ich hier in diesem Buch über Kinderarmut schreibe: Die meisten dieser Kinder wachsen bei Alleinerziehenden auf.
Davon sind es zu 95 Prozent die Mütter, die mit ihren Kindern in dieser Situation allein gelassen werden. Dazu steigt die Zahl der so genannten »Aufstocker«-Menschen, die mit ihrem meist halbtags verdienten Lohn ihren Lebensunterhalt nicht mehr finanzieren können. Also auch wieder überwiegend Frauen. Wenn der Kinderzuschlag von aktuell 140 Euro nur um zehn oder 20 Euro steigen würde, dann könnten 700.000 Aufstocker-Familien aus dem Hartz II-Bezug geholt werden, rechnet der Kinderschutzbund vor.
Kinderarmut ist ein Skandal! Aber wer regt sich wirklich auf? Wer tut etwas dagegen – wirkungsvoll und nachhaltig? Es sind ein paar Bücher erschienen in den letzten beiden Jahren, auch einige wenige Dokumentarfilme in ARD und ZDF gesendet worden, auch wissenschaftliche Untersuchungen gibt es – aber geändert hat sich nichts. Dabei ist alles bekannt, nachlesbar, aber wohl nicht nachzuvollziehen. Oder nicht nachzufühlen?
Schotten wir uns alle ab, wollen wir nicht wahrhaben, dass es Kinderarmut hier in unserem reichen Land und nicht nur in den so genannten Ländern der Dritten Welt gibt? Egal welche Regierung an der Macht ist, schwarz-rot oder rot-grün – dem Thema »steigende Kinderarmut« hat sich seit 2004 noch keiner ernsthaft zugewandt. Die Frauen-, Jugend- und Familienministerin Ursula von der Leyen ist sich der Dramatik bewusst. Immerhin. Doch auch sie gesteht mir in diesem Buch:
»Ich glaube, ein tiefes Gefühl der Ohnmacht und der Hilflosigkeit lässt viele verstummen.«
2009, zehn Monate nach dem Beginn der Weltwirtschaftskrise, wird in Deutschland gewählt. Da geht es um die zum Jahresende auf fünf Millionen geschätzten Arbeitslosen, sie streiten um den Gesundheitsfonds, um den Bundeswehr-Einsatz in Afghanistan oder die Milliarden-Rettungsschirme für Banken. Einige Politiker äußern sich provokant über den Missbrauch der Gelder für Hartz IV-Empfänger. Ein Aufschrei beim Thema Kinderarmut? Fehlanzeige.
Dabei haben mal wieder in Deutschland Richter die Entscheidungen von Politikern gerade gerückt: Was braucht ein Kind?
Wie viel Geld benötigt eine in finanzielle Not geratene Familie tatsächlich? Das Urteil des Bundessozialgerichtes vom Januar 2009 zu den umstrittenen Hartz IV-Regelsätzen macht mehr als 1,5 Millionen Kindern in Deutschland Hoffnung. Das Gericht sieht vor allem einen Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes als gegeben an. Dass Kinder nur 60 Prozent des Regelsatzes von Erwachsenen bekommen sei »nicht ausreichend begründet«. Jetzt ist noch das Verfassungsgericht gefragt und wird wohl die Regelsätze für Kinder neu berechnen müssen.
Dabei riskieren wir in Deutschland nicht mehr und nicht weniger als die Zukunft unseres Staates, wenn wir uns nicht um die Chancen aller Kinder in diesem Land intensiv bemühen.
Erstaunlicherweise scheint es viele Menschen hier nicht wirklich zu berühren, wenn sie von Kinderarmut hören. Offensichtlich können sie sich das nicht vorstellen. Aber wenn schon das Mitgefühl fehlt, dann sollten wir unseren Verstand und unser ökonomisches Denken einschalten. Denn es geht um existenzielle Fragen: Welches Land kann es sich wirklich leisten, rund drei Millionen Kinder als benachteiligte Randgruppe aufwachsen zu lassen? Inzwischen gibt es Familien, die in der dritten Generation von Sozialgeld leben und dabei immer mehr verelenden. Auf der anderen Seite sehen Politiker tatenlos zu, jammern, wir bekämen zu wenige Kinder, wir würden vergreisen und eines Tages könnten die noch vorhandenen wenigen Kinder die Renten für die ältere Generation nicht mehr erwirtschaften. Adieu Generationenvertrag.
Die traurige Wahrheit aber lautet: Menschen ohne Arbeit und in Armut geben stets aufs Neue ihre Armut weiter. Sie scheint erblich, wenn auch nur im übertragenen Sinn: Ein Teufelskreis, den es dringend zu durchbrechen gilt.
Denn wir brauchen jeden jungen Menschen. Gut ausgebildet und engagiert. Wir werden es uns nicht leisten können, eine wachsende Schar Hartz IV-Empfänger zu ernähren. Wer das erkannt hat, muss handeln, kann nicht die Augen weiter verschließen und so tun, als ginge das alles den Staat nichts an.
