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E-Book

Das Mädchen, das aus dem Dschungel kam

Eine Kindheit unter Affen

AutorMarina Chapman
VerlagRowohlt Verlag GmbH
Erscheinungsjahr2013
Seitenanzahl288 Seiten
ISBN9783644488212
FormatePUB
KopierschutzWasserzeichen
GerätePC/MAC/eReader/Tablet
Preis12,99 EUR
Ein Leben, das für drei reicht: erschütternd, unfassbar, herzergreifend. Kurz vor ihrem fünften Geburtstag wird Marina aus ihrem Dorf in Kolumbien entführt und im Dschungel ausgesetzt. Ein kleines Mädchen ist eigentlich chancenlos in der Wildnis. Völlig verängstigt trifft sie auf ihre Retter: Kapuzineraffen, die sie in ihren Clan aufnehmen und von denen sie schließlich alles lernt, was sie im Dschungel braucht. Nach etwa fünf Jahren wird sie von Wilderern entdeckt und an ein Bordell verkauft. Es gelingt ihr, den schrecklichen Verhältnissen dort zu entfliehen, und nach einer langen Odyssee findet sie schließlich Freunde, die ihr ein normales Leben in der Menschenwelt ermöglichen. Heute ist sie mit ihrer Familie in England zu Hause.

Marina Chapman hat einen weiten Weg hinter sich: aus dem abgelegenen Regenwald Kolumbiens, wo sie fünf Jahre lang bei einer Horde Kapuzineraffen lebte, bis nach Bradford in Großbritannien. Heute ist sie mit einem Briten verheiratet, Mutter von zwei erwachsenen Töchtern, und arbeitet in einem städtischen Kindergarten. Dazwischen war sie die Anführerin einer Bande kolumbianischer Straßenkinder, arbeitete in einem Bordell und als Hausmädchen einer gewalttätigen, kriminellen Familie in einer der gefährlichsten Städte Kolumbiens.

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Leseprobe

2


Ich wurde von der Hitze der Sonne geweckt. Unter meiner linken Wange spürte ich nur weiche, feuchte Wärme, doch meine rechte Gesichtshälfte stand förmlich in Flammen. Es war eine starke, sengende Hitze, und als ich die Augen öffnete, war ich so geblendet, dass ich sie sofort wieder zukniff.

Noch ganz schläfrig rollte ich mich auf den Rücken und wurde langsam wach genug, um mir der nächsten Attacke bewusst zu werden. Sie galt meinen Ohren. Die Luft war voller Geräusche. Überall um mich herum erklangen seltsame Schreie und ein beängstigendes Gekreisch – Lärm, den ich nicht einordnen konnte.

Als ich meinen Augenlidern zögernd erlaubte, sich ein wenig zu öffnen, sah ich direkt hinauf in einen großen Flecken Blau. Leuchtendes, strahlendes Blau, ringsum eingerahmt von gesprenkelter Dunkelheit, und als ich durch meine Finger schaute, mit denen ich meine Augen vor dem grellen Licht abschirmte, wurde mir langsam klar, was ich da sah. Es war ein Stückchen Himmel, umgeben von einem Ring aus belaubten Baumkronen, die so weit über mir waren, dass sie zu einem einzigen, gezackten schwarzen Schatten verschmolzen.

Endlich wurde mir klar, wo ich war. Ich war im Dschungel! Diese Erkenntnis durchfuhr mich wie ein Blitz, und mit ihr kam die Panik, als mit einem Schlag die Erinnerungen an den letzten Abend zurückkehrten: Fremde Männer hatten mich bei uns im Garten gepackt und hier ausgesetzt.

Ich wischte mir die Erde von den Händen und kniete mich hin. Dann rappelte ich mich auf und machte mich daran, einen Ausweg zu suchen. Ich hatte nur einen einzigen Gedanken: die Männer wiederzufinden, die mich alleingelassen hatten. Ich wollte sie einholen und anflehen, mich wieder nach Hause zu bringen. Ich wollte zu meiner Mama. Wo war sie? Wieso war sie nicht gekommen, um mich zu holen?

