Vorwort
Ist aus der Fülle an Emotionen, die die Psychologie als Aggression bezeichnet, ein neues Tabu geworden? Und: Ist es gefährlich? Auf beide Fragen ist meine Antwort ein klares »Ja« – und der Grund, ein Buch über dieses Thema zu schreiben.
Ich kann mich noch genau an den Zeitpunkt erinnern, als mir diese Entwicklung das erste Mal bei Pädagogen und Erziehern, Psychologen, Therapeuten sowie bei den Eltern auffiel. Vor ungefähr fünfzehn Jahren habe ich das Lehrpersonal in einer Institution für sogenannte schwererziehbare Kinder betreut. Und wie wir Schritt für Schritt die Schwierigkeiten durchgingen, die die Mitarbeiter im Umgang mit einer bestimmten Anzahl von Kindern hatten, wurden mir einige dieser Kinder folgendermaßen vorgestellt: »Das ist Johann, und er hat ein Aggressionsproblem.«
Nachdem ich diese Art Beschreibung einige Male gehört hatte, fragte ich erstaunt: »Was hat er?« Denn mir war diese vage Diagnose nicht bekannt. – Zunächst waren die Antworten auf meine Frage fast die getreue Wiederholung der »Diagnose«, und als ich versuchte, mehr darüber zu erfahren, wurden die Pädagogen ungeduldig und sagten: »Er ist aggressiv.« Und als ich mich daraufhin erkundigte: »Für wen ist das denn ein Problem?«, gaben sie mich fast auf. Was für sie selbstverständlich schien, war für mich eine Neuigkeit.
Bei der nächsten Gelegenheit, als ich wieder mit dieser »Diagnose« konfrontiert worden bin, forschte ich gleich nach: »Hat jemand von Ihnen den Jungen (es handelte sich in 95% der Fälle um Jungen) gefragt, worüber oder über wen er wütend ist?« Alle guckten mich erstaunt an, versenkten sich weiterhin in ihre Berichte und schüttelten ungläubig den Kopf. Niemand hatte diesen Pädagogen je die selbstverständlichste aller Fragen gestellt.
Als ich dann später allmählich den Hintergrund dieser Jungen und Mädchen kennenlernte, war es leicht zu zeigen: Dass sie bislang keinen Menschen umgebracht hatten, grenzte fast an ein Wunder. Die Zahl der gewalttätigen und übergriffigen Eltern, Stiefeltern, Großeltern und Lehrer, mit denen sie in ihrem kurzen Leben auskommen mussten, war erschreckend, ja schockierend hoch. Trotzdem sind diese Kinder nur aufgrund ihres aggressiven Verhaltens beurteilt und entsprechend behandelt worden.
Diese Kinder und Jugendlichen waren nicht in einem traditionellen Sinne gewalttätig: Sie haben ihre Erzieher und Lehrer nicht mit Schlagstöcken, Messern oder ihren Fäusten angegriffen. Sie zogen meist nur jemandem eins über und schubsten einige ihrer Altersgenossen, wenn der Kessel überkochte. Im Grunde übten sie ein Maß an Selbstkontrolle aus, das sehr viel größer war als jenes, das Erwachsene an den Tag legen, wenn sie an ihre Grenzen stoßen. Und trotzdem waren sie wegen ihrer Aggression in Behandlung – das ist so, als würde man einen Menschen mit einer schweren Lungenentzündung lediglich mit Hustensirup und nicht mit Antibiotika behandeln. Oder auch so, als würde man eine Person wegen ihrer legitimen Gefühle – weil sie verliebt, glücklich, traurig ist oder weil sie um jemanden trauert – in Behandlung schicken. Die aggressive Haltung eines Menschen zeugt von Mangel und Vernachlässigung, und genau diese Verwahrlosung haben die Kinder und Jugendlichen, die ihre Wut und ihren Frust auslassen, in frühen Jahren bereits erfahren.
In vielen Ländern haben wir einen Punkt erreicht, wo die Vernachlässigung von Kindern und Jugendlichen seitens der Pädagogen schwerer ins Gewicht fällt als jene, die sie in ihrer Familie erfahren haben. In der Öffentlichkeit wird diese Tatsache allerdings anders wahrgenommen: Es wird davon gesprochen, dass mehr und mehr Kinder und Jugendliche »spezielle Bedürfnisse«, »Verhaltensprobleme« oder eine »fehlende soziale Kompetenz« aufweisen. Eins jedoch ist klar: Genau jene Menschen, die beruflich mit Kindern wie Jugendlichen arbeiten und die für deren Vernachlässigung verantwortlich sind, erheben gleichzeitig Statistiken für die Öffentlichkeit, in denen sie wachsende Verhaltensprobleme dokumentieren.
Eine brandaktuelle dänische Studie (2012),[1]in der zum ersten Mal in der Geschichte der Sozialwissenschaften Kindergartenkinder ihre eigene Meinung sagen durften, zeigt, dass 24% der Jungen sich nicht besonders wohl im Kindergarten fühlen. Diese Prozentzahl ist von den Erzieherinnen (meist Frauen) bestätigt worden: Sie behaupten, dass 22% der Jungen »Problemkinder« seien, weil sie ihren Ärger und Frust »ausleben« würden.
