Kapitel 2 Alkohol ist keine Lösung
Als Rettungsdienstler dringt man in die Lebensbereiche verschiedenster Bevölkerungsschichten ein. Und zwar nicht wie ein Besucher, für den noch das Bad geputzt und der Tisch hübsch eingedeckt wird, sondern ganz ungeschminkt, in einer Momentaufnahme, die nichts versteckt. Manchmal tun sich dabei Abgründe auf, die man so eigentlich nicht sehen will: Verwahrlosung, Armut, Dreck, psychologische Dauernotstände, Gleichgültigkeit. Und wenn man dann einmal vor dem Scherbenhaufen einer solch hoffnungslosen Existenz steht, ist das ganz anders als in den gescripteten Reality-Dokus, die im Nachmittags-Verblödungsprogramm der Privatsender ausgestrahlt werden. Mitleid leiste ich mir in diesen Fällen selten (jedenfalls nicht bei Erwachsenen), denn wenn man die Gründe vernimmt, die für das kaputte Leben verantwortlich sein sollen, fallen einem oft Beispiele aus dem eigenen Umfeld ein, Verwandte, Freunde, Bekannte, die das Gleiche erlebt haben – und trotzdem nicht im Elend versunken sind. Kausalketten wie «Viel gearbeitet – Frau (Mann) geht fremd – Alkohol – Frau (Mann) trennt sich – mehr Alkohol – Job weg – nur noch Alkohol» hört man oft, sind aber keine zwangsläufige Konsequenz, sondern in meinen Augen eher eine Ausrede, diesen Kreislauf nicht durchbrechen zu müssen. Es sind die Kinder, die in solchen Familien großwerden, die mir grundsätzlich leidtun. Die Eltern sind hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt, und die Kinder wachsen auf wie der Brombeerstrauch an der Hofmauer: Man kümmert sich nur darum, wenn er stört, und sonst darf er wuchern, wie er will. Da kann man froh sein, wenn es in einem problematischen Haushalt keine Kinder gibt, die mit in das Desaster hineingezogen werden.
Ich hatte Dienst mit Manfred. Der Tag war bisher ruhig verlaufen, nur zwei Krankentransporte – im Gegensatz zu Rettungstransporten werden diese ohne Alarm gefahren – hatten unsere alltäglichen Aufgaben wie Gerätekontrolle, Medikamentenbestellungen und Fahrzeugdesinfektion unterbrochen. Gerade wollten wir unsere «Bereitschaftszeit» beginnen, da bekamen wir einen Alarm mit dem Allerweltsstichwort: «HP Intern», also einem nicht näher bezeichneten internistischen Notfall. Wir besetzten den Rettungswagen und fuhren mit Sondersignal los. Manni, der Optimist, sah in dem Zeitpunkt des Alarms auch Vorteile: «Immerhin sind wir mit der Arbeit fertig geworden, und das Abendprogramm hatte noch nicht angefangen.»
Vor einem heruntergekommenen Altbau hielten wir an, nahmen unser Equipment und stiegen die Holztreppe in den zweiten Stock hinauf. Der Mann, zu dem mein Kollege und ich gerufen wurden, teilte sich eine Wohnung mit seiner Schwester und ihrer Tochter. Ärmlich, spartanisch, aber annehmbar.
Die Schwester, die uns angerufen hatte, empfing uns an der Wohnungstür und führte uns zum Zimmer des Patienten. Im Gegensatz zum Rest der Wohnung herrschte hier allerdings das nackte Elend.
Der Raum, den er seit Wochen anscheinend nur verließ, um Glühwein in Tetrapaks und Schnaps zu holen, war eigentlich unbewohnbar. Wenn man ein derartiges Zimmer noch nicht selbst gesehen hat, kann man es sich nur schwer vorstellen: in der Mitte die Trümmer eines Couchtischs, der kürzlich wohl unter der Last des Halt suchenden Alkoholikers zusammengebrochen war, an der Wand ein Bett, die Matratze durchweicht von frischen und alten Exkrementen, Siff, erbrochenem Blut und Glühwein, auf dem Boden eine große Pfütze des gleichen Mixes. Überall lagen leere Tetrapakkartons und Schnapsflaschen herum, seitlich vom Bett stand eine klebrig aussehende Kommode mit einem stumpf schimmernden Fernseher darauf, und mittendrin, auf der durchnässten Matratze, mit nackten Füßen im eigenen Erbrochenen, saß der Patient, Baujahr 87, im mit Urin und Mageninhalt verdreckten Trainingsanzug. Mit seinen dreiundzwanzig Jahren hatte er eigentlich das ganze Leben noch vor sich.
Der Mann war reichlich abgefüllt mit Alkohol und Beruhigungsmitteln und erbrach unter anderem auch Blut. Auf mehrfache Ansprache reagierte er kaum, schaute uns nur aus verquollenen Augen an, als sähe er einen Film.
Die Schwester war niedergeschlagen. «Hören Sie, der war erst vor zwei Wochen mit Magenbluten im Krankenhaus», erzählte sie. «Und jetzt geht das schon wieder los!»
Manni hakte nach: «Woher kommt das denn? Magengeschwüre? Oder hatte er eine OP?»
«Na ja, der säuft doch nur. Und nimmt Medikamente. Der Arzt meint, daher kämen die Blutungen. Aber er schluckt das Zeug trotzdem. Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll, der hört nicht auf damit!» Sie war sichtlich verzweifelt.
«Hat Ihr Bruder denn schon mal eine Therapie gemacht?», fragte ich.