Ich wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, seit meine Entführer mich ausgesetzt hatten. Ich lauschte angestrengt, hoffte auf irgendein vertrautes Geräusch. Kinderlachen, einen gerufenen Gruß, das Klappern eines Karrens, der vorbeigezogen wurde. Ich fing an, nach meiner Mutter zu rufen, laut schluchzend rief ich nach ihr, immer und immer wieder. Meine Kehle kratzte, weil sie so trocken war, doch zu dem Zeitpunkt verschwendete ich noch keinen Gedanken daran, etwas zu trinken oder zu essen zu suchen. Ich war völlig verzweifelt. Ich wollte nur nach Hause, und ich versuchte mit aller Kraft, dem Dickicht zu entkommen, dem Gewirr aus Lianen, die von den Baumstämmen herabhingen, dem Gestrüpp aus knorrigen Ästen und Zweigen, das mir sämtliche Auswege versperrte, und den Blättern – Blättern, die riesig und seltsam und so vollkommen anders waren als alles, was ich kannte. All dies war offensichtlich nur zu einem ersonnen: mich in dieser furchterregenden grünen Hölle gefangen zu halten.

Wohin sollte ich mich wenden? Es schien nirgendwo einen Pfad zu geben, und um mich herum war nichts Vertrautes. Ich konnte nicht einmal sagen, aus welcher Richtung wir gekommen waren.

Wohin ich auch blickte, um mich herum sah alles völlig gleich aus. Überall waren Bäume, Bäume und noch mehr Bäume, so weit das Auge reichte. Ab und zu erhaschte ich, während ich versuchte, mir blindlings stolpernd einen Weg über und unter und zwischen dem schrecklichen Gewirr hindurch zu bahnen, einen Blick auf etwas Helleres in etwas weiterer Ferne. Ein Hügel vielleicht? Doch nur zu bald schlossen sich die Mauern meines grünen Gefängnisses wieder um mich, und je weiter ich ging, desto größer wurde die Panik, die zitternd in mir bebte. Das war dumm! Wieso tat ich das? Ich sollte besser wieder umkehren! Was, wenn meine Mama kam, um nach mir zu suchen? Was, wenn sie gekommen war und mich nicht gefunden hatte? Ich machte augenblicklich kehrt, schluckte hart an den Schluchzern, die nicht enden wollten, und versuchte, den Weg dorthin zurück zu finden, wo ich vorhin aufgewacht war. Doch mir wurde ziemlich schnell klar, dass ich mich vollkommen verlaufen hatte. Es gab überhaupt keine Spuren, keinen einzigen Hinweis, der mich an die Stelle zurückführen konnte.

Ich weinte bitterlich. Ich konnte nichts gegen die Tränen tun, die mir wie Sturzbäche über das Gesicht liefen. Und während ich weiterstolperte, immer wieder von gemeinen Ästen gerissen und gekratzt wurde, versuchte ich, irgendwie zu begreifen, wie ich hierher gekommen war. Steckten meine Eltern dahinter? Hatten sie mich loswerden wollen? War das der Grund? Ich versuchte zu begreifen, warum sie so böse auf mich waren. Was hatte ich getan? War es wegen der Erbsen? Waren sie wütend auf mich, weil ich so viele Schoten gepflückt hatte? Hatten meine Mama oder mein Papa den bösen Männern gesagt, sie sollten mich holen kommen?

Ich versuchte, mich an den Mann zu erinnern, der mich im Gemüsegarten gepackt hatte. An den schwarzen Mann, der mir seine Hand auf den Mund gelegt hatte. Wer war er? Ein Onkel? Ich versuchte, mich daran zu erinnern, wie er ausgesehen hatte. Er war sehr groß und sehr stark gewesen. Hatte er mich gekannt? Mein wertvollster Schatz damals war meine wunderschöne schwarze Puppe gewesen, und aus irgendeinem Grund ging mir diese Tatsache bis heute nie ganz aus dem Kopf. Wir waren eine hellhäutige Familie, und ich hatte trotzdem eine schwarze Puppe. Hatte das etwas zu bedeuten?

Mittlerweile war ich zu erschöpft und zu durcheinander, um mich weiter wie eine Wilde durch das endlose, hüfthohe Dickicht zu kämpfen. Meine Schritte wurden langsamer, ich ließ die Schultern hängen und verlor allen Mut. Doch was blieb mir anderes übrig, als mich weiterzuschleppen? Es war im Grunde keine bewusste Entscheidung. Ich ging einfach weiter, weil ich vielleicht ja doch noch einen Weg aus dem Dickicht finden oder auf jemanden stoßen würde, der mir helfen konnte. Oder auf irgendein Zeichen, das mir sagte, dass ich dem Weg nach Hause vielleicht doch einen Schritt näher gekommen war.