Jedes vierte Kind wird demnach im Alter von drei bis sechs Jahren als »Problemkind« charakterisiert, und ich kann garantieren, dass nur eine sehr geringe Zahl dieser Kinder in ihren Familien Opfer von Verwahrlosung und Missbrauch waren. Das ist auf beruflicher wie nationaler Ebene ein Skandal für ein System, das sich als Vorbild für andere Länder dieser Welt versteht. – Eine scharfe Kritik, die jedoch berechtigt ist, muss ausgesprochen werden: Wir befinden uns auf einem sehr gefährlichen Pfad, das sollten wir uns vor Augen halten und konstruktive Wege finden, um mit dem Phänomen Aggression umzugehen, sonst schaden wir weiterhin viel zu vielen Menschen.
»Wir verstehen dich, wirklich! Aber bitte hör auf, so wütend zu sein!«
Diese Sätze waren und sind noch immer die Botschaft, die Pädagogen und Erzieher – sie sollten es besser wissen – Tausenden von missbrauchten und vernachlässigten Kindern und Jugendlichen vermitteln – im Namen von Therapie und Heilung. Das macht mich wütend! Und viele Eltern machen diesen Trend mit, obwohl ich mein Bestes tue, um ihre Perspektive zu verändern.
In den letzten fünfzehn Jahren ist die Tendenz, wütende und frustrierte Kinder in Kindertagesstätten und Schulen zu diskriminieren, stark gestiegen, und Aggression ist heute zum Tabu geworden. Ähnlich stand es vor nicht allzu langer Zeit um die menschliche Sexualität: Man begegnete ihr lediglich mit moralischen Urteilen; Professionalität oder eine humane Einstellung im Umgang mit ihr waren schier unmöglich. Das neue Tabu – das Aggressionstabu – könnte allerdings noch viel gefährlicher werden als das sexuelle Tabu, obwohl Letzteres sehr viel Schaden angerichtet hat, indem es Menschen die Erfahrung von Lust, Freude und Nähe vergällte. Das neue Tabu setzt die geistige Gesundheit von Kindern sowie ihr Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen aufs Spiel.
In der Vorbereitung auf dieses Buch haben wir nach möglichen wissenschaftlichen Gründen für die Tatsache gesucht, dass Institutionen, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, nicht bereit sind, sich mit dem Thema Aggression in einer sinnvollen und konstruktiven Weise auseinanderzusetzen. Doch wir fanden keine. Wir stießen häufig auf sehr theoretische Abhandlungen mit konstruierten Fallbeispielen, die keinen Unterschied zwischen gewalttätigen Erwachsenen und aggressiven Kindern machen. Zudem legen sie keinen anderen als den moralischen Umgang mit dem Thema Aggression nahe.[2] Der englische Kinderarzt und Psychoanalytiker Donald W. Winnicott[3] ist eine Ausnahme – vermutlich, weil er Kinder und ihre Entwicklung intensiv beobachtet hatte.
Woher kommt dieser Widerstand im Umgang mit Aggression, wenn er auf keine wissenschaftliche Theorie zurückzuführen ist? Mit vorliegendem Buch versuche ich, eine Antwort auf diese Frage zu geben. Zudem werde ich versuchen, eine klare Linie zwischen destruktiver und konstruktiver Aggression zu ziehen, da es zweifelsohne beide Arten gibt, Erstere aber niemandes Leben bereichert und in einer zivilisierten Gesellschaft keinen Gewinn darstellt. Wenn ein neun Jahre alter Schüler seinen Lehrer oder seine Eltern verbal oder sogar physisch angreift, dann liegt es auf der Hand, dass beide Seiten Hilfe brauchen. Dem Jungen muss geholfen werden, seine Frustration genau zu bestimmen und sie in einer weniger destruktiven Art (die immer auch selbstdestruktiv ist) auszudrücken. Und der Erwachsene braucht Hilfe, um seine persönlichen Grenzen zu definieren und sie mit persönlicher Autorität wie Selbstrespekt zu verteidigen.
Dies ist gerade der Schnittpunkt, an dem sich die Familientherapie, Systemtheorie und Neurobiologie begegnen: Aggression ist eine soziale Reaktion, die unserem Gehirn entspringt. Sie ist keineswegs genetisch bedingt. Die Fähigkeit, das aggressive Verhalten eines Individuums – egal welchen Alters – zu entschlüsseln, ist mit der Fähigkeit, hinter Moral und Selbstbewusstsein zu blicken, gleichzusetzen.
Meine tägliche Arbeit findet in ungefähr einem Dutzend verschiedener Länder statt, alle haben ihre eigene Kultur und Geschichte. Viele Menschen in diesen Ländern sind durch Kriegserfahrungen und kollektive Traumata (die nichts anderes sind als nachwirkende Folgen von Kriegen) belastet. Konsequenterweise haben Menschen mit unterschiedlicher nationaler Zugehörigkeit unterschiedliche Erklärungsmuster für ihre länderspezifische Tendenz, Aggression abzulehnen und ihren Kindern aggressives Verhalten zu verbieten. Viele meinen, damit einen weiteren Krieg vermeiden zu können. Keine Nation hat es geschafft, in einer angemessenen Weise ihre Kriegsveteranen zu behandeln, was zu unendlich vielen weiteren Beispielen von Gewalt und Selbstzerstörung führt. Destruktive Energien werden von einer Generation auf die nächste übertragen. Es wundert mich nicht, dass diese Tatsache ebenfalls dazu beiträgt, die allgemeine anti-aggressive Haltung zu fördern, obwohl die Erklärung hier nicht anders ausfällt als bei den Jungen und Mädchen aus der Institution für sogenannte schwererziehbare Kinder, die ich eingangs erwähnt habe.
Ob man die wahren Wurzeln von Wut, Zorn, Gewalt und Hass nur erklären möchte oder...