«Ja sicher. Wegen seiner Depressionen. Auch wegen seiner Alkoholsucht. Hat aber nicht lange gehalten. Und vor zwei Wochen, beim letzten Krankenhausaufenthalt, wurde er entgiftet. Der Hausarzt hatte ihm für die Zeit danach einen Therapieplatz besorgt. Der Vorstellungstermin war vor zehn Tagen. Aber zum Aufnahmegespräch ist er nicht nüchtern erschienen, da hatte sich das wieder erledigt.» Sie hatte Tränen in den Augen. «Können Sie ihn nicht mitnehmen? Auch wenn er das nicht will, er muss doch eine Therapie machen. Der stirbt sonst bald!»
Ich musste sie enttäuschen: «Eine Therapie wird er im Krankenhaus nicht bekommen, das wissen Sie ja. Höchstens eine weitere Entgiftung. Und einen Platz in einer Entziehungsklinik erhält man auch nicht per Notfalleinweisung. Da muss er schon selbst beweisen, dass er es wirklich will. Und das hat ja anscheinend bislang nicht geklappt.»
Sie fragte, nein, sie flehte uns an, ihren Bruder doch zwangsweise in einer Klinik unterzubringen. Sie fragte auch, wie lange er denn wohl noch zu leben hätte, wenn er so weitermache.
«Das kann ich Ihnen nicht sagen», erwiderte ich. «Ich denke aber, dass bei dem Alkohol- und Medikamentenkonsum Leber und Niere mit Sicherheit arg geschädigt sind. Na ja, und der Magen und die Speiseröhre … Der Zustand ist Ihnen bekannt. Sie haben uns ja wegen der Blutungen gerufen. Zumindest können wir ihn mitnehmen, sodass die Ärzte sich Ihren Bruder noch einmal anschauen. Auch wegen der Medikamente. Wer weiß, wie viele er heute schon genommen hat.» Ich blickte auf die zahlreichen leeren Tablettenblister, die in dem Zimmer verstreut waren.
Der Patient, der kaum aus den Augen schauen konnte, weil sein Gesicht vom Drogenmissbrauch so aufgeschwemmt war, saß wackelnd auf der Bettkante und bettelte uns in lichten Momenten an: «Hamse nich was für mich? Nur ’n bisschen Diazepam oder so.» Seine schwierige Karriere, die uns jetzt seine Schwester wiedergab, sah so aus: keine Arbeit, Depressionen, deswegen Alkohol, und weil der nicht gegen die psychischen Probleme half, zusätzlich Medikamente. Dadurch bekam er zwar kurzfristig einen Rausch, auf die Dauer aber Magen- und Speiseröhrenblutungen, unter anderem.
Manni schaute mitleidig auf seine etwa zehnjährige Nichte, die in der Tür neben ihrer Mutter stand und uns erwartungsvoll anschaute. Wieder einmal musste ein Kind mit der Situation fertig werden. Doch wirklich helfen konnten wir ihrem Onkel nicht. Mein Kollege wandte sich an mich: «Den können wir nicht hier lassen. Wer weiß, wenn der im Delirium sein Blut oder Erbrochenes einatmet, erstickt der noch.»
Ich seufzte. «Aber die zwei Stockwerke runterstolpern kann der auch nicht», gab ich zu bedenken. «Selbst mit Unterstützung wäre mir das zu heiß: Stürzt er, können wir dem Staatsanwalt erklären, warum der Mann sich das Genick gebrochen hat. Wir brauchen Tragehilfe, alleine packen wir das nicht.»
Ich rief unsere Leitstelle an und ließ zur Unterstützung ein Löschfahrzeug kommen.
Nach etwa fünf Minuten Wartezeit, in denen uns die Schwester des Alkoholikers ihre Leidensgeschichte berichtete, wie sie unter den Depressionen ihres Bruders gelitten habe, unter seinen Aggressionen und Räuschen, trafen die Kollegen ein. Zwei der drei ins Zimmer eintretenden Kollegen kannten den Patienten.
«Hey, den habe ich doch schon mal gefahren», meinte Steffen. «Da habe ich ihn an einer Haltestelle aufgesammelt.»
«Ja, richtig, ich kenne den auch», ergänzte Dieter. «Hat nach mir getreten, weil er dachte, ich wollte ihm den Schnaps klauen.»
Mit vereinten Kräften bugsierten wir den übergewichtigen jungen Mann auf unser Tragetuch und transportierten ihn das enge Treppenhaus hinunter. Auf der Straße legten wir ihn auf die vorbereitete RTW-Trage und verfrachteten ihn ins Auto.
Unterwegs zum Krankenhaus erbrach er immer wieder. Heimlich träufelte ich bei einer günstigen Gelegenheit ein paar Tropfen Minzöl auf seinen Rücken und seine Hose. Das Öl habe ich immer in der Jackentasche dabei, weil es derart penetrante Gerüche zumindest etwas überdeckt. Schließlich versuchte ich den Patienten immer wieder davon zu überzeugen, doch in die Nierenschale und nicht daneben zu spucken. Zu etwa 50 Prozent gelang ihm das trotz meiner Hilfe nicht. So verbrauchte ich jede Menge Zellstofftücher, um ihm wenigstens die größten Verunreinigungen vom unrasierten Kinn und der Brust zu wischen. Immer wieder durchquerte Erbrochenes unkontrolliert seine kariösen Zähne. Kurz vor dem Eintreffen im Krankenhaus wollte er in einem unbeobachteten Moment die halbvolle Nierenschale auf dem Fahrzeugboden abstellen – was misslang: Die Schüssel war wieder leer. Bingo! Eine halbe Stunde Putzen konnte ich mit Sicherheit für das Fahrzeug einplanen.
In der Klinik musste ich erst einmal erklären, warum ich ihn an der Pforte für die Intensivstation angemeldet hatte. «Was soll der Mann hier?»,...