Aber mit der Zeit wuchs mit der Anzahl der Schrammen auf Armen und Beinen auch die Angst, dass dies nicht geschehen würde. Und als die Dämmerung kam, schwand zusammen mit der Sonne auch meine letzte Hoffnung. Der Abend war da. Gute-Nacht-Zeit. Der Tag war vorbei. Ein ganzer Tag war vergangen, und ich war immer noch im Dschungel gefangen. Ich würde noch eine Nacht allein verbringen müssen.

Die Nacht war schwärzer als alles, was ich je erlebt hatte. Sosehr ich mich auch anstrengte, bis auf das ferne Glimmen der Sterne konnte ich nicht den winzigsten Funken Licht sehen. Der Himmel selbst wirkte seltsam nah – fast, als wäre er auf mich gefallen, als würde er sich wie eine riesengroße Bettdecke um mich breiten und mich zusammen mit den Geschöpfen der Nacht unter sich begraben. Ohne die Nachwirkungen des Betäubungsmittels, das mir in der ersten Nacht die Sinne vernebelt hatte, nahm der Schrecken in mir verzweifelte Ausmaße an. Überall um mich herum herrschte wieder dieser Lärm, eine unvorstellbare Lautstärke und Vielfalt von Geräuschen, die – das wusste ich aus den Geschichten der Erwachsenen – von den wilden Dschungeltieren stammten, die nachts aus ihren Verstecken kamen. Und zwar weil es ihnen im Schutze der Dunkelheit leichter fiel, ihre Beute zu fangen.

Während sich die Dunkelheit herabsenkte, um mich bei lebendigem Leibe zu fressen, suchte ich verzweifelt ein Versteck und stieß schließlich am Fuße eines Baumes mit breiten Wurzeln auf einen kleinen Flecken blanker Erde. Hier saß ich nun, und während die Luft um mich dichter und immer schwärzer wurde, rollte ich mich wieder zu einer Kugel zusammen, den Rücken an die tröstliche Festigkeit des Baumstamms gepresst, die Arme schützend um die angezogenen Knie geschlungen.

Ich wusste genau, dass ich ganz still und ruhig sein musste. Wie bei einem Spiel, sagte ich mir. Wie beim Versteckspiel. Wenn ich mich nicht bewegte und keinen Mucks von mir gab, wussten die Geschöpfe der Nacht nicht, dass ich da war.

Umgekehrt war ich mir ihrer Gegenwart nur allzu bewusst. Ich hatte schreckliche Angst. Unzählige verschiedene Geräusche drangen an mein Ohr, einige davon ganz nah. Ich hörte das gleiche Rascheln, das ich fabriziert hatte, als ich durchs Laub gelaufen war. Und Getrippel – das Geräusch winziger Tiere ganz in der Nähe. Und dann ein Knacksen. Ein lautes Knacksen, fürchterlich nah. Ich kauerte mich zusammen. Es war etwas Trockenes – tote Zweige? –, das beim Darauftreten knackte. Das Geräusch bewegte sich um mich herum. Was auch immer es war, das Ungeheuer schien mich zu umkreisen, auf den richtigen Moment zum Sprung zu warten. Ob es mich mit seinen riesigen Nachtaugen sehen konnte? Und was war das für ein Rascheln? Sein langer Schwanz? War das ein kinderfressendes Ungeheuer? Konnte es mich riechen?

Ich versuchte, mich ganz klein zu machen. Ich wünschte mir sehnlich einen Käfig herbei, in dem ich mich verstecken konnte. Einen Käfig, der mich vor scharfen Klauen und reißenden Zähnen beschützte. Und ein Licht. Wie sehr ich mich danach sehnte, dass meine Mama mit einer Lampe kam, um das Ungeheuer zu verscheuchen!

Doch dann erschreckte sich das Tier, das mich umkreiste, selbst vor irgendetwas, denn es sprang lärmend davon, und ich verspürte einen gesegneten Moment der Erleichterung. Doch er war nicht von Dauer. Während die Nacht fortschritt und ich zu einer kompakten Kugel zusammengerollt schlaflos in meinem hohlen Baumstamm lag, bescherte mir meine nächtliche Blindheit nur noch mehr Furcht. So beängstigend der Anblick sich nähernder Dschungeltiere auch sein mochte – sie nicht sehen zu können, war noch viel, viel schlimmer. Hilflos und vor Angst und Schrecken zitternd lag ich da, während unsichtbares Kriechgetier mir über die Gliedmaßen krabbelte, mein Gesicht erkundete und mir in die Ohren schlüpfte. Ich sehnte mich so sehr...

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