Wir wissen es alle: Die Zahl der Geburten ist in den vergangenen 40 Jahren dramatisch gesunken. Sie hat sich beinahe halbiert. Die Zahl der Schulabgänger sinkt seit 2007 jährlich um rund 200.000 Kinder. Auf der anderen Seite fehlen Jahr für Jahr mehr Fachkräfte. Zum ersten Mal konnten 2008 die freien Ausbildungsplätze in der Wirtschaft nicht besetzt werden. Ausgebildete junge Menschen werden also zu einem kostbaren Gut. Wir müssen sie fördern und alles tun, damit sie eine Chance und eine Zukunft in diesem Land haben. Statt fehlender Empathie dann eben Rationalität.
Bei der Recherche zu diesem Buch ist mir etwas Erstaunliches aufgefallen, was ich so nicht erwartet hatte: Die meisten der Kinder, die mir im vergangenen Jahr begegnet sind, sind mutig und voller Zuversicht. Sie sind stark, möchten sich wehren und ihre Lebenssituation verbessern. Wer wie ich von außen kommt und bei den kostenlosen Mittagstischen in einer deutschen Großstadt am Rande zusieht, wundert sich. Selbstbewusst und fröhlich kommen hier die meisten der täglich bis zu 100 Kinder an, die fast alle nicht gefrühstückt haben und jetzt heißhungrig zum Mittagessen anstehen.
Dabei sind sie zugleich Weltmeister im Verbergen ihrer privaten Lebenssituation. Schützen ihre Eltern, ihre Väter und Mütter wo es nur geht. Jugendämter sind erst mal Feinde. Die Mitarbeiter müssen sich ganz schön bemühen, wollen sie das Vertrauen dieser Kinder gewinnen. Was aber dringend erforderlich ist – sonst können sie nicht wirklich helfen. Denn gerade diese Helfer stehen sofort am Pranger, wenn ein Kind verhungert aufgefunden wird, wenn vermeintlich wieder mal die Gesellschaft versagt hat. Hier fehlen eindeutig noch weitere Netzwerke, die im Vertrauen mit den Kindern frühzeitig – als Frühwarnsystem – schwierige und gefährliche Situationen für die Kinder erkennen und so größere Dramen verhindern.
Wenn dieses Buch von drei Kindern berichtet, die von Sozialgeld leben, dann geht es dabei vordergründig nicht um Hunger. Sicher auch darum – weil die meisten kein Frühstück bekommen, kein Geld haben, um für die Pause etwas zu kaufen. Es geht auch um die Gesundheit dieser Kinder. Fachärzte berichten, dass sich allein am Gesundheitszustand der Kinder der Grad der Armut exakt messen lässt. Je weniger Geld eine Familie zur Verfügung hat, umso häufiger leiden die Kinder an Asthma oder Neurodermitis. Sie sind meist zu dick, sie hören, sehen und sprechen schlechter oder nässen ein. Eine weitere alarmierende Zahl belegt, dass 13,8 Prozent aller armen Kinder in ihrer geistigen Entwicklung beeinträchtigt sind. In den vermögenderen Schichten der Gesellschaft sind es 0,8 Prozent. Eltern, die keine Arbeit haben und von Sozialgeld leben, bringen ihre Kinder weniger häufig zum Arzt. Auch weil sie die zehn Euro Praxisgebühr nicht haben oder weil sie in der eigenen Verzweiflung so gefangen sind, dass sie die Krankheiten und Nöte ihrer Kinder übersehen.
Und keiner schreit auf in diesem Land? Fünf Milliarden Euro gibt der Staat jährlich für »Hilfen zur Erziehung« aus. Das Geld geht an Kinderheime, Pflegefamilien und Beratungsdienste. Aber wenn wir uns mehr um Kinder aus ärmeren Familien kümmern würden, könnten von diesem Geld ohne große Probleme mehr Kindertagesstätten und Ganztagsschulen gebaut werden. Denn drei Viertel aller Kinder, die vom Jugendamt dauerhaft in Pflegefamilien untergebracht werden, kommen aus Familien, die vom Sozialamt unterstützt werden. Die Hälfte aller Kinder in Pflegefamilien wurde vorher von einem Elternteil allein betreut. Noch einmal: zu 95 Prozent sind es die Mütter. Es kommt aber noch dicker: Eltern, die von Hartz IV leben, haben keinen Anspruch auf Ganztagsbetreuung in einem Kindergarten oder Hort. Die Begründung haben sich Bürokraten fernab jeglicher Lebenswirklichkeit ausgedacht: die Eltern seien ja zu Hause und nicht berufstätig. Aber gerade diese Kinder aus »bildungsferneren« Schichten brauchen die fördernde Ganztagsbetreuung dringender denn alle anderen.
Wir...